PRO: Frau Georgi, können Christen gut streiten?
Natalie Georgi: Ich wünschte, wir könnten es, vor allem aber wünschte ich mir, wir könnten uns gut versöhnen. Insgesamt habe ich den Eindruck, die Diskussionskultur der Christinnen und Christen ist noch ausbaufähig. Denn in einer guten Art und Weise zu streiten und sich trotzdem wertzuschätzen im Glauben, gehört zum Christenleben dazu.
Ihr Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) besteht aus drei Gruppen: Baptisten, Brüdergemeinden und Elimgemeinden, also Pfingstlern. Hat man sich da nicht ständig in der Wolle?
Meistens nicht, wir sind ein vielfältiger Bund, in dem wir gemeinsam Glauben leben und Reich Gottes mitgestalten. Es gibt unterschiedliche Strömungen. Jede Ortsgemeinde ist eigenständig und hat ihre eigene Art, wie sie Gemeinde lebt, theologisch und auch spirituell. Die Unterschiedlichkeit kann eine Herausforderung sein, aber sie ist eben auch eine Bereicherung. Ich würde sogar sagen: Wir brauchen einander in der Unterschiedlichkeit. Ich bin überzeugt, dass wir uns vom Anderen und Ungewohnten inspirieren lassen und auch etwas lernen können. Wenn wir im Dialog bleiben, schaffen wir es auch, eine wertschätzende Diskussionskultur zu prägen.
Worüber lohnt es sich, zu streiten? Und worüber nicht?
Da gibt es unter Christen durchaus unterschiedliche Meinungen. Auch in unserem Bund gewichten manche Gemeinden Fragen theologisch anders als andere. Der Glaube an Jesus Christus ist unsere Mitte. Darin sind wir uns alle einig. Als Präsidium und Bundesgeschäftsführung stärken wir diese Mitte unter uns und arbeiten daran, das Verbindende mehr zu betonen als das Trennende.
Das allein hilft vermutlich wenig, wenn man sich über die Frage der Jungfrauengeburt oder der Bedeutung des Kreuzestodes nicht einig ist …
In den Kernfragen sind wir uns in unserem Bund einig. Wir hatten in den letzten Jahren unter anderem einen „Dialog zum Kreuz“ und haben im Dialog gemerkt, dass ein hohes Maß an Einigkeit herrscht. Trotzdem gibt es natürlich auch theologische Einzelfragen, über die diskutiert wird und bei denen das jeweilige Bibelverständnis eine Rolle spielt. Und da gibt es auch bei uns im Bund eine Bandbreite. Manchmal hilft das Gespräch über das Bibelverständnis, um über theologische Einzelfragen gut in den Dialog zu kommen und gemeinsam um Erkenntnis zu ringen.
Gelingt das?
Ja, oft sehr gut, wie beispielsweise der „Dialog zum Kreuz“ zeigt. Es ist natürlich schwierig, alle an einen Tisch zu bekommen. Aber wir sind auf dem Weg und stellen uns immer wieder auf unseren gemeinsamen Nenner. Wichtig ist doch vor allem: Glaube ich dem anderen seinen Glauben? Können wir noch gemeinsam Abendmahl feiern? Gemeinsam Gott loben im Gottesdienst? Wenn wir das mit Ja beantworten können, dann sind die Unterschiede in der Theologie mit gegenseitiger Wertschätzung auszuhalten. In dem Wissen, dass wir alle versuchen, Gott besser zu verstehen, und dass unsere Erkenntnis immer nur Stückwerk ist.
„Wenn jeder nur mit den Menschen der eigenen Überzeugung Gemeinde sein möchte, dann gibt es am Ende viele kleine Einzelteile, aber nichts großes Ganzes mehr.“
Bei allem Bemühen: Manche Streits werden auch öffentlich ausgetragen, das erleben wir im Falle Ihres Bundes gerade. Ein konservativerer Teil, zusammengefasst als „ChristusForum“, strebt Eigenständigkeit an.
Das „ChristusForum“ ist der Zusammenschluss der Brüdergemeinden im BEFG. Es ist also eine konfessionelle Gruppe innerhalb unseres Bundes, die ihre Eigenständigkeit anstrebt. Auf beiden Seiten gibt es Verletzungen, aber ich sehe es nicht als öffentlich ausgetragenen Streit. Schon Paulus hat dafür geworben, dass die Christenheit eins bleibt und sich nicht in Parteien spaltet. Das wäre auch in dieser Situation mein Wunsch: dass wir zusammenbleiben.
Ähnliches geschah 2016 in einem anderen Kontext: Ausgelöst durch eine Kontroverse über Themen wie den Umgang mit Homosexualität gründete sich die Bewegung „Bibel und Bekenntnis“ aus der Evangelischen Allianz in Deutschland heraus. Woher kommen diese Spaltungen?
Wir leben hier in sehr unsicheren Zeiten mit vielen Konflikten, die Angst vor der Zukunft ist groß. In Zeiten mit viel Unsicherheit sehnen sich die Menschen nach Klarheit, manchmal auch nach einfachen Antworten für ihr Leben. Die eher konservativen Strömungen bieten Antworten an, die manchen Sicherheit geben. Für sie wird häufig die Weite der liberal Denkenden als Bedrohung wahrgenommen und nicht als Bereicherung.
Auf der anderen Seite haben auch manchmal die Liberaleren zu wenig Geduld, in Diskussionen zu treten, und sagen stattdessen: Wir machen unser eigenes Ding. Diese Entwicklungen sehen wir überall in der Gesellschaft und auch in den Kirchen. Ich würde sagen, dass wir in unserem Bund Menschen an beiden Rändern verlieren. Ich möchte versuchen, dass alle ihre Heimat im Bund behalten und die Unterschiedlichkeit als Segen gesehen wird. Diese Schubladen – konservativ, liberal, progressiv – helfen am Ende nicht wirklich und bilden immer nur einen Teil von Kirche und auch der Wahrheit Gottes ab.
Wenn jeder nur mit den Menschen der eigenen Überzeugung Gemeinde sein möchte, dann werden Kirchen kleiner und am Ende gibt es viele kleine Einzelteile, aber nichts großes Ganzes mehr. Hinzu kommt: Ich glaube, dass jeder in jeder Gemeinde Punkte findet, die ihm am Ende nicht gefallen. Wir kennen vielleicht das Phänomen des „Gemeindehoppings“. Das halte ich nicht für gesund, denn die Frage ist doch: Wo sendet Gott mich hin und wo soll ich dienen? Die perfekte Gemeinde und die perfekte Kirche gibt es nicht.
Der BEFG
Der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland besteht aus Baptistengemeinden, Gemeinden der Brüderbewegung und Elim-Gemeinden mit pfingst-charismatischem Hintergrund. Die Gruppe der Brüdergemeinden, zusammengefasst als das „ChristusForum“, strebt derzeit wegen theologischer Differenzen Eigenständigkeit an. Die Gruppe begründet dies mit unterschiedlichen Sichtweisen auf etwa Kreuzestheologie und sexualethische Themen, aber auch mit bereits bestehenden Parallelstrukturen. Der BEFG vertritt 72.000 Christen in 767 Gemeinden und wurde jüngst erstmals vom Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden in der Mitgliederzahl überholt.
Der Geschäftsführer des „ChristusForums“, Alexander Rockstroh, sagte einmal gegenüber „idea“: „Die evangelikale Welt wackelt und sortiert sich neu.“ Beobachten Sie das auch und wohin geht die Reise?
Vielfältiger wird sie. Ob sie wackelt? So dramatisch sehe ich das nicht. Auch wenn es, bedingt durch die Coronazeit und durch Social Media, mehr offen ausgetragene Konflikte gibt, etwa darüber, was nun ethisch betrachtet christlich ist und was nicht. Mir fällt immer wieder auf, wie sehr Menschen in der Gemeinde von dem geprägt werden, was der Algorithmus ihnen zuspielt. Es gibt weniger Raum für Reflexion und mehr Konfrontation. Und auch der Ton hat sich geändert. Es gibt mehr Verurteilung, viel Bewertung anderer Glaubenseinstellungen. Ich wünsche mir, dass wir gläubigen Menschen stattdessen mehr danach fragten, wie der andere etwas meint und was hinter seiner Haltung steckt. Christen sollten sich nicht untereinander bekämpfen. Für das Reich Gottes gewinnt man damit nichts, es ist auch ein schlechtes Zeichen nach außen.
Andere würden sagen, es ist wichtig, Glauben zu bekennen und klare moralische Grenzen zu ziehen.
Grenzen ziehen muss jeder für sich selbst, weil wir uns selbst verantworten müssen unserem Gewissen und Gott gegenüber. Ich persönlich habe mich selten angegriffen gefühlt von anderen Meinungen, sondern habe sie als Chance gesehen, Neues zu lernen oder meinen eigenen Glauben nochmal zu hinterfragen und zu reflektieren. Mir steht es nicht zu, andere Haltungen zu verurteilen. Sondern ich erwarte und hoffe, dass Gott sich den Menschen offenbart und auch Erkenntnisse schenkt.
Sie sind im Mai zur ersten Präsidentin Ihres Bundes gewählt worden. Danach sagten Sie in einem Interview: „Es gibt natürlich Gemeinden und Einzelpersonen, die es sehr schwierig finden, dass nun eine Frau Präsidentin geworden ist.“ Was schlägt Ihnen da entgegen?
Tatsächlich hatte ich mit mehr Widerspruch gerechnet. Ich bin ja nicht nur eine Frau, sondern mit 36 Jahren auch relativ jung. Ein sehr lieber Kollege schrieb mir nach meiner Wahl: „Mein erster Gedanke war, oh eine Frau, kann die das? Mein zweiter Gedanke war, oh sie ist ja ganz schön jung!“ Er hat sich dann für beides entschuldigt. Wenn ich offene Kritik bekomme, dann bisher aus eher fundamentalistischen Richtungen außerhalb unseres Bundes, von Leuten, die sagen, dass Frauen nicht predigen oder leiten sollten.
Sie sagten nach der Wahl, dass Sie überrascht gewesen seien, dass man sich für Sie entschieden hat.
Ja, ich hatte lange den Gedanken, unser Bund sei noch nicht soweit. Deshalb habe ich sehr lange mit mir gerungen, ob ich mir dieses Amt vorstellen kann. Ich wollte nicht gerne die erste Frau sein. Das bedeutet dann einen gewissen Druck, denn wenn ich Fehler mache, dann sagen manche: Frauen können es nicht. Jetzt merke ich, dass der Mut sich schon gelohnt hat, denn Frauen fühlen sich durch mich repräsentiert und als gleichberechtigter Teil unseres Bundes. Meine Wahl ist für sie und andere ein Hoffnungszeichen für eine gleichberechtigte Kirche.
Sie wurden mit 89 Prozent Zustimmung gewählt, knapp war es nicht.
Das habe ich nicht erwartet. Ich denke, das passt aber zur Aufbruchstimmung, die wir im Erneuerungsprozess in unserem Bund haben. Ich und meine Wahl sind Teil des Neuen.
Ihr Bund hat derzeit knapp 72.000 Mitglieder, 1,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Sie sind erstmals vom Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) in der Mitgliederzahl überholt worden. Der Schwund ist gering, aber stetig. Was tun Sie dagegen?
Wir möchten in Zukunft verstärkt in missionarische Gemeindeentwicklung und die junge Gemeinde investieren. Deshalb haben wir eine umfassende Umstrukturierung beschlossen, durch die die Gemeinden dabei unterstützt werden sollen, sich selbst zu entwickeln und ihr Profil zu entdecken und zu schärfen. Die Gemeinden werden in den jeweiligen 25 neuen Regionen durch Hauptamtliche unterstützt. Wir sind eine Ehrenamtskirche und versuchen, eine Struktur zu schaffen, in der sich Ehrenamtliche gerne engagieren und Lust haben, inhaltlich mitzugestalten. Es wird zum Beispiel Jugendparlamente geben, in denen junge Menschen sich einbringen können.
„In einer guten Art und Weise zu streiten und sich trotzdem wertzuschätzen im Glauben, gehört zum Christenleben dazu.“
Wie bekommt man denn junge Menschen in die Kirche?
Beteiligung ist ein wichtiger Punkt. Außerdem muss Glaube als ein Mehrwert wahrgenommen werden. Er muss Spaß machen, durch Freizeiten, Gemeinschaft, geteiltes Leben. Außerdem soll Gemeinde als ein sicherer Raum erlebt werden. Auch deshalb investieren wir nochmal mehr in unser Präventionskonzept „Sichere Gemeinde“. Gewalt in allen Formen und in jedem Alter soll bei uns verhindert werden – und aufgearbeitet, wo sie doch geschehen ist.
Müssten die Freikirchen und vielleicht sogar die Volkskirchen nicht auch viel mehr zusammenarbeiten?
Ja, wir sollten Synergie-Effekte stärker nutzen. Wir wollen künftig mit anderen theologischen Hochschulen zusammenarbeiten, gerne auch mit den Institutionen der Landeskirchen. Da ist in den letzten Jahren auch schon ganz viel passiert. Die Vereinigung Evangelischer Freikirchen befindet sich nun in einer Predigtgemeinschaft mit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wir als Bund haben eine „Kirchengemeinschaft auf dem Weg“ mit der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands. Und wir sind seit diesem Jahr Vollmitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen. Das ist ein Zeichen: Wir bringen uns ein in den christlichen Diskurs und begegnen einander auf Augenhöhe.
Sie sind nun seit einem halben Jahr im Amt. Was hat Sie positiv überrascht?
Ich war noch nie so dankbar und stolz auf die vielen ehrenamtlich und hauptamtlich Mitarbeitenden, die unseren Bund mit viel Herzblut und Engagement mitgestalten. Mit ihnen gemeinsam unterwegs zu sein, ist ein großes Privileg und ein Segen. Obwohl ich vorher schon Teil des Präsidiums war, lerne ich ständig Neues. Positiv überrascht hat mich der spürbare Rückenwind. Manche sagen mir, sie beten täglich für mich und meinen Dienst. Es ist schön, sich so getragen zu wissen. Aber das Allerschönste ist, dass ich dieses Amt als Berufung wahrnehme. Dieses Wissen lässt mich entspannt sein bei all den großen Herausforderungen, die in unserer Welt und in der Christenheit gerade da sind.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 6/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Sie können die Ausgabe hier bestellen.