„Jeder Freier macht sich schuldig“

Seit die Ex-Prostituierte Huschke Mau ihre Biografie „Entmenschlicht“ veröffentlicht hat, diskutiert Deutschland neu über ein Sexkaufverbot. PRO hat den Streetworker Gerhard Schönborn gefragt: Gibt es gute Prostitution?
Von Anna Lutz

Ein normaler Montagabend auf der Berliner Kurfürstenstraße: Eine Schülergruppe läuft lachend den Gehweg entlang, die Klassenfahrt nach Berlin genießend. Sie würdigen die Frau kaum, die im Kreis herumstolpert, vor sich hinflüstert, immer wieder verwirrt in Richtung der vorbeifahrenden Autos lächelt. Eines ihrer Augen ist blutunterlaufen. Genau wie die Gruppe Bulgarinnen auf der anderen Straßenseite wartet sie auf Freier. Um Geld für Drogen zu verdienen. Oder einfach nur für einen Schlafplatz.

Wenige Meter entfernt steht eine sogenannte Verrichtungsbox, ein vom Berliner Senat gemietetes Holzhäuschen, zugleich Toilette und der Ort, wo Sex-Geschäfte vor den Augen der Öffentlichkeit verschwinden sollen. Man muss die Tür der Hütte gar nicht öffnen, um zu erahnen, wie es darin aussieht. Schon davor liegen versiffte Papiertaschentücher, eine gelbe Pfütze hat sich auf dem Gehweg gesammelt.

Genau hier, am U-Bahn-Ausgang Kurfürstenstraße, öffnet das Café Neustart mehrmals in der Woche seine Türen für Frauen, die eine Pause brauchen von ihrer Arbeit auf der Straße. Die von Christen betriebene Hilfsorganisation bietet Getränke, Essen, Kleidung und offene Ohren für die Nöte der Prostituierten an. Und wer wirklich will, bekommt hier auch Hilfe für den Ausstieg. PRO trifft dort den Streetworker Gerhard Schönborn.

PRO: Herr Schönborn, kann jede Frau in der Prostitution landen?

Gerhard Schönborn: Zu uns ins Café kommen alle möglichen Frauen, sogar welche aus einem christlichen Elternhaus. Viele kommen aus desolaten familiären Verhältnissen, aber auch aus sogenannten guten Verhältnissen. Die Frauen haben gemeinsam, dass irgendwo auf ihrem Weg etwas schiefgelaufen ist. Sei es, dass sie an irgendeinem Punkt aus der Strenge des Zuhauses ausbrechen wollten, oder dass sie mit Drogen in Kontakt gekommen sind. Oder mit einem sogenannten Loverboy, also einem Mann, der so tat, als sei er in sie verliebt, sie aber eigentlich in die Prostitution bringen wollte.

Hauptgründe dafür, dass Frauen hier auf der Kurfürstenstraße landen, sind aber eindeutig Armut, Drogen und Missbrauchserfahrungen in der Vergangenheit – und ein geringes Selbstwertgefühl.

„Verrichtungsbox“ an einer Ecke der Kurfürstenstraße in Berlin

Die Autorin Huschke Mau, selbst ehemalige Prostituierte, ist der Meinung: Gute Prostitution gibt es nicht.

Es gibt alles, auch Frauen, die sagen, dass sie freiwillig in der Prostitution sind. Ich kann weder in ihre Köpfe noch in ihre Herzen schauen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass in längeren Gesprächen auch bei diesen Frauen eben doch Missbrauchserfahrungen eine Rolle spielen. Dann kann man sich natürlich fragen: Wie freiwillig ist Prostitution, wenn ein Trauma im Hintergrund steht? So oder so: Prostitution ist immer sexuelle Ausbeutung. An keiner Frau geht es einfach so vorüber, wenn sie hier auf der Straße steht. Es zerstört ganz viel in ihnen. Oft erkennen die Frauen das aber erst, wenn sie ausgestiegen sind.

Woher kommt dann die Stärke und Präsenz der Sexarbeiterinnen-Lobby?

Das sind wenige, aber dafür sind sie laut. Meine Antwort ist: Es steckt viel Geld in dem Geschäft mit Sex. Dass die wenigen Frauen, die angeben, sie arbeiteten gerne als Prostituierte, in unserer Gesellschaft so sichtbar sind, hat in meinen Augen damit zu tun, dass viele an dem Geschäft mitverdienen oder direkt profitieren: der Staat durch Steuern ebenso wie die Sex­industrie.

Und dann vergessen Sie eines nicht: Da, wo Männer das Sagen haben, sind immer viele dabei, die selbst Freier sind. Auf der anderen Seite: Was hat eine Frau, die nach Jahren ausgestiegen ist, davon, ihre ganze leidvolle Geschichte bekannt zu machen? Sie ist ein Opfer und will vor allem eine neues Leben beginnen. Frauen wie Huschke, die sich trotzdem engagieren, um anderen zu helfen, sind die große Ausnahme. Dafür braucht es viel Mut.

Huschke Mau berichtet in ihrem Buch „Entmenschlicht“ über ihr Leben als Prostituierte – und wie sie den Ausstieg schaffte

Ist jeder Freier ein Täter?

Auf jeden Fall! Kein Freier weiß, welche Frau er vor sich hat. Ob sie einen Zuhälter hat oder welche anderen Zwänge sie dazu bringen, sich zu prostituieren. Jede Frau hier auf der Straße muss schauspielern. Das kann man gut beobachten, manche fallen regelrecht in sich zusammen, wenn gerade kein Auto vorbeifährt, und beim nächsten, der anhält, stehen sie lächelnd da und flirten wieder. Jeder Freier nutzt die Not der Frauen aus. Selbst dann, wenn er es nicht weiß, aber billigend in Kauf nimmt.

Wenn eine Frau hier auf der Kurfürstenstraße aussteigen möchte, wie kann sie das hinbekommen?

Die überwiegende Mehrzahl der Frauen hier ist wohnungslos und hat keine Krankenversicherung. Prostituierte – selbst die wenigen, die steuerlich angemeldet sind – arbeiten im Grunde als Selbstständige. Und können sich keine Versicherung leisten. Das bedeutet: Sie können weder zum Arzt gehen noch einen Drogenentzug machen.

Wir haben seit einiger Zeit eine Ausstiegswohnung, da können wir Frauen unterbringen. Dann haben sie eine Melde­adresse und können nach und nach den Weg in die Normalität antreten: Wir brauchen viel mehr Einrichtungen, die Frauen ohne Vorbedingungen aufnehmen – nicht nur in Berlin, sondern überall in Deutschland.

Was muss die Gesellschaft über Pros­titution wissen, was sie noch nicht weiß?

Die Frauen werden von Männern ausgebeutet. Selbstbestimmte sogenannte Sexarbeit gibt es kaum. Jeder Freier macht sich schuldig.

Herr Schönborn, vielen Dank für das Gespräch!

Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO die Geschichte der Buchautorin und Ex-Prostituierten Huschke Mau. PRO können Sie hier kostenlos bestellen.

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Eine Antwort

  1. Der wichtigste Satz in diesem Artikel lautet „Die Frauen haben gemeinsam, dass irgendwo auf ihrem Weg etwas schiefgelaufen ist.“ Warum? Weil er auf das Gegenteil hinweist: die Frauen und Männer (!), bei denen nichts schiefgelaufen ist, kommen dem Streetworker logischerweise auch nicht unter die Augen.
    Weil auch in diesem Artikel nicht MIT den Prostituierten gesprochen wird, sondern nur ÜBER sie, kann auch hier nur ein einseitiges Bild gezeichnet werden. Kein Wunder, wenn Huschke Mau dabei im Spiel ist.
    Sie verengt den im Prostituiertenschutzgesetz definierten Begriff „Prostitution“ einfach auf „Prostitution ist Gewalt gegen Frauen“ und kann aufgrund ihrer privaten Definition natürlich leicht sagen, dass es Prostitution ohne Gewalt nicht gäbe.
    Die Realität sieht anders aus. Prostitution ist der Verkauf von sexuellen Handlungen aller Art: vom Geschlechtsverkehr bis hin zur erotischen Massage, und diese werden auch von Männer an Männer, von Frauen an Frauen und von Männern an Frauen verkauft. Ja, sogar Tantramasseur*innen müssen sich als Prostituierte registrieren lassen. Ich weiß allerdings: Menschen wie Huschke Mau schaffen es locker, auch in eine Tantramassage Gewalt hinein zu interpretieren.
    Wenn hier von der „überwiegenden Mehrzahl der Frauen“ gesprochen wird, gilt das für dieses kleine Gebiet in Berlin, aber keinesfalls für ganz Deutschland. Über 100.000 Studierende finanzieren ihr Studium durch Prostitution in Form von diskreten Haus- und Hotelbesuchen ohne Zuhälter und fern vom Rotlichtmilieu. Aber über diese berichtet niemand, das wäre ja nicht zum Aufregen.

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