Immer mehr Essstörungen unter Jugendlichen

Einer aktuellen Studie zufolge leiden immer mehr Jugendliche unter Essstörungen wie Bulimie oder Anorexie. Bei den Gründen spielt offenbar auch die Corona-Pandemie eine Rolle.
Von PRO

Ilka läuft durch den Kölner Hauptbahnhof auf der Suche nach Essen. Aber nicht etwa, weil sie Hunger hat. Stattdessen will sie es auf einer der Toiletten am Bahnhof wieder erbrechen. 

Am Bahnhof ist sie deshalb, weil sie dort niemand kennt und sie sich schämt. Nachdem sie ihr Essen „losgeworden ist“, ruft sie verzweifelt ihre Mutter an. Diese fürchtet sich vor den Anrufen ihrer Tochter, denn Situationen wie diese ereignen sich oft im Leben ihrer Tochter.

Ilka Tran Anh litt jahrelang an Bulimie und kämpfte insgesamt über zehn Jahre mit Essstörungen. Bereits mit elf Jahren kämpfte sie mit Magersucht, landete deshalb mit 13 auf der Intensivstation und rutschte mit 15 in die Bulimie. Mittlerweile ist sie frei von den Symptomen einer Essstörung. Doch der Weg zur Genesung war hart.

Ilka ist kein Einzelfall. Einer neuen Untersuchung zufolge ist die Zahl der Jugendlichen mit Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie bundesweit gestiegen. Laut der Studie der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) betrifft dies insbesondere Mädchen und Frauen zwischen zwölf und 17 Jahren. 

Kontrolle und Sicherheit

Zwischen 2020 und 2021 gab es bei dieser Gruppe einen Anstieg von über 30 Prozent. „Die Gründe für eine Essstörung sind vielfältig und reichen von traumatischen Erlebnissen wie Missbrauch über familiäre Konflikte bis hin zu Leistungsdruck und Mobbing“, so die KKH-Psychologin Franziska Klemm.

Bei Ilka war es unter anderem der Umzug in ein anderes Land, das Fehlen eines sichereren sozialen Umfelds. Da ist Ilka gerade mal zehn Jahre alt. In der Magersucht sucht Ilka die Kontrolle und Sicherheit. In einer Folge der Videoserie „Königskinder“ spricht sie sogar davon, dass sie am Tiefpunkt der Magersucht ein Gefühl der Stärke empfunden hat. „Ich dachte, mit der Magersucht glaube ich noch, dass ich die Kontrolle habe, und wenn ich jetzt darüber nachdenke, merke ich, wie krass die Magersucht mich kontrolliert hat.“ 

Das Gefühl der Stärke und Kontrolle empfindet sie sogar, als sie mit 13 auf der Intensivstation landet und sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befindet.

Wie gefährlich Essstörungen sind, darf auf keinen Fall unterschätzt werden. Vor allem der Anstieg der an Essstörungen Erkrankten ist beunruhigend. Aus den Daten der KKH in Hannover geht hervor, dass 2021 17,5 von 1.000 Menschen an einer Essstörung erkrankten. 2020 waren es 13,4 und 2019 waren es 12,9 von 1.000 Jugendlichen.

Die Dunkelziffer ist hoch, die genannten Daten bilden nur ärztlich diagnostizierte Fälle ab. 2017 starben nach Angaben des Statistischen Bundesamt 78 Menschen in Deutschland an Essstörungen – ein Drittel mehr als im Jahr davor. Dazu zählen Fälle wie der von Ilka, wenn sich Menschen bis zu einem lebensbedrohlichen Untergewicht hungern, aber auch andere Erkrankungen wie Bulimie oder die Binge-Eating-Störung, die Adipositas (Fettleibigkeit) auslösen kann. 

Corona spielt eine Rolle

Das Gefühl von vermeintlicher Kontrolle, so wie Ilka es beschreibt, fällt komplett weg, als sich ihr Krankheitsbild Anorexie (Magersucht) in Bulimie ändert. Eine ähnliche Form von Kontrollverlust erlebten auch Jugendliche während der Pandemie, so die Psychologin Franziska Klemm. 

Kinder und Jugendliche hätten sich während Corona mehr mit den sozialen Medien beschäftigt und somit den Realitätsbezug verloren sowie vergessen, wie Freunde und Mitschüler im echten Leben ohne Filter aussehen. Ein geregelter Alltag und ein nicht-medialer Austausch hätten gefehlt, so Klemm. Das seien haltgebende Strukturen, die in der Pubertät wichtig seien. Den Kontrollverlust haben Kinder und Jugendliche kompensiert, „indem sie sich selbst kontrollieren, zum Beispiel mit Diäten und Sport“.

Gerade die sozialen Medien sind mitunter auch ein großer Grund für den Anstieg von Essstörungen. Durch diese wird ein „unrealistisches und gefährliches Körperideal“ propagiert, sagt Franziska Klemm. 

Ein trauriges Beispiel dafür ist die kürzlich verstorbene Christina Ashten Gourkani. Das Model wollte aussehen wie die Influencerin Kim Kardashian – und ließ sich durch mehrere Schönheitsoperationen an ihr Vorbild angleichen. Eine weitere Schönheitsoperation hat die 34-Jährige nun nicht mehr überlebt. 

Unrealistische Vorbilder können zudem die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und Körper forcieren und die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens begünstigen. Das ist besonders der Fall, wenn Jugendliche unter psychischen Problemen leiden oder bereits einen geringen Selbstwert besitzen. 

Junge Mädchen wie damals auch Ilka gehören immer noch zur größten Gruppe der an Essstörungen Erkrankten. Zwischen 2020 und 2021 ist der Anteil der betroffenen Zwölf- bis 17-Jährigen von 75,7 Prozent auf 78,9 Prozent gestiegen.

Offen über Essstörungen sprechen

Das liegt daran, dass Mädchen immer früher in die Pubertät kommen und die Krankheit meist in dieser Phase beginnt, so die Angaben der KKH. Doch auch immer mehr Männer leiden unter Essstörungen. Der Anstieg in der Gruppe der 18- bis 24-jährigen Männer war sogar höher als in der Gruppe der Frauen. 

Die KKH warnt, dass es sich bei Bulimie und Magersucht um schwere psychische Erkrankungen handelt, die mit Depressionen und Angststörungen und Sucht einhergehen.

Wenn Ilka heute durch den Kölner Hauptbahnhof läuft, denkt sie nicht mehr daran, wo sie am meisten essen kann und wo die Toiletten sind, um es „loszuwerden“. Heute sucht sie ein Café auf, um dort einen Kakao zu trinken, oder holt sich eine Portion Pommes, weil sie Hunger hat. 

Ihr Anliegen ist es, Betroffenen Mut zu machen, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. 

Von: Anne Heidler

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