Gefangen im Netz der Gereiztheit

Falschmeldungen, Gerüchte – und dann die große Empörung: Wie das Internet die Gesellschaft in rauschhafte Hysterie und Nervosität versetzt, beschreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch „Die große Gereiztheit“. Es ist eine Warnung vor dem unübersichtlichen Geschäft mit der Desinformation. Eine Rezension von Anne Klotz
Von PRO
Gerüchte, Skandale und Spektakel in Echtzeit – die vernetzte Welt existiert in einer Stimmung der Nervosität und Gereiztheit. Bernhard Pörksen analysiert in einem Buch das digitale Zeitalter.

Das Internet ist ein unmittelbares Medium. Direkt, schnell und ungefiltert prallen Neuigkeiten und Nachrichten aus den entlegensten Dörfern der Welt auf den Nutzer ein. Es ist ebenso ein Ort des Informationsreichtums wie auch der permanenten Verstörung, so beschreibt Pörksen das Internet. Diese Verstörung erklärt der Tübinger Medienwissenschaftler mit einer „plötzlichen Sichtbarkeit des Schreckens“, also einer Vielzahl von schlimmen Ereignissen, die in Windeseile auf unsere Lebenswelt hereinprasseln. Schnell und barrierefrei lassen sich Vorfälle über Soziale Medien verbreiten, die eine „Stimmung der großen Gereiztheit“ forcierten. Anhand zahlreicher Beispiele, die über die weltweite Vernetzung eine eigene Dynamik entwickelt haben, erstellt Pörksen eine Chronik der vergangenen Jahre.

12. Januar 2016: In Berlin wird die 13-jährige Elisabeth als vermisst gemeldet. Die Feuerwehr in Berlin postet auf ihrer Facebook-Seite die bereits gesicherten, aber wenigen Fakten, versieht die Nachricht mit einem Foto des Mädchens. Die Meldung verbreitet sich rasch, zahlreiche Nutzer teilen die Meldung, und weil die Eltern ein deutsch-russisches Paar sind, schalten sich sogar Stimmen aus Russland ein. Irgendwann erscheint aber nicht mehr die ursprüngliche Version der Feuerwehr-Meldung. Eine Variante ist im Umlauf – versehen mit den Worten „vergewaltigt, festgehalten, gedemütigt“. Politisch rechts ausgerichtete Webseiten bringen daraufhin das Wort „Flüchtling“ in die Diskussion ein. Der emotionale Aufschrei ist groß –so groß, dass Dementis der Polizei über die falschen Informationen kein Gehör mehr finden.

Von der Medien- zur Empörungsdemokratie

Das ist eines der unzähligen Beispiele, anhand derer Pörksen zeigt, dass wir uns derzeit in einem „kommunikativen Klimawandel“ befinden. Das Geschehen auf dieser Welt präsentiere sich heute nämlich „als eine Hitliste des Merkwürdigen, Bizarren, Aufregenden“. Emotionen spielen mehr denn je eine Rolle, werden wichtiger als die eigentliche Nachricht.

Dieser Wandel beeinflusse die Demokratie, wie der Tübinger Forscher in dem Buch schreibt. Sprach man lange Zeit von einer Mediendemokratie, entwickele sie sich derzeit zu einer Empörungsdemokratie. Das führe dazu, dass Journalisten und etablierte Medien „in Zeiten einer spürbaren Neuordnung der Kommunikations- und Machtverhältnisse an gesellschaftlicher Akzeptanz und Grundvertrauen“ einbüßen. Weil jeder jederzeit Nachrichten senden kann, wird auch die Funktion der sogenannten journalistischen Gatekeeper (Schleusenwärter) erheblich eingeschränkt. Aus einem schier endlosen Pool aus Meldungen wählen diese die wichtigen und relevanten Nachrichten aus und prüfen die Fakten, bevor sie veröffentlicht werden. Diese Prinzipien werden dort außer Kraft gesetzt, wo jeder alles veröffentlichen darf.

Die Anklagebank des Netzes

Das Netz hält Gericht. Das macht es auch für politische Amtsträger schwierig. Kein Fehler und kein Moment der Schwäche bleiben von der Netzgemeinde unentdeckt. Sie bewertet und verurteilt. Die Gerüchteküche brodelte 2016, als Hillary Clinton im Rennen um das Präsidentenamt beim Verlassen einer Veranstaltung an Ground Zero einen Schwächeanfall erlitt. Ein einfaches Handyvideo von 20 Sekunden, das ein Amateurfotograf von dem Vorfall gemacht hatte, sorgte innerhalb kürzester Zeit für globale Aufregung. Er hatte es auf Facebook gepostet. Gegner wie Befürworter Clintons reagierten darauf. Wilde Interpretationen, Spekulationen und politische Prognosen wurden angestellt. Das Video führte zu solch einer medialen Aufmerksamkeit, dass ein Sprecher Clintons schließlich Stellung dazu nahm und die vorangegangene Lungenentzündung der Politikerin öffentlich machte.

Pörksen hat für sein Buch einen sehr prominenten Titel gewählt: „Die große Gereiztheit“. Anfang des 20. Jahrhunderts widmete bereits Thomas Mann im „Zauberberg“ ein Kapitel der „großen Gereiztheit“. Auch er beschreibt – lediglich für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg – eine emotionsgeladene, kränkelnde Gesellschaft. Während Mann die Wut, Unsicherheit und Aufgewühltheit inmitten eines Schweizer Lungensanatoriums platziert, wo die Patienten scheinbar nicht nur an der Lunge erkrankt sind, sondern sich auch pathologischer Stumpfsinn in deren Köpfen breit macht, beschreibt Pörksen das Gereiztheit-Syndrom der heutigen Zeit.

Medienmündigkeit durch Bildung

Pörksens Buch ist eine traurige und handfeste Bestandsaufnahme der emotionalen Beschaffenheit unserer Gesellschaft. Der Rückzug aus der digitalen Welt sei fast nicht mehr möglich, daher liefert Pörksen im letzten Kapitel des Buches einen Lösungsvorschlag: Normen und Prinzipien eines „ideal gedachten Journalismus“ sollten Teil der Allgemeinbildung werden. Erst das könne zu einem kritischen Hinterfragen von Kommunikation führen. Es ist – und bleibt vielleicht – die „Utopie einer redaktionellen Gesellschaft“.

Bernhard Pörksen: „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“, Hanser, 256 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 9783446258440 Foto: Carl Hanser Verlag
Bernhard Pörksen: „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“, Hanser, 256 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 9783446258440

Von: Anne Klotz

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