In Deutschland finde ein „Kampf um die Leitkultur“ statt, stellt die Titelgeschichte des aktuellen Spiegel „Krach im Kiez“ fest. Der Streit um religiöse Symbole wie Kreuz, Kopftuch und Kippa seien ein Zeichen dafür, dass Deutschland auf der Suche nach einer Identität ist. Vielen Deutschen falle es mittlerweile schwer, die Identität des Landes in Worte zu fassen. Klar sei vielen, dass die Werte des Grundgesetzes die Menschen in diesem Land einten. Auch die Erinnerkungskultur an die Verbrechen des Nationalsozialismus sei für viele ein klarer Teil der deutschen Identität. Doch genau hier fange das Ringen um diese Identität schon an. „Kann man von Einwanderern aus fremden Ländern verlangen, dass sie sich auch dieses Stück deutscher Leitkultur zu eigen machen?“, fragen die Autoren. Für die meisten der knapp fünf Millionen Muslime in Deutschland sei der Holocaust die Taten der anderen.
Anlass des Artikels ist der Angriff auf zwei Kippa-tragende Männer in Berlin vor knapp zwei Wochen. Dass es für Juden, die deutlich als solche erkennbar seien, auf den Straßen von Berlin offensichtlich gefährlich sei, sei „ein Stich ins Herz einer aufgeklärten, modernen, liberalen Nation“. Ebenso, dass der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, davor warnte, mit Kippa auf die Straße zu gehen. Ein Rückschlag sei es außerdem, weil der Angreifer in Berlin ein junger Mann aus Syrien gewesen sei, der im Jahr 2015 während der Flüchtlingskrise nach Deutschland kam. Gerade die Aufnahme der Flüchtlinge habe für eine tolerante und offene Gesellschaft in Deutschland stehen sollen. Dazu komme, dass sich Fälle von Antisemitismus in den vergangenen Wochen gehäuft hätten. Sei es, dass an Berliner Schulen jüdische Schüler gemobbt wurde. Oder sei es, dass es beim Musikpreis Echo deswegen zu einem Eklat gekommen sei, weil die Rapper Kollegah und Farid Bang ausgezeichnet wurden, obwohl sie mit antisemitischen Texten provoziert hatten.
Um dagegen zu halten und die „christlich-abendländische Kultur“ zu demonstrieren, sollten in Bayern in öffentlichen Gebäuden nun Kreuze hängen. Das sei der „Vergewisserungswunsch der Menschen nach ihrer Identität“, zitiert der Spiegel den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Doch sei diese Symbolik problematisch, weil man sich damit bei der „äußersten Rechten“ bediene. Denn bei ihrem „Kampf ums Abendland“ würden besonders auch „die Insignien und Bräuche der christlichen Kultur“ eingesetzt. Doch wer von einer „christlich-jüdischen Kultur“ spreche, der könne den Antisemitismus und die Morde an den Juden während des Nationalsozialismus nicht ausschließen. Spätestens seit Auschwitz verbiete es sich, „das Judentum aus der europäischen Zivilisationsgeschichte auszuschließen“.
Freiheitlicher Mainstream infrage gestellt
Kippa, Kreuz und Kopftuch seien die Symbole eines Kulturkampfes um die Identität einer Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert habe. Deutschland sei heute multikulturell. Das sei jedoch nicht gleichbedeutend mit einem „Paradies, über dem der Regenbogen leuchtet“. Deutschland sei ein Land, in dem die Konflikte um die nationale Identität auch in der Musik ausgetragen würde, siehe die Echo-Verleihung. Es sei ein Land, „in das auch die Konflikte zwischen Juden und Muslimen gehören, importierte Konflikte – aus Nahost“.
„Der grüne liberale, freiheitliche und kulturell dominierende Mainstream“ sehe sich infrage gestellt. Unter anderem „von Politikern, die eine Rückkehr zu christlichen Werten fordern. Von den Folgen muslimischer Einwanderung, die die Integrationskräfte dieser Gesellschaft womöglich überfordern. Von den Populisten der AfD, die am liebsten die zwölf Jahre Terrorherrschaft vergessen würden.“
Kopftuch, Kreuz und Kippa müssten überall frei gezeigt werden dürfen, schlussfolgert der Spiegel. „Sie sind Symbole für unsere freiheitliche Demokratie.“
Von: Swanhild Zacharias