Meinung

Judäisches „Ocean‘s Eleven“ mit Perücken

Erlöser? Sohn Gottes? Anders als es Christen glauben, war Jesus in der Darstellung der ZDF-Dokumentation „INRI“ ein etwas erfolgloser, wütender Revoluzzer, dem es nicht gelang, die Aufmerksamkeit der Jerusalemer Bürger auf sich zu lenken.
Von Jörn Schumacher
ZDF-Doku INRI

„Die Menschen begeistern und die Oberen provozieren!“ Das ist der Plan der Jünger. Und Jesus nickt dazu: „So ist es.“ In der Dokumentation „INRI – Warum musste Jesus sterben?“, die das ZDF (glücklicherweise sehr spät) am Karfreitag ausstrahlt, wirkt Jesus mit seinen weit aufgerissenen Augen, die ins Leere starren, ein wenig fanatisch. Und wenn er dann auch noch mit zusammengebissenen Zähnen hinzufügt: „Nicht ein Stein wird auf dem anderen bleiben! Kein Gebäude, das nicht zerbrochen wird“, klingt das so gar nicht nach dem souveränen Sohn Gottes, der der Menschheit eine wichtige Botschaft hinterlassen will. Sondern nach einem Attentäter. Um gegenüber seinen Jüngern unmissverständlich zu sein, fügt er etwas hinzu, das wie der Aufruf zu Gewalt interpretiert werden kann und hier wohl auch soll: „Zögert nicht, Freunde! Denn die Zeit ist nah.“

Der Jünger Judas zeichnet dann mit einem Stock den Plan in den Sand, wie die judäische Version von „Ocean‘s Eleven“ am besten nach Jerusalem eindringen kann – ein bisschen wie bei einer Bande Krimineller, die einen Einbruch in die Bank plant. „Hier sind wir“ – ein Tippen mit dem Stock im Sand – „Vom Garten aus führt ein kleiner Weg.“ (Geheimtipp!) „Menschen werden rechts und links von uns warten!“ (Mögliche Helfershelfer?) „Hier ist das große Tor!“ Ein Tippen auf eine Linie im Sand. „… zum Tempel hin.“ Es fehlen eigentlich nur noch der Uhrenvergleich und der Hinweis auf die Wachen und die Uhrzeiten, wann diese für gewöhnlich Pause machen.

Das ZDF spricht in seiner Ankündigung von „INRI“ mal von einer „szenischen Dokumentation“, mal von einer „Erzählung“. Die biblische Geschichte der Evangelien selbst wird als „Drama“ bezeichnet, so als habe ein Schiller oder Goethe Weltliteratur erschaffen wollen. „Die Räuber“ hätte diese Inszenierung auch heißen können – leider hinkt sie qualitativ aber so manchem Theaterstück hinterher. Natürlich dürfen Schauspieler auch Perücken tragen. Man sollte es als Zuschauer aber nicht sehen können. Erst recht nicht bei der Hauptperson.

Die Schauspieler müssen in öffentlich-rechtlichen Produktionen auch nicht zur Top-Liga gehören, auffällig wird es nur, wenn man dann zwischen sie einen guten Schauspieler platziert: Ein Arnd Klawitter wird an die Nebenrolle eines namenlosen Leviten verschwendet und macht die Mittelmäßigkeit aller anderen Darsteller damit nur noch deutlicher.

Wo Jesus gekreuzigt wurde

Theologisch ist die Methode einfach: Zunächst alles in Zweifel ziehen, was die vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes über die letzten Tage Jesu geschrieben haben. Dann eigene Spekulationen hinzufügen. Erstere seien ohne „historisch sicherem Grund“, wie betont wird. Die eigenen Spekulationen zwar auch nicht. Aber: niemand weiß am Ende irgendetwas Sicheres.

Einen Konsens gibt es immerhin unter den Experten, die am obligatorischen Schreibtisch mit schwarzer Tischlampe sitzen müssen wie Ermittler in einem Kriminalfall: Einen jüdischen Wanderprediger namens Jesus muss es vor etwa 2.000 Jahren in der Region wohl gegeben haben. Immerhin. Aber muss man wirklich so etwas ertragen, dass etwa die Sprecherin von einem Tal namens „Golgatal“ spricht, über dem Jesus angeblich gekreuzigt wurde?

Der Archäologe Dieter Vieweger stellt zunächst klar, dass „wir Historiker“ als „gesichert historisch“ alles das bezeichnen, „was von zwei ganz unabhängigen Quellen behauptet oder ausgesagt wird“. Nur um dann gleich danach sofort die Idee zu verwerfen, diese Regel könne man auf die vier Evangelien anwenden. Die Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas nämlich seien 70 n. Chr. „nachgeschrieben“ worden. Was heißt das? Das Johannes-Evangelium sei etwa um 110 n. Chr. „nachgeschrieben“ worden. Alle vier hätten Jesus also nicht persönlich getroffen. Und wie jeder Historiker weiß, kann man bei der gesamten Weltgeschichte nur jenen Berichten Glauben schenken, bei denen der Autor die dargestellten Personen selbst getroffen hat!

Jesus war wohl ein jüdischer Reformer, stellt Vieweger klar. „Er wollte den Glauben besser machen.“ Aber hat Jesus nicht vor allem für die damaligen Ohren revolutionäres von sich gegeben, dass er der Sohn Gottes sei? Hat Jesus eben keinen weiteren Weg zu Gott gepredigt, sondern sich selbst als den einen Weg bezeichnet und damit nicht einfach das Judentum besser machen, sondern einen ganz neuen Glauben aufzeigen wollen? Vieweger findet eher: „Der wichtigste Punkt ist der, dass er Leute begeistern konnte.“

Hat Jesus alles inszeniert?

Jesus sei nur der Anführer einer „kleinen jüdischen Splittergruppe“ gewesen, macht der Archäologe Shimon Gibson klar. „Nur ein kleiner Teil in einer riesigen Schar von Menschen, vielleicht mehreren Tausend, die während des Pessach-Festes nach Jerusalem kommen“. Die wenigen Bürger, die eher zufällig am Wegesrand Zeuge von Jesu Ritt auf dem Esel werden, wirken im Film etwas ratlos. „Ein weiterer Verrückter“, scheinen sie zu denken.

Jesus habe das Wedeln mit den Palmblättern quasi selbst aus Marketinggründen angeordnet, suggeriert „Gerichtsreporterin und Podcasterin“ Sabine Rückert, und sie meint zu wissen, dass es sich dabei um „Königsinsignien“ gehandelt habe. Bei diesem „großen Brimborium“ (Rückert) deutet sie dann noch an: „Ich weiß nicht, inwiefern das schon alles vorher vorbereitet worden war.“ Das weiß niemand.

Und auch keiner der Experten beantwortet diese Frage. Die Wirkung, die sich Jesus und seine Gang wohl erhofft hatten, blieb dem ZDF-Film zufolge jedenfalls offenbar aus. Auch der Theologe Thomas Söding ist sicher: „Der Einzug nach Jerusalem ist keine spontane Aktion. Das ist eine Inszenierung.“ Es sei Jesus darum gegangen, „möglichst viel Aufmerksamkeit zu erregen“, sagt Söding, und fügt hinzu: „Die allermeisten haben überhaupt nichts davon mitbekommen.“ Dann hat Matthäus eben gelogen. Der schrieb von einer „sehr großen Menge“, die „ihre Kleider auf den Weg legten“, und von „der ganzen Stadt Jerusalem“, die in Aufruf geriet und fragte: „Wer ist der?“ (Matthäus 21).

Die Skepsis gegenüber offensichtlich biblisch-spekulativen Berichten hielt die Filmemacher aber nicht davon ab, ihrerseits spekulative, sprich: erfundene Szenen hinzuzufügen. Ein alter Mann namens Josef etwa (der Vater von Jesus? Josef von Arimathäa?) tritt zu Jesus, der auf dem Esel sitzt, und zeigt sich entsetzt: „Hört sofort damit auf. Das ist Aufruhr!“

Jesus als Martin Luther King oder Gandhi

Es bleiben Fragen offen. Hat Jesus nicht zuvor schon wochenlang viele Wunder im ganzen Land getan und sich mit seinen Predigten mit der höchsten religiösen Kaste angelegt? Warum sollte er nun mit einer orchestrierten Palmwedel-Show zusätzlich auf sich aufmerksam machen wollen? Zumal ihm bei seiner Wanderung nach Jerusalem doch klar gewesen sein muss, dass es ungemütlich für ihn in dieser Stadt werden könnte.

Und was genau wollte Jesus eigentlich? Für die Experten ist klar: Jesus habe eine „kleine Revolution inszenieren“ wollen. Der Tempel sollte wieder ein Haus des Gebets werden, wenn möglich, für alle Völker. Vom Anspruch Jesu, selbst die Verkörperung dieses neuen Bundes zu sein, kein Wort. Vom Sühnetod Jesu, der zentral in der Bibel ist, kein Wort. Rückert: Der Tod Jesu war schlichtweg dafür gedacht, seiner Botschaft „maximale Reichweite“ zu verleihen. Wie bei Martin Luther King. Oder Gandhi. Das sagt sie wirklich.

Die kleine Revoluzzer-Gruppe zeichnete laut dem Theologen Söding aus: „Wir glauben an Gott, so wie Jesus ihn verkündet hat.“ Nicht etwa: Wir glauben an Jesus als Sohn Gottes. Aus dieser kleinen Gruppe habe sich dann das Christentum entfaltet. Christen glauben demzufolge also seltsamerweise heute an einen jüdischen Rebellen, der vor 2.000 Jahren ein wenig erfolglos versucht hat, das Judentum zu reformieren. Erstaunlich, dass man es über einen Theologen sagen muss, aber: Da hat jemand etwas falsch verstanden, was Christentum ist. Aber erfreulicherweise gibt es ja „szenische Dokumentationen“ / „Erzählungen“ des ZDF, die darüber aufklären.

„INRI – Warum musste Jesus sterben?“, Karfreitag, 29. März 2024, 22.20 Uhr, bereits ab dem 28. März 2024 in der Mediathek, 90 Minuten, ein Film von Christian Twente

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