Roman von Jakob Augstein: Auf der Suche nach dem verlorenen Glauben

Der Journalist Jakob Augstein hat seinen ersten Roman geschrieben. Der handelt von einer Glaubensreise, sagt der Autor im PRO-Interview. Und wie die Romanfigur greife auch er manchmal alte Verknüpfungen zur Kirche wieder auf.
Von Jörn Schumacher

Franz Xaver Misslinger hat eigentlich viel erreicht im Leben. Die Romanfigur in Jakob Augsteins Debüt-Roman „Strömung“ (im Januar beim Aufbau-Verlag erschienen) ist ein ehemaliger Spitzenpolitiker Mitte 40, der auf einmal feststellen muss: Macht, Geld und Frauen sind vielleicht nicht alles, was einem Menschen Sinn geben kann. Auf einer Reise mit seiner 16-jährigen Tochter nach Amerika spürt er dem Sinn im Leben nach und kommt dabei auch an die Wurzeln des Glaubens zurück, den sein Vater noch praktiziert hat.

PRO: Was sucht Ihre Romanfigur Franz Xaver Misslinger auf seiner Reise?

Jakob Augstein: Die meisten Leute denken, es handele sich um ein politisches Buch. Das liegt nahe, weil die Hauptperson Politiker ist. Das war aber nicht meine Absicht. Für mich ist es ein religiöses Buch, das viel mehr vom Glauben handelt als von Politik. Über Politik steht fast nichts drin, aber eine Menge über das Ringen eines Menschen mit seinem Gott. Misslingers Vater ist gläubiger Katholik in der Diaspora in Norddeutschland, von ihm hat er einen Teil dieses Glaubens übernommen. Aber als junger Erwachsener wendete sich Misslinger einem ganz anderen Glauben zu, an Kapital, Leistung, Ellenbogengesellschaft und vor allem dem Glauben an die Macht des eigenen Willens. Die Reise nach Amerika tritt er an im Augenblick einer inneren Krise. Diese Reise ist eine Art Pilgerfahrt, nur eben nicht nach Rom oder Lourdes, sondern ins Land der Freiheit. Aber Misslinger findet da keine Festigung im Glauben, sondern stattdessen eine Auflösung. Denn dieser Glaube ist hohl. Misslinger hat sich dem falschen Gott verschrieben.

Findet Misslinger in Amerika denn stattdessen etwas anderes?

Er sucht eine Art spirituelle Aufladung, weil er das Gefühl hat, dass ihm die Felle wegschwimmen. Was seiner Religion, seinem Glauben an die Freiheit und die Machbarkeit, im Gegensatz zur Religion seines Vaters fehlt, ist die Demut und die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit, der eigenen Fehlbarkeit, die Einsicht, dass auch er in höhere Zusammenhänge eingebettet ist.

Es ist immer wieder die Rede davon, dass Misslinger Buße tun muss. Wofür eigentlich?

Der Gedanke an Buße überfällt ihn im Moment eines Zusammenbruchs, bei einer Panikattacke im Flugzeug. Da ist er schwächer als sonst, und es kommen plötzlich Zweifel an ihn heran, die er sonst mit Macht weggedrückt hat. Das bedeutet, dass sich die Risse in seinem Glaubenssystem seinem Zentrum nähern. Das verunsichert ihn. Ihn begleitet eine permanente Idee der Schuld, aber die hat er bisher immer von sich weggeschoben.

Misslinger ist in einem Zustand der Sinnsuche …

Ja, er hat eine Sinn- und Identitätskrise. Er hatte mit dem Schicksal eigentlich eine Art Vertrag geschlossen: Ich mache alles, was notwendig ist, um nach oben zu kommen, dafür werde ich belohnt mit Macht, Erfüllung, Frauen, mit allem, was Menschen wichtig sein kann. Dem ist er aber nicht gewachsen, er ist gar nicht der Typ, der das kann, dafür ist er eigentlich zu weich. Sein Freund Richard ist es ebenfalls nicht, aber der hat es rechtzeitig gemerkt und blieb darum in seinem schönen Kiel und lehnte die große Karriere ab, er wollte solch ein Leben gar nicht führen, weil seine Gesundheit und seine Ehe es nicht ausgehalten hätten; er wollte nicht als Trinker und Hurenbock enden. Der dritte Mann im Roman, Walter, hingegen beherrscht solch einen Lebensentwurf perfekt. Er ist eine böse, alte graue Eminenz der Macht, der aber auch ein bisschen wahnsinnig, sadistisch und psychopathisch ist. Diese drei Männer-Figuren beschreiben unterschiedliche Möglichkeiten, wie man sich zu dem Thema Macht und Selbstverwirklichung stellen kann.

Findet Misslinger am Ende in Amerika einen Sinn?

Nein, er findet ihn nicht. Die letzte Hoffnung wird am Ende zerstört in der Erkenntnis: Es gibt gar keine Freiheit; jeder handelt in den Grenzen der eigenen Notwendigkeit und kann gar nicht aus seiner Haut.

Hat für Sie das Thema mit dem Glauben zu tun?

Ja, die Frage der Willensfreiheit ist in meinen Augen das zentrale Rätsel des christlichen Glaubens. Wenn Gott dem Menschen Willensfreiheit gegeben hat, welche Rolle spielt Gott dann noch? Wenn wir aber nicht frei sind, warum behandelt er uns dann so schlecht? Ich bin kein Theologe, aber die Theodizee steht meines Erachtens im Zentrum des christlichen Glaubens.

Schade, dass dieses Thema nicht ausführlicher im Buch vorkommt…

Naja, es liegt sozusagen unter den Zeilen, oder? Misslinger ist ja nun auch kein Theologe. Seine Überlegungen gehen eigentlich schon recht weit für jemanden, der eigentlich nur an Wirtschaft und Politik interessiert ist. Aber er hat eine solide katholische „Grundausbildung“ erfahren, daher stellt er sich überhaupt all diese Fragen.

Wenn man Ihr Buch liest, kommt man nicht umhin, Parallelen in der Realität zu suchen. Ihr Vater, Rudolf Augstein, war eine Zeit lang Mitglied in der FDP. Allerdings galt er als Atheist, war aber auch irgendwo verbunden mit der Kirche. Gibt es da Parallelen, wo Sie sich, bewusst oder unbewusst, etwas abgeguckt haben?

Ich weiß nicht … Der Katholizismus spielte in meiner Kindheit keine Rolle, ich bin in Hamburg groß geworden. Ich habe als Kind sehr gute Erfahrungen mit der evangelischen Kirche gemacht. Ich bin selbst nicht getauft oder konfirmiert, aber in der emotionalen Zuneigung spielte Kirche früher eine sehr große Rolle für mich. Sie sprechen also mit jemandem, der der Kirche sehr, sehr positiv gegenübersteht. Das war allerdings die protestantische Kirche in Norddeutschland. Die dunkle Seite der Kirche, also Machtausübung, Unterdrückung, Engstirnigkeit kenne ich selber gar nicht. Ich kenne von der Kirche, von beiden Kirchen, selber nur das Beste. Ich glaube, dass die Themen des Christentums für uns dauerhaft die wichtigsten sind: Was ist mit der Freiheit des Menschen, was ist mit der Nächstenliebe? Unsere Gesellschaft beruht aber auf anderen Werten und Prinzipien, nämlich auf Leistung, auf Rücksichtslosigkeit und Härte. Da ist ein Konflikt, und der wird in der Person Misslinger ausgetragen.

Woher kam in der Kindheit Ihr Kontakt zur Kirche? Durch Ihre Eltern?

Ich bin aufgewachsen in Hamburg-Othmarschen, dort spielte Kirche eine soziale Rolle, als Kinder erlebten wir dort schöne Veranstaltungen, Partys zum Beispiel, am Wochenende fuhren wir zu einem kirchlichen Haus an einem See in Schleswig-Holstein, dort gab es Ruderboote und so weiter, abends gab es Andachten. Wir hatten Kerzen in der Hand, in die man Knoten gemacht hat. Das alles war Teil meines Alltags und hat mich geprägt.

„Am Abend hatte Misslinger einen Zettel gefunden, den der Vater ihm hingelegt hatte. Es handelte sich um einen Ausschnitt aus einer Kirchenzeitung, den der Vater sorgfältig auf ein weißes Blatt Papier geklebt hatte. ‚In Jesus Christus spricht Gott nicht nur zum Menschen, sondern er sucht ihn. Die Menschwerdung des Sohn Gottes ist Zeugnis dafür, dass Gott den Menschen sucht. Gott sucht den Menschen, gedrängt von seinem väterlichen Herzen.’“

Aus: „Strömung“ von Jakob Augstein

In einem Interview sagten sie jüngst, ihnen fehle heute leider die Fähigkeit zum Glauben. Versuchen Sie es denn?

Ich wüsste gar nicht, wie das geht. Das ist so, als würden Sie jemandem sagen: Wackele doch mal mit Deinem linken Ohr. Ich kann aber mein linkes Ohr nicht ansteuern. Dann sagt jemand: Das kann man aber lernen, der Muskel ist da, du musst nur üben. Dann versucht man es sehr lange, aber man weiß trotzdem nicht, wie es geht. Ich zum Beispiel kann tatsächlich mit dem rechten Ohr wackeln, und ich würde gerne auch mit dem anderen wackeln, ich weiß aber nicht, wie das geht.

Glauben im ursprünglichen Sinn heißt ja, Aussagen für wahr halten. Geht es nicht beim christlichen Glauben darum, zu entscheiden, ob ich Sätze aus der Bibel für wahr halten mag oder nicht? Diese Entscheidung kann man ja im Moment treffen und muss sie nicht lange üben?

Ist das so, kann man sich entscheiden zu glauben? Darüber müsste ich einmal länger nachdenken, darauf kann ich so schnell nicht antworten.

Vielleicht handelt ja Ihr nächstes Buch davon?

Mich beschäftigt das Thema sehr. Es wird mich sicherlich nicht loslassen.

Ich höre aber heraus, dass sich von dem Sinnstiftenden am Glaubens aus dem Kontakt mit der Kirche Ihren Kindheitstagen nicht so viel in Ihr Erwachsenenleben hinübergerettet hat? Es geht beim Glauben ja auch um Hoffnung, auch über den Tod hinaus.

Die christliche Religion hat für mich zwei Seiten: Die ethische, die unser Leben mit den Mitmenschen betrifft, die finde ich sehr relevant und aktuell. Ich glaube, dass der Planet nur durch Liebe gerettet werden kann, buchstäblich. Da ist das Christentum für mich zentral, das habe ich sonst nirgendwo besser formuliert gesehen. Das halte ich für sehr bedeutungsvoll. Die andere Seite betrifft den spirituellen oder auch mystischen Teil – die Fragen nach Auferstehung und Erlösung. Da macht mir Mühe. An eine individuelle Auferstehung nach dem Tod zu glauben, finde ich schwierig.

Der Auftrag der Nächstenliebe hilft einem Menschen ja nicht viel in einer persönlichen Sinnkrise. Der Glaube hat ja aber auch die Botschaft von Gott: Du bist geliebt, das ist ja sinnstiftend.

Das stimmt. Die Vorstellung, dass man nicht tiefer fallen kann als in die Hand Gottes, ist natürlich eine sehr tröstende, aber auch eine sehr märchenhafte – wenn man sie denn hat.

Der Person Misslinger in Ihrem Roman, die in einer Sinnkrise ist, hilft der Auftrag der Nächstenliebe nicht so viel, aber die Botschaft „Du bist geliebt“ wäre für ihn eventuell eine Hilfe gewesen. Aber dazu kommt es im Roman nicht.

Das Ende ist ja ein bisschen offen, nicht wahr? Es sieht so aus, als würde dieser Mann nicht erlöst. Er treibt allein ins Meer hinaus. Ein Bild für das Nichts, für die totale Auflösung, ohne Hoffnung. Das ist das kälteste Ende, das es geben konnte. Aber es ist nicht ganz ausgemacht, ob er nicht doch noch zurückkkommen kann. Da wäre die Frage natürlich interessant: Wie geht es dann für ihn weiter? Da müsste man ein zweites Buch schreiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Strömung“ von Jakob Augstein, Roman, Aufbau-Verlag, 301 Seiten, ISBN 978-3351039493, 22 Euro

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6 Antworten

  1. Im Leben einzelner Menschen – wie auch in den Spaltungen unserer Gesellschaft insgesamt – wird immer deutlicher wahrnehmbar, was es bedeutet, den Glauben zu verlieren.

    Das Thema des Romans wird auch hier schon beschrieben:
    „Denn frage die früheren Geschlechter und merke auf das, was ihre Väter erforscht haben, denn wir sind von gestern her und wissen nichts; unsere Tage sind ein Schatten auf Erden.
    Sind sie es nicht, die dich lehren und dir sagen und ihre Rede aus ihrem Herzen hervorbringen:
    »Kann auch Rohr aufwachsen, wo es nicht feucht ist, oder Schilf wachsen ohne Wasser?
    Noch steht’s in Blüte, bevor man es schneidet, da verdorrt es schon vor allem Gras.
    So sind die Wege aller, die Gott vergessen, und die Hoffnung des Ruchlosen wird verloren sein.
    Denn seine Zuversicht vergeht, und seine Hoffnung ist ein Spinnweb.
    Er verlässt sich auf sein Haus, aber es hält nicht stand; er hält sich daran, aber es bleibt nicht stehen.“
    (Hiob, Kap. 8)

    Die Tür zum Leben aber ist, „… zu erkennen das Geheimnis Gottes, das Christus ist. 
    In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis.“

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  2. Danke für den Roman und die Kommentare. Übrigens Jakob Augstein, hat wie jeder andere von uns nur einen wirklichen Vater, s.a. das „Unser Vater“. Suchen wir diese Verbindung, so folgt schrittweise die Selbstvollendung in Christus und zwar in Worten und Taten.

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  3. Der Glaube entsteht also aus der Botschaft, die verkündt wird; die Botschaft aber kommt aus dem Wort, das Christus selbst spricht. Römer 10,17
    Aber:
    Täuscht euch nicht: wer sich der Liebe Gottes nicht wie ein Kind öffnet, wird sie niemals erfahren. Markus 10,15
    Nähert euch Gott, und er wird sich euch nähern. Jakobus 4,8

    Gerne helfe ich Herrn Augstein weiter.

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  4. „Glauben im ursprünglichen Sinn heißt ja, Aussagen für wahr halten“ Genau das ist das Problem! So verstehen nur wir Deutschsprachigen es. Die Bibel wählt Worte, die in eine viel größere Weite führen: Glaube „… beschreibt im Kern jene persönliche Beziehung zu einer Person oder Sache, die durch Vertrauen und Zuverlässigkeit begründet ist …“ (Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament). Ob ich vertrauen kann und eine Person zuverlässig ist, kann ich nur erfahren! Davon reden kann jeder und der eine glaubt es, der andere nicht. Gott reiht sich da nicht ein in unsere Worte, sondern ermutigt uns durch Sein Wort unsere eigenen Erfahrungen mit Ihm zu machen. Ich habe Seine Zuverlässigkeit erfahren – am Anfang war das sicher ein Wagnis, etwas Ungewisses mit der Frage „Gibt es Gott? oder rede ich gegen die Wand, wenn ich bete?“ Meine Erfahrungen mit dem „Vater unser im Himmel“ schöne und auch durch schwere Zeiten veranlassen mich immer mehr, mich Ihm anzuvertrauen, Ihm zu vertrauen, mich an Ihn als meiner „Vertrauensperson“ zu hängen. Dazu sollten wir unsere Mitmenschen – auf Grund unserer konkreten! Erfahrungen – ermutigen und weniger dazu, irgendwelche „Aussagen für wahr zu halten“. Zu welchem (sinnlosen) Streit das unter Glaubensgeschwistern führt, zeigt die Reaktion auf den Artikel über die Aussagen Dieners (siehe dort). Ob das unseren „Vater im Himmel“ erfreut, der uns so lieb hat, das Er mit uns! zusammen! ewig leben will?

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