Per Chat ein offenes Ohr für die Seele

Im „Soul Chat“ können Jugendliche digital Seelsorge erhalten. Anlass für das Angebot waren die Pandemie und der Lockdown. PRO hat mit einem der Initiatoren, Michael Pohlers, über die bisherigen Erfahrungen gesprochen – und den Chat selbst ausprobiert.
Von PRO
Junge Frau am Smartphone

Seit rund anderthalb Jahren bietet die Württembergische Landeskirche einen Seelsorge-Chat für Schüler an. Die Idee dafür entstand, weil durch die Pandemie schulseelsorgerliche Angebote im vorigen Frühjahr plötzlich weggefallen waren. „Wir konnten von heut auf morgen nicht mehr für die Kinder und Jugendlichen da sein“, sagt Michael Pohlers vom Pädagogisch-Theologische Zentrum (PTZ) der Landeskirche. Er ist Referent für christliche Sozialisation im familiären Kontext, hat das Projekt mitinitiiert und ist für die technische und konzeptionelle Entwicklung von „Soul Chat“ verantwortlich.

„Während des Lockdowns haben wir gemerkt, dass der Redebedarf der Jugendlichen sehr groß war“, sagt Pohlers. So habe sich die Frage ergeben, wie man ihnen weiterhin „ein offenes Ohr“ anbieten kann. Laut Pohlers war der Seelsorge-Chat binnen einer Woche organisiert. Als technischer Partner wurde die Firma Userlike gewonnen. Im April 2020 ging der Chat online, im Sommer vergangenen Jahres reflektierten die Initiatoren ihre Pilotentwicklung und passten einiges an. Auch jetzt, da die Schulen wieder geöffnet haben, will das PTZ den kostenlosen Chat als „digitale Ergänzung zur Präsenzseelsorge vor Ort“ weiterhin anbieten.

Eine konkrete Weiterentwicklung, die aus der Pilot-Phase resultiert, ist der „Soul Chat“. Wenn man den im Netz sucht, stößt man beim ersten Suchergebnis direkt auf die sogenannte Landingpage des digitalen Seelsorgeangebots. Während links melancholische Bilder Situationen aus der Lebenswelt der Jugendlichen zeigen, erscheint Stück für Stück in der Mitte der Seite ein „Hallo“. So als wenn es gerade erst getippt werden würde. Hinter „Soul Chat“ verbirgt sich eine neue optische Ansprache, die sich vor allem an ältere Jugendliche richtet und direkt über geschaltete Werbe-Anzeigen via Instagram bei den Zielgruppen auf dem Handy erscheint, erklärt Pohlers. „Die Bildsprache greift den ästhetisch-modernen Stil von Instagram auf und eröffnet eine Möglichkeit, dass die Jugendlichen sich in dem Moment davon angesprochen fühlen. Wenn das passiert, landet man mit wenigem Klicks im Chat und hat sofort ein vertrauensvolles Gegenüber zum Reden.“ Weitere Plattformen wie TikTok probiert das Team vom Seelsorge-Chat aktuell aus. „Da sind wir in der direkten Lebenswelt der Jugendlichen“, erklärt Pohlers. „Dort wollen wir das Gesprächsangebot platzieren.“

Begrenzte Zeitfenster

Unter der Begrüßung steht auf der Website das Motto des Chats: „Einfach mal offen reden“. Das kann man im „Soul Chat“ aber nur zu bestimmten Zeiten. An einem Samstag sieht es derzeit mau aus, denn der Chat ist nur montags bis freitags verfügbar. Auch 14 Uhr unter der Woche ist keine gute Idee: Während es in den ersten Monaten des digitalen Seelsorgeangebots noch möglich war, zwischen 9 und 17 Uhr zu chatten, ist das seit Sommer 2020 anders. Denn da verkürzten die Organisatoren die Chatzeiten auf ein dreistündiges Zeitfenster zwischen 16 und 19 Uhr. Der Grund: In diesen Zeiten sind Jugendliche online insgesamt aktiver.

Ab 16 Uhr unter der Woche verändert sich ein orangefarbenes Feld rechts unten auf der Seite zu einem kreisförmigen Chatsymbol. Mit einem Klick geht es los. Die Chatpartnerin heißt Joanna – ein Pseudonym, wie auch die Namen ihrer Kollegen Monika und Justus an einem anderen Tag. Laut Joannas „Profilbild“, einem Avatar-Gesicht, trägt sie einen schwarzen Bob mit Pony. Das Oberteil ist grün mit schwarzem Bübchenkragen. Monika sieht genauso aus. Männliche Chatpartner haben auf ihrem Avatar-Profilbild dagegen blonde Haare, aber offenbar auch eine Vorliebe für grüne Kleidung. „Der Chat hilft Schülern, niederschwellig ein gutes Gegenüber zu finden, mit dem sie anonym schreiben können“, erklärt Pohlers. Auch die Seelsorger – größtenteils Religionslehrkräfte, die pädagogisch und kommunikationspsychologisch für Schulseelsorge geschult wurden – tragen nur pseudonyme Spitznamen. Damit ist auch ihre Anonymität gewährleistet. Für Jugendliche bedeutet das eine niedrigere Hemmschwelle als etwa bei der Präsenz- oder Telefonseelsorge.

„Soul Chat“ will mit den Bildern auf der Startseite das Befinden aufgreifen, das Jugendliche verspüren können, wenn sie Seelsorge in Anspruch nehmen wollen

Optisch kann man sich den Chat genauso vorstellen wie bei What’sApp, Signal oder einer anderen Messenger-App. Vom Aufbau und der Funktionsweise her ist das Chatten also alltäglich gewohntes Terrain für die meisten Nutzer. Nur dass man im Normalfall mit einer Freundin, einem Kumpel oder Familienangehörigen – kurzum Leute, die man persönlich kennt – chattet.

„Mehr Bedarf als wir leisten können“

Joanna ist online. Wie startet man ein solches Seelsorgegespräch? „Joanna, was machst du eigentlich bei Liebeskummer?“, heißt die Einstiegsfrage. Ihre Rückfrage „Du hast Liebeskummer?“ lässt nicht lange auf sich warten. Und los geht das abwechselnde Tippen. Joanna „hört“ zu, reagiert einfühlsam, und hakt interessiert nach. Eigene Überlegungen äußert sie erst nach einem „Darf ich eine Vermutung äußern?“. Ihre Thesen erscheinen schlüssig. Joanna hört nicht nur zu, dennoch zwingt sie keine Lösung auf. „Was glaubst du, könnte dir jetzt weiterhelfen?“, fragt sie stattdessen.

Die eigenen Ideen, angeregt durch die Fragen der Seelsorgerin auf der anderen Seite, helfen tatsächlich weiter. Über 40 Minuten ging die erste Chat-Seelsorge. Die hilft aber nur, wenn man auch einen freien Platz im Chat bekommt. Bei Justus am nächsten Tag ist etwa jeder Versuch während des gesamten Zeitfensters von drei Stunden ohne Erfolg. Und Monika weist Richtung Ende des Gesprächs extra darauf hin, ob es in Ordnung wäre, das Gespräch so langsam zu einem Ende zu bringen. Verständlich, bei der großen Nachfrage.

Im Schnitt finden im dreistündigen Zeitfenster täglich acht Gespräche statt. „Es ist mehr Bedarf da, als wir leisten können“, sagt Pohlers. Darin sehe er viel Potential. Bisher bietet von den Landeskirchen nur die württembergische den Seelsorge-Chat für Jugendliche an. „Das Chat-Konzept ist für die gesamtdeutsche Kirche interessant und für andere Landeskirchen adaptierbar“, sagt Pohlers. Es müsse aber vor allem die Gesprächsqualität durch entsprechende Supervision und Schulungen der Chat-Seelsorger gesichert sein.

Seelsorge online funktioniert

Eine andere Sache macht zunächst stutzig: Keiner der Seelsorger erwähnt zu irgendeinem Zeitpunkt von sich aus etwas über den christlichen Glauben. Das muss aber auch nicht sein, vor allem wenn sich der Chat in erster Linie als offener Raum für Jugendliche versteht und die Seelsorger vorrangig zuhören sollen. Wenn Glaube aber vom Ratsuchenden selbst thematisiert wird, ist es etwas anderes. Bei der Nachfrage, ob Joanna Christ sei und für eine bestimmte Situation beten könne, kommt die Antwort: „Ich bin Christin und kann dem lieben Gott davon erzählen.“

Das persönliche Fazit: Seelsorge per Chat funktioniert. Anfangs fühlt es sich vielleicht etwas ungewohnt oder gar mühevoll und umständlich an, alles tippen zu müssen. Aber es ist befreiend und hilfreich, die eigenen Sorgen und Gedanken loszuwerden und mit einem anderen Menschen zu teilen. Und das ist auch per Chat möglich. Der Vorteil dabei: Alles ist völlig anonym, ohne Anmeldung, kostenlos und ganz bequem vom Laptop oder Handy aus.

„Soul Chat“ nur ein Türöffner

Für die Zukunft gibt es Überlegungen, das Angebot auch auf die Abendstunden zu erweitern, eventuell auch auf die Wochenenden. Hierfür muss dann aber auch die Frage geklärt werden, wie mehr Personal organisiert und wo digitale Seelsorger in Zukunft gezielt dafür ausgebildet werden können. „Das ist ja ein ganz neues Berufsfeld“, sagt Pohlers. Derzeit besteht das Team in Stuttgart mit Leitung, Seelsorgern und weiteren Mitarbeitern aus insgesamt 15 Personen. Jeden Abend ist jemand anderes für die dreistündige Schicht eingeteilt.

Der „Soul Chat“ soll Seelsorge vor Ort aber nicht ersetzen, betont Pohlers. „Wir verstehen uns als Eintrittsportal, bei dem Jugendliche ihr Problem in einem ersten Gespräch verbalisieren können“, erklärt er. Eine langfristige Begleitung ist im anonymen Chat mit durchrotierenden Mitarbeitern nämlich nicht möglich. Je nach Fall verweisen die Mitarbeiter daher an weitere Hilfsangebote, wie etwa den Schulpsychologen. Bisher gibt es aber noch keine ausgearbeiteten Kooperationen mit speziellen und beidseitigen Ansprechpartnern. Das wäre ein weiterer Entwicklungsschritt, sagt Pohlers. „Gesellschaft funktioniert gut, wenn sie vernetzt, ist“, findet er. Und die brauche ein gutes Hilfssystem für Kinder und Jugendliche, wo auch die Kirche ihren Teil dazu beitragen wolle.

Von: Tabita Prochnau

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