Wenn Menschen sich radikalisieren, sind dafür individuelle und strukturelle Faktoren ausschlaggebend. Dies erklärte der Politikwissenschaftler Christopher Daase vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung bei einer Fachtagung zur Radikalisierungsprävention im hessischen Offenbach. Auf individueller Ebene könnten dies etwa Armut und Diskriminierungserfahren sein, im strukturellen Bereich der Druck der Peer-Group und die Entwicklung der Subkultur, der jemand angehört. „Nicht alle Menschen, die davon betroffen sind, radikalisieren sich aber“, machte er deutlich. Auch ließen sich einzelne Fälle nicht ohne weiteres auf eine größere Allgemeinheit übertragen.
Menschen, die sich tatsächlich radikalisierten, stellten die Legitimität einer politischen Ordnung in Frage und gingen dagegen dann auch mit Gewalt vor. „Gewalt ist aber keine zwingende Folge eines Radikalisierungsprozesses.“ Im Zuge der Radikalisierung entstünden aus einer größeren Basis von Sympathisanten häufig etwas kleinere gewaltbereite Gruppen. Das könne wiederum dazu führen, dass moderatere Personen ausscheiden.
„Radikalisierte Gruppen werden häufig durch repressive Maßnahmen des Staates gestärkt“, beobachtete Daase. Auch an dieser Stelle stiegen moderate Mitglieder aus und der Kern radikalisiere sich weiter. Salafisten etwa nutzten vor allem Bedrohung und Unrechtserfahrung zu einer Radikalisierung. Im rechten Spektrum fühlten sich Menschen in Fragen von Flucht und Migration übervorteilt. In der Szene reiche es, sich als Teil einer Gruppe zu fühlen und Angriffe auf andere als etwas Selbsterlittenes wahrzunehmen.
Produktiv mit kultureller Vielfalt umgehen
Die letzten Jahre hätten verdeutlicht, dass sich auch ganze Gesellschaften radikalisierten. Der Kern der Gesellschaft werde von rechts oder links angegriffen. Als Indikatoren nannte Daase das veränderte Wahlverhalten, die Abkehr von Werten und Normen, die verbreitete Bereitschaft Gewalt gegen den Staat anzuwenden, und die Polarisierung politischer Gegensätze, die den Zusammenhalt gefährde.
Der Wissenschaftler wünschte sich in und für die Praxis einen produktiven Umgang mit der kulturellen Vielfalt. „Die soziale Integration und die politische Teilhabe müssen mit Leben gefüllt werden – und das am besten schon vor Radikalisierung und Deradikalisierung.“ Dazu sei eine bessere Verknüpfung von Theorie an den Hochschulen und der Praxis vor Ort wünschenswert. Daase verdeutlichte, wie wichtig es sei, die Wissensbestände zu Radikalisierungsprozessen zu bündeln und die Forschungsergebnisse zusammenzutragen. Weder in der Wissenschaft noch in der Praxis gebe es dort bisher ein einheitliches Verständnis davon. Trotzdem werde Radikalisierung als Chiffre globaler Krise benutzt. In der Forschung habe der Radikalisierungsbegriff den Extremismusbegriff in den vergangenen Jahren abgelöst.
Von: Johannes Blöcher-Weil