Matthias Miersch: „Kirche und CVJM haben mich in die Politik gebracht“

SPD-Fraktionschef Miersch sagt, es sei vor allem die Kirche gewesen, die ihn zum Politiker werden ließ. Wie sein Weg verlief und warum er die Kirche heute dennoch für politische Äußerungen zum Lebensschutz kritisiert, verrät er im PRO-Interview. 
Von Anna Lutz

PRO: Herr Miersch, Sie waren lange als Jugendleiter in der Kirche und beim CVJM aktiv. Haben die Arbeit als Fraktionschef und die Leitung einer evangelischen Jugendgruppe etwas miteinander gemeinsam?

Matthias Miersch: Eine ganze Menge. Ich habe als Jugendgruppenleiter Dinge gelernt, die für meine Arbeit bis heute total wichtig sind. Empathie zum Beispiel. Für die Arbeit in der Fraktion gilt: Alleine ist man nichts, wir sind alle auf die Gruppe angewiesen. Ich habe Respekt vor allen Charakteren und deren Sachkenntnissen. Deshalb nehme ich jeden ernst und wahr. Führung bedeutet für mich also nicht, alle tanzen nach meiner Pfeife. 

Das ist vermutlich nicht immer leicht. Etwa wenn Teile Ihrer Fraktion mit einem Russland-Manifest eine Annäherung an Putin fordern…

Im Gegenteil, ich finde es eher erleichternd, dass Menschen in unserer Partei sich im politischen Raum auch mit Haltungen zu Wort melden, wo mancher bezweifelt, dass man das noch sagen darf. Dieses Manifest ist für mich ein Debattenbeitrag, den es selbstverständlich geben darf. Meinungsvielfalt ist bereichernd für eine Fraktion, auch wenn die Debatten teilweise Kräfte zehren. Wichtig ist vor allem, dass sowohl Fraktionsführung als auch Abgeordnete am Ende deutlich machen: Wir sind ein Ganzes. 

Was hat Sie damals zur Kirche gebracht?

Dass ich kirchlich engagiert war, ist nicht selbstverständlich. Mein Vater war Erzieher in einem Jugendheim, meine Mutter Schwesternhelferin in einem von Nonnen geleiteten Krankenhaus. Sie haben dort wohl oft fehlende Barmherzigkeit erlebt bis hin zu Bigotterie. Deswegen haben sie mir und meiner Zwillingsschwester die Kirche bewusst nicht mit auf den Lebensweg gegeben. Dann kam aber die Lebensphase, wo sich unsere Freunde zum Konfirmandenunterricht anmeldeten. Und da haben wir dann mitgemacht. Ich hatte einen tollen Pastor, der den Unterricht gemeinsam mit Ehrenamtlichen, sogenannten Teamern, gestaltet hat. Außerdem war er hochpolitisch. Es ging bei ihm immer sehr stark um Gerechtigkeitsfragen. Und da merkte ich, das ist es. 

Was genau hat Sie überzeugt?

Ich habe die Ungleichverteilung von Wohlstand zwischen Nord- und Südhalbkugel und den Einfluss der Wirtschaft auf den afrikanischen Kontinent damals als schreiende Ungerechtigkeit begriffen und wir haben mit der Kirche dann Aktionen dazu gemacht in unserem Einkaufszentrum. Es ging aber auch um Krieg und Frieden. Immer natürlich in Verbindung mit dem biblischen Kontext, dem christlichen Menschenbild. Damals ist einerseits mein politisches Herz erwacht, aber ich fand auch die Verbindung zum Spirituellen spannend. Die Erkenntnis, dass wir Menschen nicht greifen können, was wir aber spüren: Gott. Eine behütende Kraft. Ich ließ mich dann konfirmieren und wurde selbst Teamer, bin voll eingestiegen in unsere Kirchengemeinde, wo der CVJM Jugendarbeit gemacht hat. Ich habe eine Kinderbibelgruppe geleitet, habe Sommerfreizeiten für Jugendliche organisiert, in der Christmette an Weihnachten mitgewirkt und war in unserer offenen Jugendarbeit aktiv, einer Teestube mittten in einem nicht so guten Viertel meiner Laatzener Heimat. Ich bin dann auch in den Vorstand des CVJM gegangen. Meine Eltern wussten dann immer schon an Weihnachten: Die Kinder sind nur bis 21 Uhr da, dann arbeiten die in der Teestube mit.

Sie beschreiben die Kirche als sehr politischen Ort. Gemessen an Ihren eigenen Überzeugungen: Ist Jesus für Sie ein Linker?

Ja, Jesus ist ein Linker. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen. Jesus hat immer auf die Gemeinschaft gesetzt, auf Solidarität. Und haben Sie mal die Bergpredigt gelesen? Die ist hochpolitisch und heute wäre sie eindeutig links.

Welche Rolle spielen die Fragen von Leben, Tod, Ewigkeit für Ihren Glauben…neben der ganzen Politik? 

Daran arbeite ich noch. Ich bin davon überzeugt, dass es etwas gibt, was wir alle nicht richtig wissen, aber was wir spüren und fühlen können. Als mein Vater starb, war für mich der Glaube, dass nach dem Tod noch etwas kommt, ganz zentral. Wenn es mir schlecht geht, dann weiß ich mich aufgefangen durch Kräfte, die einerseits in mir sind, die ich aber auch zulassen muss. Dazu gehört für mich der Glaube. Ohne diese große Sicherheit könnte ich keine Politik machen. 

„Jesus ist ein Linker. Anders kann ich mir das gar nicht vorstellen.“

Was ist heute übrig geblieben von dieser sehr intensiven Jugendzeit mit Spiritualität und politischer Kirche? 

Letztlich ist meine partei- und kommunalpolitische Aktivität daraus gewachsen. Die Kirche und der CVJM haben mich in die Politik gebracht. Denn irgendwann wollte der Rat der Stadt Laatzen die Zuschüsse für unsere kirchlichen Sommerfreizeiten streichen. Damit war ich natürlich nicht einverstanden. Ich habe mich dann bei der Kommunalwahl für die SPD aufstellen lassen. Mit 23 Jahren wurde ich jüngstes Stadtratsmitglied und habe die Freizeithilfen wieder eingeführt.

Beim diesjährigen Kirchentag sagten Sie: „Kirche darf niemals unpolitisch sein.“ Wenige Monate später, als es um die Nichtwahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin ging, schränkten Sie diese Aussage ein, vor allem in Richtung der katholischen Kirche: „Kirche kann durchaus politisch sein. Sich aber an dieser Hetze zu beteiligen, ist unchristlich.“ Was denn nun, darf Sie sich politisch äußern? Oder nur in bestimmten Fällen oder auf eine bestimmte Art und Weise?

Die Kirche ist politisch, die gesamte Bibel ist hochpolitisch. Und natürlich darf und muss sich Kirche auch einbringen. Bei Brosius-Gersdorf fand ich problematisch, dass die Kirche sich an einer Kampagne beteiligt hat, die das Ziel hatte, gegen diese Frau zu hetzen. Ich habe mir damals die Frage gestellt: Was hätte Jesus getan? Oder anders: Was würde ich mir von einem Bischof wünschen? Und die Antwort ist diese: Ich wünschte mir, dass er dazwischen gegangen wäre. Vielleicht mit der Einschränkung: Ich teile nicht alles, was Frau Brosius-Gersdorf sagt. Aber das rechtfertigt nicht diese Art des Umgangs miteinander. Die christliche Variante wäre gewesen, das Verbindende zu betonen.

Sie haben damals besonders Bezug genommen auf Bischof Gössl, der in einer Predigt sagte, die Ernennung von Brosius-Gersdorf sei ein „innenpolitischer Skandal“ und ihre Haltung zum Abtreibungsrecht sei intolerant und menschenverachtend. Ist das schon Hetze?

Ja. Denn der Ablauf dessen, was er als politischen Skandal bezeichnet hat, die Richterbenennung, ist essenziell ist für das Funktionieren der Demokratie. Frau Brosius-Gersdorf hat an keiner Stelle eine verfassungswidrige Position vertreten. Nach meiner Auffassung ist das, was sie sagt, inzwischen sogar herrschende Meinung. Bischof Gössl hat sich übrigens im Nachhinein für seine Worte entschuldigt und das finde ich auch gut so. 

Konservative, allen voran die CDU, würden das Anstreben eines liberaleren Abtreibungsrechts kaum als herrschende Meinung bezeichnen.

Ja, aber zumindest ist es doch eine legitime Auffassung. Und die Aufstellung als Skandal zu bezeichnen, ist für mich eine deutliche Grenzüberschreitung.

Sie haben Widerspruch bekommen aus der eigenen Partei. Wolfgang Thierse sagte der „Welt“: Man solle sich nicht wundern, dass Katholiken ihre Grundüberzeugung von der Menschenwürde auch des ungeborenen Lebens vertreten. „Das ist nicht Kampagne, sondern hier wird eine Überzeugung vertreten.“

Eine Kampagne war das, was in rechten Netzwerken passiert ist. Und einige Bischöfe und Kardinäle haben da mitgemacht. Das war die Jagd auf eine Frau und da ist ein Damm gebrochen, der uns möglicherweise in der Demokratie und im Parlament noch lange beschäftigen wird.

„Wenn Jens Spahn zum Selfie ansetzt, dann ducke ich mich auch nicht aus dem Bild.“

Sie kritisieren vor allem den Ton der Debatte von rechts. Die CDU-Politikerin Elisabeth Winkelmeier-Becker warf der SPD und anderen ihrerseits unfaire Mittel vor. Es sei „infam“, ihre Haltung zu Menschenwürde und Lebensschutz als ‚rechts‘ zu diffamieren.“ Gilt der Vorwurf, des ungemäßigten Tones also auch für Sie?

Ich diffamiere sie nicht als rechts. Wir haben aber nicht über die Frage von Schwangerschaftsabbrüchen abgestimmt, sondern über eine herausragend qualifizierte Kandidatin für das höchste Richteramt. Problematisch war, dass es einen Vorschlag der SPD für den Richterposten gab, von dem ich erwarte, dass die Union ihn im Vorfeld der Wahl prüft. Wenn die Fraktionsführungen sich dann darauf verständigen, dann muss diese Zusage verlässlich sein. Das diese Wahl scheiterte, hat weitreichende Konsequenzen. Was dieser Vertrauensbruch mit der Koalition gemacht hat, ist nicht zu unterschätzen. Am Ende müssen wir uns zusammenraufen und ich bin zuversichtlich, dass dies gelingt.

Teile der SPD forderten den Rücktritt Ihres CDU-Gegenübers Jens Spahn. Am Ende der parlamentarischen Sommerpause reisten Sie hingegen demonstrativ geeint durch die Ukraine oder zur Koalitionsklausur. Vom harten gegenseitigen Angriff auf Kuschelmodus in wenigen Tagen – wie geht das?

Das hängt auch mit meinem Menschenbild zusammen. Auch jemanden, der politisch eine völlig andere Auffassung hat als ich, sehe ich immer als Menschen, der möglicherweise gleiche Empfindungen hat wie ich. Dieser Person gegenüber trage ich auch eine Verantwortung im Miteinander. Dennoch, der Fall Brosius-Gersdorf war ein krasser Einschnitt für eine frisch gebildete Koalition. Hier ist an elementarer Stelle eine Zusage gebrochen worden. Und das musste ich auch massiv kritisieren.

Es gab viele sehr emotional gemachte Netzvideos von Ihnen von der Koalitionsklausur, die die mutmaßliche Freundschaft der Fraktionschefs betonten …

Sie spielen auf das Selfie bei unserer Fraktionsklausur an? Ich bin nicht der, der da die Kamera hält. Aber wenn Jens Spahn zum Selfie ansetzt, dann ducke ich mich auch nicht aus dem Bild. Ich bin vorsichtig, Politik und Freundschaft zu vermischen. Jens Spahn und ich müssen zusammenarbeiten und das kann erträglich werden, wenn man es sich menschlich auch einfacher macht. 

Dabei könnten Jens Spahn und Sie doch durchaus Freunde sein. Sie sind beide in derselben Lebensphase, sind beide christliche geprägt und haben einige biografische Ähnlichkeiten.

Wir erkennen uns an und haben Respekt füreinander. Das mündet aber für mich nicht darin, jeden zweiten Abend mit ihm Essen zu gehen. Über unseren Glauben haben wir ehrlicherweise noch nie gesprochen. Ich wusste lange Zeit auch gar nicht, dass er etwas mit der Kirche zu tun hat. 

Was haben Sie aus dem Fall Brosius-Gersdorf gelernt?

Ich habe gelernt, dass die Koalition nicht so stabil ist, wie ich gedacht hatte. Und dass ich sehr genau gucken muss, was Zusagen wirklich wert sind.

Das ist eine Kritik am Koalitionspartner. Haben auch Sie persönlich etwas mitgenommen, was Sie künftig anders machen würden?

Ganz ehrlich? Bei der Richterwahl sehe ich bei uns keinen Fehler. 

Herr Miersch, vielen Dank für das Gespräch.

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