Frauen in Not, Lebensschutz in Gefahr

Werbung für Abtreibungen ist verboten. Ein breites Bündnis fordert daher die Abschaffung des Paragrafen 219a im Strafgesetzbuch. Doch das ist erst der Anfang. Ein mühsam errungener Kompromiss ist in Gefahr.
Von Nicolai Franz
Kristina Hänel und ihr Anwalt Karlheinz Merkel im Oktober im Landgericht Gießen

Eigentlich sollte Kristina Hänel an diesem 6. September nicht im gemütlichen Ledersessel in ihrer Arztpraxis sitzen, sondern auf der Anklagebank des Gießener Landgerichts. Im November 2017 wurde sie zu einer Strafe von 6.000 Euro verurteilt, weil sie auf ihrer Internetseite unter ihren Leistungen auch „Schwangerschaftsabbrüche“ angegeben hat. Das Gericht wertete das als Verstoß gegen Paragraf 219a Strafgesetzbuch. Darin steht, dass niemand für Abtreibungen werben darf. Hänel ging in Berufung, doch der Termin wurde in den Oktober verschoben.

Seit ihrer Verurteilung kann sie sich vor Medienanfragen kaum retten. Selbst die New York Times berichtete über die Gießener Ärztin, die mittlerweile eine der bekanntesten Medizinerinnen des Landes sein dürfte. Hänel hat kein Verständnis dafür, dass die reine Information, dass sie in ihrer Praxis für Allgemeinmedizin auch Schwangerschaftsabbrüche anbietet, Werbung sein soll. Dabei ist sie bereits 2008 angeklagt worden, das Verfahren wurde damals wegen eines „Verbotsirrtums“ eingestellt. Damals war ihr nicht bewusst, dass die Information auf ihrer Seite rechtswidrig war. Heute weiß sie es – und widersetzt sich trotzdem. Hänel kämpft für die Abschaffung des Paragrafen. Frauen in Not hätten ein Recht auf Information: „Ich werbe nicht, ich kläre nur auf.“ Die freundliche Frau spricht ruhig, hat eine weiche Stimme, klingt fürsorglich. Wie eine Aktivistin wirkt sie nicht. Doch notfalls will Hänel bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Angezeigt hat Hänel ein 27-jähriger Mathematikstudent aus Kleve. „Markus Krause“ nennt er sich in Interviews, eigentlich heißt er anders. Die Anzeigen bezeichnet er als sein „Hobby“. „Wenn jemand überhaupt für mich geworben hat, dann war er es“, sagt Hänel. Krause ist einer von nur zwei Männern in Deutschland, die Ärzte wegen Verstößen gegen Paragraf 219a regelmäßig anzeigen. Der andere heißt Klaus Günther Annen und betreibt die Webseite „www.babycaust.de“. Auf der Internetseite zeigt er Bilder zerstückelter Embryonen und vergleicht Schwangerschaftsabbrüche mit dem Holocaust. Mit der Presse spricht er eigentlich nicht, aber bei einem christlichen Medium macht er eine Ausnahme. Im Gespräch wirkt er nicht wie ein Hassprediger. Dass er mit seiner schockierenden Internetseite aber eher abschrecken dürfte, als dass er Frauen hilft, will Annen nicht einsehen. „Sollen sie etwa ein gutes Gewissen haben, wenn sie abgetrieben haben?“

Schon Hunderte Ärzte hat Annen wegen Verstößen gegen Paragraf 219a angezeigt. „Ich bin Rentner und habe entsprechend viel Zeit.“ Annen googelte früher vermehrt nach Begriffen wie „ambulante Operationen Schwangerschaftsabbruch“ und wurde oft fündig. Die Anzeigen listet Annen auf seiner Internetseite wie eine Trophäensammlung. In den allermeisten Fällen hatte der Aktivist Erfolg: Die Verfahren wurden eingestellt, weil die Ärzte nach Hinweisen aus der Staatsanwaltschaft die Informationen von der Internetseite nahmen. Der Fall der unbeugsamen Hänel ist eine Ausnahme, ebenso wie der Prozess gegen zwei Ärztinnen aus Kassel. Doch mit seiner Liste sorgt Annen auch für einen Effekt, den er nicht beabsichtigt. Wenn ungewollt schwangere Frauen nach „Abtreibung“ in der Nähe ihres Wohnortes googeln, landen Viele auf der sorgsam gepflegten Liste des Klaus Günther Annen. Der Lebensschützer wird unfreiwillig zum Wegweiser in die nächste Abtreibungsklinik.

Krause und Annen gehören zu keiner etablierten Lebensschutzorganisation. Wenn in der Diskussion um Paragraf 219a von „militanten Abtreibungsgegnern“ die Rede ist, sind trotzdem fast immer die beiden gemeint. Für das Image der Lebensrechtszene sind die Aktivitäten der beiden nicht gerade förderlich. Annen war 15 Jahre lang mit einer Organisation gegen Abtreibung in Fußgängerzonen aktiv. Den Namen der Organisation will er nicht nennen. Heute noch hält er mit Gleichgesinnten Mahnwachen vor Abtreibungspraxen, betet dabei. Annen ist gläubiger Katholik. Die Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen wollen, sollen ein letztes Mal vor dem Abbruch erfahren, dass sie einen Mord begehen, wie Annen es nennt. 2015 sprach ihm der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach langem Streit das Recht zu, weiterhin im Umfeld von Abtreibungspraxen Handzettel zu verteilen.

Streit ums Werbeverbot für Abtreibungen

Fast hätte der Fall Hänel sogar eine Regierungskrise ausgelöst. Die SPD will die Abschaffung von Paragraf 219a, die Union will ihn beibehalten. Die Sozialdemokraten verzichteten schließlich darauf, einen eigenen Gesetzesentwurf einzubringen. Die Fraktionsspitzen von SPD und Union beschlossen, das zuständige SPD-geführte Justizministerium mit einer Lösung zu beauftragen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bezog klar Stellung gegen eine Änderung des Paragrafen. Er sagte der Bild am Sonntag: „Mich wundern die Maßstäbe: Wenn es um das Leben von Tieren geht, da sind einige, die jetzt für Abtreibungen werben wollen, kompromisslos.“ Später signalisierte er Offenheit, sollte es Gesetzeslücken geben. Im April setzte die SPD der CDU und CSU dann die Pistole auf die Brust: Sollte bis Herbst 2018 keine gemeinsame Lösung gefunden werden, wollen die Sozialdemokraten Paragraf 219a notfalls auch mit Stimmen der Opposition abschaffen. „Ein freier Zugang zu sachlichen medizinischen Informationen ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten daher nicht verhandelbar“, teilten die Genossen mit.

„Frauen in Not“ sollen „Zugang zu sachlichen Informationen“ bekommen, lautet die Sprachregelung der Gegner des Gesetzes. Die FDP will zumindest eine Aufweichung des Gesetzes, Grüne, SPD und Linkspartei die Abschaffung. Doch mit einer Kampfabstimmung im Alleingang hätte die SPD einen Vertrauensbruch innerhalb der Großen Koalition begangen.

Das Bild, das die Gegner von 219a in ihrer Kommunikationsstrategie zeichnen, erschüttert: Als sei die Lage für ungewollt schwangere Frauen nicht schon verzweifelt genug, wollten die kaltherzigen Lebensschützer ihnen auch noch medizinische Informationen vorenthalten. Paragraf 219a wird zum Symbol für die zusätzliche Unterdrückung der ohnehin schon Not leidenden Frauen. Es liege doch auf der Hand, dass der historische Paragraf auf den Müllhaufen der Geschichte gehöre – könnte man meinen. Doch die Grundvoraussetzung für die Kritik ist schlicht falsch: Es gibt kein Informationsdefizit. Oder zumindest keines, für das man Paragraf 219a antasten müsste.

Der Gesetzgeber verpflichtet Frauen in einem anderen Paragrafen, Nummer 218a, sogar dazu, sich zu informieren. Demnach ist eine Abtreibung möglich, wenn durch die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet ist oder wenn sie vergewaltigt wurde. Alle anderen Fälle von Abtreibungen sind rechtswidrig. Zum Verfahren gehört auch die sogenannte „Beratungsregelung“, bei der Frauen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei abtreiben können, wenn sie nachgewiesen haben, dass sie ein Gespräch mit einer anerkannten Beratungsstelle in Anspruch genommen haben. 96 Prozent der Abtreibungen fallen in diese Kategorie. Wenn eine ungewollt schwangere Frau beraten wurde, erhält sie in der Regel neben dem Beratungsschein auch eine Liste mit Ärzten, die Abbrüche vornehmen. Die Frage ist, wer die vorgeschriebene Beratung leisten soll. Eine unabhängige Beratungsstelle oder Ärzte? Der Gesetzgeber möchte, dass dies staatlich anerkannte Beratungsstellen tun, weil Ärzte, die letztlich für die Leistung bezahlt werden, möglicherweise einem Interessenkonflikt unterliegen. Hier vorzubeugen, ist die Absicht hinter dem dann folgenden Paragrafen zum Werbeverbot.

Kristina Hänel hat für das Landgericht Gießen dokumentiert, dass so gut wie keine Frau über ihre Internetseite zu ihr gekommen ist, sondern fast ausschließlich über die Beratungen. In Bayern dürfen die Beratungsstellen keine Adressen herausgeben. Die Schwangeren müssen beim Gesundheitsamt danach fragen. Nach dreitägiger Bedenkzeit kann die Frau einen Termin bei einem Arzt machen, der sie über die möglichen Methoden aufklärt.

Uwe Heimowski, der Politikbeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz und Vorstandsmitglied des Christlichen Medienverbundes KEP, hält die Diskussion für fehlgeleitet. Wenn Paragraf 219a ohne breite und lange Debatte abgeschafft werden sollte, wäre das „himmelschreiend“, sagt er. Die eigentliche Intention des Paragrafen sei viel zu wenig bekannt. Es werde so getan, als würden Frauen alleine gelassen, wenn Ärzte nicht öffentlich über Abtreibungen informieren dürften. Paragraf 219a wolle Frauen jedoch gerade davor schützen, mit ihrer schweren Entscheidung alleine dazustehen, deshalb sehe er eine Beratungspflicht vor. „Das ungeborene Leben ist von Gott geschaffen und bereits im Mutterleib vom Grundgesetz geschützt“, betont Heimowski. „Der Gesetzgeber will keine nüchterne technische ‚Lösung‘, sondern eine persönliche Begleitung der Schwangeren. Insofern ist §219a pro Frau.“ Eine ungewollte Schwangerschaft bedeute für die Frau eine angespannte und hochemotionale Situation mit weitreichenden Konsequenzen. „Deswegen darf es keine Instantlösung über Google geben.“

Wie Heimowski warnt auch die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA) vor der Abschaffung von Paragraf 219a. „Abtreibungen sind rechtswidrig, deswegen darf dafür auch nicht geworben werden“, sagt deren stellvertretende Vorsitzende Cornelia Kaminski. „Dieser Paragraf 219a dient dazu, das Bewusstsein in der Bevölkerung zu erhalten, dass Abtreibung ein Unrecht ist, weil dabei ein unschuldiger kleiner Mensch getötet wird.“ Wer das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche lockere, zerstöre „den letzten Rest an Unrechtsbewusstsein, der in Bezug auf Abtreibung in Deutschland noch vorhanden ist“.

Zudem lässt sich mit Schwangerschaftsabbrüchen bereits jetzt viel Geld verdienen. Der Münchener Arzt Friedrich Stapf macht seit Jahrzehnten ausschließlich Abtreibungen in seiner Praxis. Er hat weder promoviert noch eine Facharztausbildung abgeschlossen. Pro Jahr, so gibt er an, führt er 3.000 Abbrüche durch. Bei Kosten zwischen 350 und 600 Euro pro Abbruch müsste Stapf jährlich zwischen einer und 1,8 Millionen Euro einnehmen. Der Spiegel berichtete schon 1998 über Stapfs Vorliebe für schnelle Sportwagen und Segeljachten. Wer will da ernsthaft kommerzielle Interessen ignorieren? Was der Gesetzgeber mit dem Werbeverbot bezwecken möchte, entspringt offenbar keiner irrationalen Sorge.

Hänel verliert vor Landgericht

Dabei ließe sich der Konflikt eigentlich leicht lösen. Der Präsident der Bundesärztekammer, Ulrich Montgomery, schlägt eine zentrale Liste vor. Darauf sollen alle Ärzte aufgenommen werden, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Vergleichbare Listen gibt es schon in Hamburg und Berlin. Da die Adressen nur von den Behörden veröffentlicht würden, wäre dies auch kein Verstoß gegen das Werbeverbot für Abtreibung.

Spricht man Kristina Hänel auf den Vorschlag der Ärztekammer an, ist sie wenig erfreut. „Vorher war Herr Montgomery für die Abschaffung von 219a. Mit dem Kompromissvorschlag, der keiner ist, versucht er, sich Gesundheitsminister Spahn anzubiedern.“

Den Berufungsprozess im Oktober vor dem Landgericht Gießen verlor Hänel erneut. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung waren sich einig, dass Hänel gegen Paragraf 219a verstoßen hatte. Hänel und ihr Anwalt Karlheinz Merkel mussten somit formell zwar eine Niederlage einstecken. Aber um einen Freispruch ging es ihnen gar nicht – sondern um mehr.

Hänels eigentliches Ziel ist das Bundesverfassungsgericht, das den Paragrafen 219 des Strafgesetzbuches als verfassungswidrig einstufen soll. Die Ärztin und ihr Anwalt kündigten sofort Revision an und wollen nun durch alle Instanzen bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Mehrfach plädierte der vorsitzende Richter Johannes Nink in der Verhandlung für eine leichte Änderung des Paragrafen – und lieferte sogar Formulierungsvorschläge, damit nur noch „grob anstößige“ Werbung für Abtreibungen verboten sei. „Vielleicht berichtet die Presse entsprechend informativ, damit sie den Abgeordneten in Berlin auf dem Weg hilft“, sagte Nink in Richtung der im vollen Zuschauerraum versammelten Journalisten. Das Gesetz aber grundsätzlich als verfassungswidrig einzustufen und damit den direkten Weg nach Karlsruhe zu ermöglichen, war für Nink dann doch eine Nummer zu groß. Denn dann hätte er als einfacher Richter am Landgericht erklären müssen, dass ein Gesetz, das einmal verfassungskonform gewesen sei, es nun nicht mehr sei, sagte er.

Die gegenwärtige Regelung, nach der Abtreibungen zwar verboten, aber nach Beratung straffrei sind, bezeichnete Nink als „Unding“, als „fürchterlichen Kompromiss“ und „Selbstbetrug“. Dennoch müsse er aus juristischen Gründen gegen Hänel entscheiden: „Tragen Sie das Urteil wie einen Ehrentitel im Kampf für ein besseres Gesetz.“

Die Diskussion um Schwangerschaftsabbrüche hat mit dem höchsten Wert des Grundgesetzes zu tun: der Menschenwürde, die sich aus der christlichen Ethik ableitet. Wenn Gott die Menschen zu seinem Bild geschaffen hat, bedeutet das für jeden Menschen das Recht auf ein würdevolles Leben. Wer das in Frage stellt oder angreift, macht sich nach christlicher Auffassung schuldig. Christen kann daher weder die Notlage ungewollt schwangerer Frauen noch die Tötung ungeborenen Lebens kalt lassen. Das Bundesverfassungsgericht traf 1993 ein unmissverständliches Urteil: „Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität.“ Das ungeborene Leben beginne mit der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist in dieser Diskussion gespalten. Deren mächtigste Publizistin, chrismon-Chefredakteurin Ursula Ott, forderte in einem Kommentar die Abschaffung des umstrittenen Gesetzes – und sah sich schnell heftiger, teils martialischer Kritik von Konservativen und Evangelikalen ausgesetzt. Der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bed­ford-Strohm, fühlte sich zum Eingreifen genötigt. „Ein Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche halte ich für richtig“, sagte er im Januar gegenüber pro. Ott schätze er sehr. „In dieser Sache ist sie innerhalb der möglichen Meinungsäußerungen im Bereich des Protestantismus eben anderer Ansicht als ich.“ Viel deutlicher kann sich ein Ratsvorsitzender, der zudem Mitherausgeber von chrismon ist, nicht distanzieren. Bedford-Strohms Sorge ist, dass eine ethische Verschiebung des Rechtsempfindens einträte, wenn der Paragraf 219a abgeschafft und Werbung für Abtreibungen erlaubt würde. Abtreibungen würden sich in der Wahrnehmung von Menschen noch stärker normalisieren, als dies ohnehin schon der Fall sei.

Ott ließ sich nicht beirren und legte mit einer positiven Homestory über Hänel nach, die sie mit „die Retterin“ überschrieb. Im Internet heißt der Text mittlerweile „Sie lässt sich nicht unterkriegen“. Auch die „Evangelischen Frauen in Deutschland“ (EFD) haben sich längst dem Protest gegen das Werbeverbot für Abtreibungen angeschlossen, halten das Gesetz gar für verfassungswidrig.

Warum sind die Gemüter nur so erhitzt, wenn es bei genauerem Hinsehen so gut wie keine Informationslücke gibt? Klar ist: Die Generation, die in den Siebzigerjahren für Frauenrechte kämpfte, fürchtet um ihre Errungenschaften. Sie kennen noch die Zeit, in der Frauen wegen amateurhaft vorgenommener Abbrüche gestorben sind. Die aktuelle Regelung ist ein mühsam errungener Kompromiss aus den Neunzigerjahren. Daher stammt auch die heutige Fassung des umstrittenen Paragrafen. In den vergangenen 15 Jahren ist die Zahl der Ärzte, die Abbrüche vornehmen, um 40 Prozent zurückgegangen, hat das Statistische Bundesamt für das ARD-Magazin „Kontraste“ festgestellt. In der Sendung kamen zwei Ärzte vor, die beide trotz ihres Rentenalters nur noch deswegen praktizieren, weil keiner ihrer Kollegen mehr Schwangerschaften beenden will. Steckt also vielleicht mehr hinter dem Protest gegen das Werbeverbot?

Natürlich geht es auch um den Paragrafen 218, der Abtreibungen grundsätzlich verbietet. Die Speerspitze des Protestes gegen das Werbeverbot für Abtreibungen ist das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“. Die Verantwortlichen machen keinen Hehl daraus, was sie wollen: „219a ist erst der Anfang! Leben schützen: Abbrüche legalisieren!“ Unter diesem Motto zog das Bündnis am 22. September durch Berlin. Als Unterstützer listet das Bündnis neben vielen anderen den Deutschen Gewerkschaftsbund, die Lehrergewerkschaft GEW, die Beratungsorganisation profamilia, Bündnis ’90/die Grünen, die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen und die Linkspartei. Die Linke forderte in ihrem Programm zur Bundestagswahl 2017 offen die Abschaffung des Paragrafen 218. Also eine komplette Freigabe von Abtreibungen ohne Fristen? Auf Nachfrage von pro erklärte die Partei: „Sobald das Kind außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig wäre (heutzutage meist ab der 25. Schwangerschaftswoche), wird kein Arzt und keine Ärztin mehr einen Abbruch vornehmen.“ Dann gehe es um eine Geburt. Diese Sätze dürften jeden erschauern lassen, der weiß, wie weit ein Fötus in der 24. Woche bereits entwickelt ist.

Auch die bedeutendste Beratungsorganisation in Deutschland, profamilia, fordert seit Langem die komplette Freigabe von Abtreibungen. Die Paragrafen 218 und 219 seien „eine Diskriminierung von Frauen in Form einer massiven Einschränkung ihrer Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung“, schrieb profamilia schon 2001. Selbst der Abtreibungsarzt Friedrich Stapf warnte hingegen in der Abendzeitung München vor einer Abschaffung von Paragraf 219a, weil damit auch Paragraf 218 fallen könnte.

Mittlerweile hat sich die Bundesregierung auf eine Lösung geeinigt. Mitte Dezember teilte sie mit, wie eine Neuregelung aussehen könnte: Bundesärztekammer und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sollen Kontaktinformationen für Frauen im sogenannten Schwangerschaftskonflikt zur Verfügung stellen. So soll gesichert werden, dass die Auskunft über Ärzte, die Abtreibungen durchführen, von neutraler Stelle kommt. Außerdem soll gesetzlich verankert werden, „dass und wie“ Ärzte selbst darüber informieren können, wenn sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Am Verbot der Werbung für Abtreibungen will die Bundesregierung festhalten.

Im Januar wollen die zuständigen Politiker diese rechtlichen Neuerungen unter anderem als Ergänzung des Paragrafen 219a Strafgesetzbuch konkret vorschlagen. Zuständig sind Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), Justizministerin Katarina Barley (SPD), Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Familienministerin Franziska Giffey (SPD) und Kanzleramtschef Helge Braun (CDU).

Hänel bezeichnete den Kompromiss noch am selben Abend als „Nullnummer“, auch andere Gegner des Werbeverbots reagierten entsetzt.

Der Embryo – vernachlässigter Protagonist

Kristina Hänel hat lange Jahre für profamilia gearbeitet, zunächst als Beraterin, danach führte sie auch Abbrüche durch – weil keiner sonst dazu bereit war. „Mir geht es in meinem ganzen Engagement nur um 219a, um das Informationsrecht von Frauen. Das andere Thema schneide ich von mir aus nicht an“, sagt die Ärztin. „Natürlich ist der 218 in seiner Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ein Problem für Frauen. Die Frage ist, inwiefern eine Zwangsberatung sinnvoll ist“, sagt sie dann doch. Hänel macht seit 30 Jahren Abbrüche. Unter dem Pseudonym Andrea Vogelsang schrieb sie in den Neunzigerjahren Jahren das Buch „Die Höhle der Löwin“. Darin schildert sie erschütternde Geschichten von Frauen, die sich in extremen Notlagen an sie wandten und um eine Abtreibung baten. Sie klingt darin aggressiver als im echten Leben, etwa wenn sie über die „perversen Argumentationsketten“ von Abtreibungsgegnern schreibt, die doch selber „so menschen- und lebensverachtend“ seien. „Eigentlich sind doch alle Menschen Abtreibungsgegner – bis sie selbst betroffen sind“, sagt Hänel.

Einmal stand eine der Frauen, die sich zuvor gegen Abtreibungen eingesetzt hatte, in ihrer Praxis, sie wollte nun selbst einen Abbruch. Noch kurz vorher hatte sie der Ärztin Plastikembryos in die Hand gedrückt, um sie zum Nachdenken zu bringen. Doch jetzt befinde sie sich eben in einer Notlage. Hänels Wut vor allem über Männer, die Frauen erst schwängern und dann alleine lassen oder gar zur Abtreibung nötigen, ist auf jeder Seite zu spüren. „Das Hauptproblem ist, dass ein Mann pro Herzschlag 1.000 Spermien produziert“, sagt die Ärztin heute. Wären die Männer verantwortungsvoller, gäbe es viel weniger Probleme.

„Ich finde es schön, Schwangerschaftsabbrüche zu machen, und ich bin stolz auf mich“, schrieb Hänel im Schlusswort. Stolz sei sie darauf, Frauen helfen zu können, erklärt sie heute den Satz. „Ich finde es auch nicht schön, wenn jemand einen Herzinfarkt hat. Trotzdem reanimiere ich doch gerne.“ Natürlich freue sie sich über jedes Kind, das auf die Welt kommt. „Jeder wünscht sich doch eine Familie und einen Vater für das Kind.“ Hänel lächelt. Sie hat selbst Kinder und Enkel.

Sie sieht die komplette Thematik durch die Augen der Schwangeren. Sie sagt nicht: „Mir tut es für das Kind leid, das nicht leben darf.“ Sie sagt: „Es ist schade, dass die Frau ein in Liebe empfangenes Kind nicht auf die Welt bringen konnte, weil die Gesellschaft es nicht zugelassen hat.“

Hänel kann das Denken von Ärzten nicht nachvollziehen, die keine Abbrüche machen können, seit sie beim Anblick eines Embryos gespürt haben, dass es sich um ein werdendes Leben handelt. Abtreibungen sind für sie Hilfe in der Not. Sie habe früh gelernt, dass sie keinen Einfluss darauf habe, ob es zu einem Abbruch kommt oder nicht. „Wenn ich es nicht mache, ist der nächste Griff der Frau der zum Kleiderbügel.“ Sie habe nur Einfluss darauf, ob der Abbruch medizinisch korrekt vorgenommen wird. „Die einzige Frage ist für mich: Überlebt das die Frau? Bleibt sie fruchtbar und gesund?“

ALfA ist eine Organisation, die Abtreibungen verhindern will. Aggressive Internetseiten lehnt sie ab. Frauen in furchtbaren Notsituationen bräuchten Auswege und keine Drohgebärden, sagt Cornelia Kaminski. Neulich wandte sich eine chinesische Familie aus Aachen mit großen Sorgen an die Organisation, nicht einmal eine Krankenversicherung hatte sie. Eine Abtreibung stand im Raum. ALfA nahm sich der Familie an. „Dadurch konnte das Kind leben“, sagt Kaminski. Die Organisation überweist monatlich Geld an die Familie. Eine Sozialarbeiterin schaut einmal im Monat nach dem Rechten. Ein Krankenhaus machte den nötigen Kaiserschnitt kostenlos. In den Tagen vor der Entbindung kam die Familie in einer Pension kostenlos unter, eine Pizzeria spendierte eine Pizza-Flatrate.

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel hat ihre Erfahrungen mit christlich motivierten Lebensschützern, die meisten negativ. Was macht das mit ihr? Christus würde sich, wenn er heute leben würde, auf ihre Seite stellen, da ist Hänel sich sicher. „Er war schließlich immer gegen die Pharisäer, immer auf der Seite der Schwachen.“ Sie meint damit die ungewollt schwangeren Frauen, nicht das ungeborene Leben.

Dieser Text erschien in einer früheren Fassung in der gedruckten Ausgabe 5/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro hier kostenlos.

Von: Nicolai Franz und Stefanie Ramsperger

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