„Er war mein geliebter Vater. Seine Taten verurteile ich.“

Martin Bormann junior (1930–2013) war der Sohn von Adolf Hitlers Sekretär Martin Bormann und Patenkind des Führers. Er wurde Priester, Missionar und Religionslehrer. Günther Klempnauer hat ihn getroffen und das Gespräch mit ihm dokumentiert.
Von PRO
Martin Bormann junior

PRO: Herr Bormann, Ihr Vater war nach neuesten historischen Recherchen der mächtigste Parteigenosse in Hitler-Deutschland. Welche Aufgaben hat er wahrgenommen?

Martin Bormann: Als Leiter der Parteikanzlei war mein Vater auch verantwortlich für die Deportation von Juden aus ganz Europa, weil Hitler Europa judenfrei haben wollte. Nach dem Fall von Stalingrad (1943) ging es offensichtlich nicht mehr um den Endsieg, sondern vor allem  um die Vernichtung der Juden. In dieser Phase wurde mein Vater von Adolf Hitler zum „Sekretär des Führers“ ernannt und damit wohl zum mächtigsten Mann mit der ganzen Belastung, Hitler abzuschirmen und seine Politik im Innern durchzusetzen. Alle staatlichen und parteilichen Angelegenheiten musste er im Sinne des Führers allein erledigen. Mit anderen Worten: Wer Hitler – abgesehen von Belangen der deutschen Wehrmacht – sprechen wollte, kam an meinem Vater nicht vorbei. Als seinem „treuesten Parteigenossen“ hat Hitler meinem Vater auch die Vollstreckung  seines privaten Testaments übergeben.

Im letzten Kriegsjahr wurde unter der Bevölkerung der Glaube an den Endsieg immer häufiger zu Grabe getragen. Wie hat sich Ihr Vater in dieser Krisensituation Ihnen, seinem „Herzensjungen“, gegenüber verhalten?

Als ich meinen Vater um Auskunft über die derzeitige militärische Frontsituation bat, schenkte er mir Weihnachten 1944 den ersten Weltempfänger. Nachts hörten wir Schüler und auch Erzieher heimlich die ausländischen Sender ab und waren informiert. Im März 1945 schickte Vater mir aus dem Führerbunker in Berlin per Kurier einen Brief, in dem er schrieb: „Auch ein sterbender Löwe kann noch furchtbare Prankenhiebe austeilen.“

Von den konkreten Inhalten seiner politischen Tätigkeiten haben Sie erst später erfahren. Für Sie war Ihr Vater ein großes Vorbild. Aus welchen familiären Verhältnissen kam er?

Hinter meinem Vater lag eine furchtbare schwere Kindheit. Sein Vater starb, als er gerade drei Jahre alt war. Und sein Stiefvater war ein grausamer Tyrann, der ihn oft verprügelte. Der Freund meines Vaters, der KZ-Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss, litt ebenfalls unter seinem Vater, der ihn unbedingt zu einem katholischen Priester  dressieren wollte. Beide rückten mit fünfzehn Jahren von zu Hause aus, landeten in der rechtsradikalen Szene und gehörten zu der sogenannten „verlorenen Generation“. Sie schlossen sich Hitlers militärischem Freikorps an und machten bald Karriere. Hitler ernannte 1928 meinen Vater zum Schatzmeister der Hilfskasse der NSDAP. Für meinen Vater war Hitler eine Vaterfigur, nach der er sich sehnte. Im darauffolgenden Jahr heiratete mein Vater durch Hitlers Vermittlung, der sein Trauzeuge war. Als ich 1930 geboren wurde, war Hitler mein Taufpate.

Zur Person

Martin Bormann junior wurde 1930 als ältestes von neun Kindern geboren. Seine Kindheit verbrachte er mit seiner Familie auf dem Obersalzberg in unmittelbarer Nähe zu Hitlers Residenz. Nach dem Kriegsende floh er ohne seine Familie und fand Unterschlupf bei einem christlichen Bergbauern. Im Oktober 1947 wurde er enttarnt und ein halbes Jahr vom amerikanischen Geheimdienst CIA verhört. Danach trat er in den Herz-Jesu-Orden ein und studierte an der Päpstlichen Universität in Innsbruck Theologie und Philosophie. Als Ordenspriester war er im Kongo tätig und musste wegen Tropenuntauglichkeit 1967 nach Europa zurückkehren. Nach einem schweren Autounfall lernte er seine spätere Frau als Pflegerin kennen, sie ebenfalls Angehörige eines Ordens. Beide baten um Dispens und heirateten. Bormann arbeitete danach als Lehrer. Ein Missbrauchsvorwurf in seiner Zeit als Priester blieb ungeklärt. Bormann setzte sich für die öffentliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen ein sowie für den Dialog von Täter- und Opferkindern. 2013 starb er.

Wie wirkte „Onkel Adolf“ auf Sie?

Als Kinder wurden meine neun Geschwister und ich viel mehr von der Haltung unserer Eltern zu diesem Mann geprägt. Am Familientisch wurde relativ wenig über Hitler gesprochen. Wenn der „Führer“ auf dem Obersalzberg war, wo wir nebeneinander wohnten, verbrachte mein Vater den ganzen Tag mit ihm und nahm auch die Mahlzeiten mit ihm auf dem Berghof ein. Wenn mein Patenonkel Adolf Hitler uns besuchte, schenkte er mir schon mal einen Karton mit Plastelinsoldaten und ein Modell von der 8,8-Flak (eine Flugabwehrkanone; d. Red.). Bei solchen familiären Begegnungen unterhielten sich in der Regel nur meine Eltern mit ihm.

Auch bei üblichen Fototerminen am 1. Januar und am 20. April, Hitlers Geburtstag, wo er sich für die Presse mit uns Kindern ablichten ließ, gab es kaum persönliche Kontakte. Emotionen konnte er nicht zeigen. Hitlers Geliebte, Eva Braun, fühlte sich nur als Objekt. Sonst hätte sie nicht zwei Selbstmordversuche verübt. Standesgemäß wurde ich auf Hitlers Elite-Internat erzogen. Mein Vater ermahnte meine Lehrer: „Macht mir aus dem Buben einen anständigen Nationalsozialisten.“ Sein „Herzensjunge“ sollte auch dem christlichen Glauben entzogen werden; denn der Nationalsozialismus sei mit dem Christentum unvereinbar.

Auf dem Gelände der Reichsschule beobachteten wir eine Zeitlang einen Bautrupp aus dem Konzentrationslager Dachau. Die SS-Wachposten verboten uns jeglichen Kontakt. Uns wurde gesagt, Dachau sei ein Umerziehungslager für Leute, die auf die richtige Spur gesetzt werden sollten. Auch zu Hause wurde über die verbrecherischen Taten der Nazis nie gesprochen. Meine Mutter hat kurz vor ihrem Tod gesagt: „Die schwerste Lektion, die ich lernen musste, war die Erkenntnis, dass nicht jeder gute Deutsche Nationalsozialist und nicht jeder Nationalsozialist ein guter Deutscher war. Aber unser Vater ist immer sauber geblieben.“

Günther Klempnauer bei einem Interview mit Martin Bormann junior

Ende April 1945 wurde die Reichsschule Feldafling aufgelöst. Zusammen mit hohen Offizieren flohen Sie unter falschem Namen nach Österreich. In der Nacht vom 30. April zum 1. Mai erreichte Sie der Funkspruch, der Führer sei „im Kreis seiner Getreuen“ in Berlin gefallen. Was löste diese Nachricht bei Ihnen aus?

Wir waren im letzten Quartier der Parteikanzlei in einem Gasthof untergebracht. Es brach eine Panik aus. Acht Hitlergetreue verließen nacheinander das Lokal und erschossen sich draußen. Ich fragte mich, ob mein Vater im Führerhauptquartier in Berlin noch am Leben sei. (Nach dem Selbstmord Hitlers floh Martin Bormann aus dem Bunker und vergiftete sich mit einer Zyankalikapsel. Er galt lange als verschollen, seine Leiche wurde erst 1972 gefunden, seine Identität später durch einen DNA-Test bestätigt; d. Red.). Als Fünfzehnjähriger kam ich bei einem Bauern in der Ramsau unter.

Anfang 1946 las ich in den Salzburger Nachrichten, dass mein Vater im Nürnberger Prozess gegen die Naziverbrechen in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Ich war völlig verwirrt, mutter- und vaterlos. Zufällig las ich in einem christlichen Traktat: „Trotz aller Schuld und Verurteilung vor menschlichen Tribunalen gibt es Rettung vor dem Verlorensein für jeden, der seine Schuld eingesteht und sich Gottes Barmherzigkeit überantwortet …“ . In meiner Verwirrung klopfte ich nach einem dreistündigen Fußmarsch an die Klosterpforte von Mariakirchtal. Hier fand ich eine geistliche Heimat und wollte Christ werden. Jeden Sonntag unterrichtete mich Pater Regens sechs Stunden lang, bis ich am 4. Mai 1947 getauft wurde.

„Mein Heilungsprozess wäre nicht so günstig verlaufen, wenn ich kein persönliches Glaubensverhältnis zu Christus gewonnen hätte.“

Sie studierten später an der Päpstlichen Universität in Innsbruck Theologie und Philosophie. Als Religionslehrer an der Berufsschule arbeiteten Sie auch mit ihren Schülern die Zeit des Nationalsozialismus auf. Sie fühlten sich besonders der Täter-Opferkinder-Problematik verpflichtet. Wie sind Sie dazu gekommen?

Der israelische Psychologie-Professor Dr. Bar-On musste in Israel und den USA feststellen, dass Kinder der Überlebenden des Holocaust an der Mauer des Schweigens ihrer Eltern krank werden können. Zugleich fragte er sich: Haben Kinder von Tätern auch solche Probleme mit ihren Eltern wie Opferkinder? Deshalb fasste er nach langem Zögern Mut, Kontakt mit mir aufzunehmen. Wenn Täter- und Opferkinder zusammen kommen, erzählt zunächst jeder seine Leidensgeschichte. Und dann heulen sie sich aus – jeder hört dem andern zu. Daraus erwächst Betroffenheit und Mitgefühl, das unter die Haut geht. Sobald wir das eigene Leid ausgesprochen, bewältigt und auch das Leid der andern mitgetragen haben, können wir Versöhnungs- und Friedensgespräche mit andern Leidtragenden führen.

Meinen Eltern kann ich nicht davonlaufen, und man wird sie nie los. Persönlich erlebte ich Martin Bormann als strengen, aber geliebten Vater, seine Taten verurteile ich. In der Moraltheologie habe ich gelernt, wie ein Mensch zu beurteilen ist, der auf Abwege geraten ist. Eine Tat sollte aus dem Gewissenstand des Täters zum Zeitpunkt der Tat beurteilt werden. Nur Gott kann in dieses Gewissen hineinschauen. Ihm allein steht dieses Urteil zu. Mein Heilungsprozess wäre nicht so günstig verlaufen, wenn ich kein persönliches Glaubensverhältnis zu Christus gewonnen hätte. Meine Hinwendung zu Christus bedeutet für mich auch die Hinwendung zum Menschen im Geist der Brüderlichkeit. Mein Dankgebet lautet: „Ich will dich rühmen, Herr; denn du hast mich aus der Tiefe der Gottverlorenheit gezogen.“ (Psalm 30,2a).

Stellvertretend für andere hochrangige Todeskandidaten des Nationalsozialismus sagte Reichsminister Hans Frank in seinem Schlusswort vor seiner Hinrichtung: „Wir haben am Anfang unseres Weges nicht geahnt, dass die Abwendung von Gott solche verderblichen, tödlichen Folgen haben könnte. Ich bitte unser Volk, dass es umkehrt; denn Hitlers Weg war der vermessene Weg ohne Gott und der Abwendung von Christus und letzten Endes der Weg der politischen Torheit, der Weg des Verderbens.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 3/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können das Heft hier kostenlos bestellen oder online lesen.

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