Neun Jahre, YouTube-Star

Immer mehr Eltern drehen mit ihren Kinder YouTube-Videos aus dem Familienleben und die Kleinen werden regelrechte Internetstars. Warum Eltern sich damit oft in einer ethischen Grauzone befinden und wie sie damit umgehen können, wenn ihre Kinder plötzlich YouTuber werden wollen.
Von PRO
Die neunjährige Miley Henle mit ihren Eltern vom Kanal „Mileys Welt“

Die neunjährige Miley reibt sich verschlafen die Augen, als ihre Mutter sie weckt und aus dem Hochbett holt. Ava quietscht vergnügt, als sie bei der Ostergeschenke-Suche im Garten die neue Baby-Born-Puppe findet. Bei der Österreicherin Ilia gibt es nach der Schule erstmal Mittagessen – ihr Lieblingsessen ist Schnitzel. Danach sind Hausaufgaben dran. Das Potenzrechnen bei den Mathe-Hausaufgaben fällt ihr besonders leicht.

Klingt nach einem ganz gewöhnlichen Kinderalltag. Doch Mileys, Avas und Ilias Alltag verfolgen Tausende im Internet. Die Mädchen sind kleine YouTube-Stars. Zusammen mit ihren Eltern drehen sie Videos aus ihrem Alltag, veröffentlichen Spielzeug-Tests oder machen sogenannte „Challenges“, lösen also spielerische oder lustige Aufgaben. Die Kurzfilme landen im Internet und bringen nicht selten viel Geld durch Werbekooperationen oder die von YouTube eingeblendete Werbung. Miley ist die erfolgreichste deutsche Kinder-Influencerin. Der YouTuber-Relevanzindex der Hamburger Agentur Faktenkontor, der die deutsche YouTube-Szene analysiert, platziert ihren Kanal „Mileys Welt“ auf Platz vier der erfolgreichsten deutschen YouTuber. Davor folgen nur Erwachsenenkanäle wie „BibisBeautyPalace“ oder „Dagi Bee“.

Familienkanäle, auf denen häufig die Kinder im Mittelpunkt stehen, boomen. Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk will keine genaue Zahl nennen. Influencer werden sei jedoch ein Trend. „Das ist eine Art Traumberuf von vielen, so wie wir früher Sängerin oder Schauspieler werden wollten.“ Die Schwelle, sich auszuprobieren, sei durch das Smartphone niedrig.

Geschaut werden Kanäle wie „Mileys Welt“ oder „Alles Ava“ auch von Gleichaltrigen – besonders, wenn es um lustige Spiele, Basteln oder neues Spielzeug geht. In den USA ergab eine Studie des Pew Research Centers, dass 81 Prozent der Eltern ihre Kinder im Alter von bis zu elf Jahren YouTube-Videos ansehen lassen, 34 Prozent davon regelmäßig. Was die Kinder genau sahen, erhob die Studie nicht. 61 Prozent gaben jedoch an, ihr Kind habe für sein Alter ungeeignete Inhalte gesehen. Roland Rosenstock, Professor für Religions- und Medienpädagogik an der Universität Greifwald, vermutet, dass viele Zuschauer auch Erwachsene sind. Er bezeichnet die YouTube-Kanäle als eine „sehr professionell gemachte Dauerwerbesendung, die vorgibt, den Familienalltag zu zeigen“.

Authentische Idole

Das Phänomen von Kinderstars in den Medien ist nicht neu – denkt man zum Beispiel an Pippi-Langstrumpf-Darstellerin Inger Nilsson, die mit zehn Jahren berühmt wurde, oder an den Schlagersänger Heintje, der seine Karriere 1966 mit elf Jahren startete. Bei Kinderstars in den Sozialen Medien aber wird der Alltag öffentlich gemacht. Der fremde Zuschauer erlebt oft intime Momente mit. Die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit verschwimmt. Für den Zuschauer entsteht der Eindruck, man „sitze gemeinsam im Wohnzimmer“, sagt Rosenstock. Der Unterschied sei, dass dieses Wohnzimmer von jedem betreten werden könne.

Medien- und Religionspädagoge Roland Rosenstock empfiehlt: Für Kinder ist es heute wichtig, kreativ und spielerisch die Möglichkeiten der Medien kennenzulernen. YouTube und Instagram sind für Kinder unter 12 Jahren dazu nicht geeignet. Sollten Kinder das Interesse an Instagram und YouTube zeigen, ist eine kritisch-reflexive Begleitung notwendig. Bevor Kinder ein Smartphone bekommen, sollten Eltern zusammen mit Lehrern und außerschulischen medienpädagogischen Fachkräften zeigen, wie man sich in sozialen Netzwerken inszenieren kann, ohne dass das negative Auswirkungen hat. Foto: Privat
Medien- und Religionspädagoge Roland Rosenstock empfiehlt: Für Kinder ist es heute wichtig, kreativ und spielerisch die Möglichkeiten der Medien kennenzulernen. YouTube und Instagram sind für Kinder unter 12 Jahren dazu nicht geeignet. Sollten Kinder das Interesse an Instagram und YouTube zeigen, ist eine kritisch-reflexive Begleitung notwendig. Bevor Kinder ein Smartphone bekommen, sollten Eltern zusammen mit Lehrern und außerschulischen medienpädagogischen Fachkräften zeigen, wie man sich in sozialen Netzwerken inszenieren kann, ohne dass das negative Auswirkungen hat.

Im Vergleich zu Kinderstars in Film und Fernsehen wirkten die Social-Media-Stars authentisch, sagt Stefan Piasecki. Er ist Professor für Soziologie und Politikwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW. Zuvor hatte er den Lehrstuhl für Soziale Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hochschule Kassel inne. Kinder würden so sehen, dass auch ihre Social-Media-Vorbilder morgens müde oder mal schlecht gelaunt seien. Das sei zunächst einmal nicht schlecht. Andererseits werde durch das Abbilden des Normalen jeder Moment des Tages aufgewertet und als berichtenswert verkauft. Privatsphäre im engeren Sinne gebe es dadurch nicht mehr.

Meergans, die beim Deutschen Kinderhilfswerk für den Bereich Kinderrechte und Bildung zuständig ist, betrachtet die Entwicklung kritisch. Kinder müssten zwar im Internet sichtbar sein, denn das Netz sei ein wichtiger gesellschaftlicher Raum. Zudem gönne man es den Familien, Geld zu verdienen, und die meisten Eltern handelten grundsätzlich zum Wohl ihres Kindes. Doch durch die Präsenz auf den Kanälen gerieten Kinderrechte oft unabsichtlich ins Nachtreffen, sagt Meergans.

Kinder haben Rechte

Sie nennt zum Beispiel das Recht am eigenen Bild, das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf Beteiligung, das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung und das Recht auf Freizeit. „Ich sage immer: ein Recht auf Langeweile“, erklärt sie. In einer Folge des ARD-Kulturmagazins „Titel, Thesen, Temperamente“ erzählt die zwölfjährige Ilia, dass ihre Freundinnen sie oft fragten, ob sie samstags Zeit hätte. Da müsse sie jedoch immer ablehnen, denn Samstag sei Drehtag. Die Eltern von Miley betonen, dass ihre Tochter großen Spaß am Drehen habe und selbst immer öfter vor der Kamera stehen wolle. Außerdem sei alles freiwillig. In einem ausführlichen YouTube-Video nehmen sie Stellung zu verschiedenen Vorwürfen aus den Medien, sie täten ihrem Kind nichts Gutes. Dort sagt Mutter Aynur Henle: „Wenn sie (Miley) sagt: ‚Ich will heute aufhören‘, dann hört sie auf.“ Und weiter: „Das ist ihre Entscheidung. Das ist pure Freiheit.“ Allerdings lebt Familie Henle mittlerweile von YouTube. Die Eltern gaben vor einiger Zeit ihre Jobs dafür auf.

Rosenstock respektiert die Haltung von Familie Henle. Er geht davon aus, dass die Eltern für das Kind das Beste wollen. Es sei jedoch gefährlich, wenn die Kinder lernten, dass sie die Aufmerksamkeit der Eltern besonders dann bekämen, wenn es um kommerzielle Interessen gehe. „Es wäre gut, wenn das Familieneinkommen auch unabhängig vom Kind zum Leben reicht“, sagt er. Auf „den Ehrgeiz der Eltern“ komme es an, darauf, ob die Kinder emotialen Belastungen ausgesetzt seien. „Die Frage ist, wie würden sich die Kinder entwickeln – ohne ihr ‚Starleben‘?“ Nicht altersgerechte Erwartungen an das Kind könnten die Entwicklung negativ beeinflussen. Piasecki sagt, man müsse sich im Fall von Miley bewusst sein, dass es irgendwann kein Hobby mehr sei.

Auf direkte Anfragen, Stellung zu beziehen und ihre Position zu erklären, reagiert Familie Henle abweisend. Der Presse wollen sie keine Statements mehr geben. Betreiber anderer Kanäle wie die von „Alles Ava“ und sogar die Agentur WunderStudios, die mehrere solcher Kanäle managt, reagieren gar nicht erst auf Anfragen. Im Gegensatz zu anderen Kinder-YouTubern ist bei Miley alles aufs Genaueste mit dem Gewerbeaufsichtsamt, dem Jugendamt, Schule und Ärzten geregelt. 30 Arbeitstage oder 60 halbe Tage pro Jahr darf die Neunjährige vor der Kamera stehen. Die Henles führen darüber Buch, erneuern regelmäßig die Genehmigungen und achten darauf, alle Auflagen einzuhalten.

„Bilder können verfälscht werden“

Meergans bemängelt bei vielen Kanälen, dass Auflagen nicht eingehalten würden. Denn Kinder bis 13 Jahre dürfen nur mit Ausnahmegenehmigung arbeiten. Arbeit sei es ab dem Zeitpunkt, ab dem Geld fließt, zum Beispiel durch Werbeeinblendungen. Kontrolliert wird das vom Gewerbeaufsichtsamt. Doch wie soll das Amt in jedem Einzelfall das Filmen im heimischen Wohnzimmer im Auge behalten? Meergans sieht die Gewerbeaufsichtsämter in der Pflicht: Sie müssten mehr Verantwortung zeigen, sich dem Problem stellen und Lösungen entwickeln.

Medienpädagoge Stefan Piasecki empfiehlt: Instagram und YouTube sind grundsätzlich nichts für Kinder. Chatten oder Videos mit Freunden zu teilen, sei in Ordnung. Ohne genaues Wissen über Funktionen, Möglichkeiten und Folgen dürften Kinder jedoch nichts von sich ins Netz stellen. Foto: privat
Medienpädagoge Stefan Piasecki empfiehlt: Instagram und YouTube sind grundsätzlich nichts für Kinder. Chatten oder Videos mit Freunden zu teilen, sei in Ordnung. Ohne genaues Wissen über Funktionen, Möglichkeiten und Folgen dürften Kinder jedoch nichts von sich ins Netz stellen.

Sie betont außerdem: „In dem Moment, in dem ich ein Foto von meinem Kind ins Netz stelle, muss ich mir bewusst sein, dass das in falsche Hände geraten kann.“ Es gehe dabei nicht nur um Bilder, die Kinder nackt oder in Badekleidung zeigten. „Bilder können verfälscht werden.“ Es sei ein Leichtes, den Kopf eines vollständig bekleideten Kindes auf den eines nackten Körpers zu montieren. Nicht nur Pädophile im Netz seien eine Gefahr. Meergans spricht auch Cybermobbing in Schulen an. Eltern sollte es klar sein, was es bedeutet, wenn Schulkameraden das Leben des Kindes von klein auf im Netz einsehen könnten. Rosenstock findet es besonders problematisch, wenn Kinder in Unterwäsche, im Bett oder in der Badewanne gefilmt werden. Piasecki gibt zu Bedenken, dass sich jeder Zuschauer der Videos detailliert über Persönlichkeitsstrukturen und Verhaltensmuster informieren, Hobbys, Vorlieben registrieren und Kontakt aufnehmen könne.

Die sechsjährige Ava ist die Hauptperson des YouTube-Kanals „Alles Ava“ Foto: Swanhild Zacharias/Screenshot pro
Die sechsjährige Ava ist die Hauptperson des YouTube-Kanals „Alles Ava“

Eine Studie des Kinderhilfswerks habe in einer qualitativen Untersuchung des Medienalltags von Kindern herausgefunden, dass auch kleine Kinder schon ein sehr ausgeprägtes Gefühl davon hätten, was sie der Öffentlichkeit preisgeben wollten und was nicht, sagt Meergans. 37 Eltern und ihre Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren wurden ausführlich interviewt. Die Befragungen ergaben unter anderem, dass das, was Eltern niedlich finden, für die Kinder oft peinlich ist. Meergans betont hier das Beteiligungsrecht von Kindern: „Man muss mit ihnen gemeinsam entscheiden, was rausgeht in die Welt.“ Gleichzeitig müssten Elten wissen, dass das, was ein Dreijähriger möglicherweise super fände, vielleicht nicht zum Teilen geeignet sei.

Verantwortung wahrnehmen

Rosenstock empfiehlt Eltern, sich die Frage zu stellen, „wie die Kinder später als junge Erwachsene auf die Zeit zurückblicken. Konnten sie ihren eigenen Entwicklungsherausforderungen folgen? Kann ein emotionaler Missbrauch ausgeschlossen werden?“ Und er sagt: „Wenn Eltern bereits vor der Geburt ihrer Kinder Bilder oder Filme offen zugänglich ins Netz stellen, dann verletzen sie damit die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder.“ Piasecki erklärt, Eltern müssten sich bewusst sein, was sie mit dem Kanal wollen. „Hier wird es eine große Bandbreite von Elternpersönlichkeiten geben: die Zulasser, die Bagatellisierer, die Förderer, die Selbstverwirklicher, die ihre Kinder vor die Kamera drücken, um eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren oder sie zu instrumentalisieren.“

Genau wie Erwachsene könnten Kinder ebenfalls gute und schlechte Programme im Netz machen, sagt Piasecki. Wichtig sei es, ob es sich um einvernehmliche und freiwillige Produktionsprozesse handele und ob die Kinderinfluencer sich der Verantwortung gegenüber ihrer Zielgruppe bewusst seien. Denn jeder Medienmacher habe eine Verantwortung. „Ob viele Kinder-Influencer das wissen, bezweifle ich. Unterbewusst wissen sie das sicher. Und hier kommt es auf ihre moralische oder ethische Konstitution an, inwiefern es ihnen egal ist oder nicht.“

Rosenstock wünscht sich, dass Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden. Dafür sollten sich auch die Kirchen einsetzen. Auch die Missbrauchsfälle in den Kirchen zeigten in besonderer Weise, wie wichtig es sei, Kinderrechte gegenüber Erwachsenen zu stärken.

Tipps für Eltern zum Umgang mit YouTube und Co.

Luise Meergans vom Deutschen Kinderhilfswerk findet es gut, wenn Kinder sich im Netz ausprobieren wollen und auch eigene Videos und Bilder hochladen möchten. Das müsse jedoch in einem geeigneten Rahmen stattfinden. Eltern empfiehlt sie:

  • Die AGBs der entsprechenden Plattformen lesen: Dort steht drin, ab wann das Kind einen eigenen Account besitzen darf und welche Regelungen gelten.

  • Bei speziellen Kinderseiten können sich die Kinder ausprobieren: Das Deutsche Kinderhilfswerk betreibt die Seite kindersache.de. Dort wird nicht nur über Kinderrechte informiert, es gibt auch eine Videoplattform, auf der Kinder eigene Inhalte hochladen können. Der Unterschied zu YouTube: Die Plattform wird medienpädagogisch betreut. Jedes Video wird auf Inhalte und zum Beispiel Urheberrechte geprüft. Auch jeder abgegebene Kommentar wird gelesen, bevor ein Team ihn freischaltet. Halten die Mitarbeiterinnen etwas für nicht geeignet, erklären sie dem Kind, warum und wie es besser gehen könnte – zum Beispiel, woher es urheberrechtsfreie Musik bekommt.

  • Kinder im Netz niemals nackt, in Badekleidung, in der Badewanne oder beim Schwimmen zeigen. Signale des Kindes, wenn es etwas peinlich findet, wahrnehmen und mit dem Kind zusammen entscheiden, was an die Öffentlichkeit geht – im Zweifel nichts veröffentlichen.

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 2/2019 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos hier.

Von: Swanhild Zacharias

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