„Ich kann als Christin nicht Privatmensch sein“

Gesine Schwan ist begeisterte Politikerin, Denkerin und Christin. Im Gespräch mit PRO erklärt sie, warum Christen Verantwortung tragen, wieso sie in ethischen Themen auch die SPD kritisiert und warum sie die Hoffnung nie aufgibt.
Von Johannes Schwarz
Gesine Schwan

Frau Schwan, Sie haben gerade Ihr neues Buch herausgebracht: ­„Warum ich die Hoffnung nicht aufgebe“. Die Leser erhalten einen tiefen Einblick in Ihr Leben. Wie würden Sie sich in Kürze beschreiben?

Gesine Schwan: Ich möchte mich im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten als einen glücklichen Menschen beschreiben. Ich hatte viele Chancen im Leben, das zu tun, was ich wollte und was mir wichtig war. Ich habe von Anfang an in meinem Leben sehr viel Zuneigung und Menschlichkeit erfahren. Das macht mich dankbar – ein Grundgefühl für mich.

Ihr Buch handelt von Hoffnung. ­Denken Sie, dass es in dieser Zeit mehr Hoffnung braucht als zuvor?

Das glaube ich nicht. Ich denke, dass es im Leben immer viele Probleme und viel Leid gab, auch in den Jahrhunderten vor uns. Aktuell häufen sich auch in Europa die Krisen. Aber im globalen Süden etwa sind sie gang und gäbe. In meinen jungen Jahren hatte meine Generation die Hoffnung, dass Demokratien gestärkt werden, es gerechter zugehen wird, mehr Gleichberechtigung, Solidarität und Partizipation entstehen werden. Doch viele Hoffnungen sind nicht erfüllt worden. Das Einzige, was hilft, daran nicht zu verzweifeln, ist, etwas dagegen zu tun.

Was bedeutet für Sie Hoffnung in Verbindung mit dem christlichen ­Glauben?

Letztlich ist es das Grundvertrauen, dass die Schöpfung und das Leben nicht sinnlos sind. Dass nicht alles in ein schwarzes Loch führt. Die Grundannahme, dass diese Welt zum Guten geschaffen ist. Um das zu hoffen, brauche ich Vertrauen auf Gott. Die Berechtigung der Hoffnung kann ich nicht empirisch belegen.

Haben Sie denn schon einmal die Hoffnung aufgegeben?

Es gab eine Krisenzeit nach dem Tod meines ersten Mannes. Da stellte ich mir die Frage: Ist Gott allmächtig und zugleich gütig? Meine Antwort war: Allmächtig ist Gott, aber gütig ist er nicht. In der Folgezeit wurde ich depressiv. Ich habe trotzdem meinen Job machen können.

Wie haben Sie die Hoffnung wieder gefunden?

Ich war in Pflichten festgehalten – gegenüber meinen beiden Kindern und beruflich. Da konnte ich mich nicht einfach meinem Leid hingeben. Und ich habe mir professionelle Hilfe geholt.

Gesine Schwan Foto: Olaf Kosinsky | CC BY-SA 3.0 de

Gesine Schwan

Gesine Schwan, Jahrgang 1943, ist seit mehr als 50 Jahren Mitglied in der SPD. Seit 2014 ist sie Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD. Zweimal trat sie als Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin an – sie unterlag jeweils Horst Köhler. Mehrfach war Schwan schon Präsidentin von Universitäten, etwa der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Heute ist die mehrfache Autorin Präsidentin der Berlin Governance Platform. Schwan ist katholisch. Ihr erster Mann verstarb nach schwerem Krebsleiden, sie hatten zwei Kinder. Seit 2004 ist sie erneut verheiratet.

Sie sind katholische Christin. Was ­bedeutet Ihnen der Glaube und was ist das Besondere am katholischen Glauben für Sie?

Zunächst ist das Christliche meine Grundeinstellung – dazu will ich mich auch bekennen. Meine Mutter war katholisch und hat mich zur Kirche mitgenommen. Ich fühlte mich wohl und fand dort mein geistliches Zuhause. Theologisch kann ich dem Menschenbild von Thomas von Aquin viel abgewinnen. Das Sinnliche und Intellektuelle gehören hier zusammen.

Außerdem ist mir der Punkt wichtig, dass moralisches Handeln nicht bedeutet, einfach gehorsam einer Autorität zu folgen. Die Freiheit, die ich mir nehme, geht auch mit Verantwortung einher. Mit diesem Menschenbild nennen mich einige die Protestantische unter den Katholiken. Gegen diese Bezeichnung habe ich nichts.

Wie begegnen Sie als Mitglied der katholischen Kirche den Missbrauchs­skandalen der vergangenen Jahre?

Vielleicht zehn Prozent der Priester haben Missbrauch begangen. Das sage ich nicht, um es zu relativieren. Ich selbst habe nie Priester, weil sie Priester sind, als Autorität empfunden. Ich habe auch die Kirche, nur weil sie Kirche ist, nicht als Autorität empfunden. Sie war für mich immer eine göttliche Stiftung und eine menschliche Organisation zugleich. Und die göttliche Stiftung ist das, worauf sie hoffentlich weiter bauen kann. Die menschliche Organisation ist genauso schlecht wie die von Parteien und Lobbygruppen.

Ich bin nicht völlig entsetzt, dass es in der Kirche all diese negativen menschlichen Taten gibt. Aber ich bin entsetzt darüber, dass bis in die höchsten Ebenen – damit meine ich auch Papst Benedikt – so simple Entschuldigungen vorgebracht werden. In einer Institution, die einen so hohen moralischen Anspruch erhebt. Allerdings glaube ich, dass die frohe Botschaft des Evangeliums ohne Institution nicht weitergegeben werden kann. Und deswegen: Austreten ist keine Lösung.

Welche Verbindung gibt es zwischen Ihrem Glauben und der Politik?

Ich glaube, dass ich frei und urteilsfähig, aber auch zum Urteil angehalten bin und verantwortlich handeln muss. Das bezieht sich auf mein privates, soziales und politisches Umfeld. Ich bin Partnerin Gottes in der Schöpfung. Theologisch abgeleitet heißt es für mich: Ich kann als Christin nicht einfach Privatmensch sein.

Politik braucht im Übrigen Vertrauen, und dieses Vertrauen kann durch den Glauben gestärkt werden: Weil ich das Vertrauen in Gottes Schöpfung habe, dass nicht alles von vornherein Unsinn ist. Das hilft mir angesichts der vielen unglücklichen Dinge, die wir jeden Tag in der Welt sehen, da, wo ich kann, etwas dagegen zu tun.

Seit mehr als 50 Jahren sind Sie Mitglied der SPD und seit 2014 sind Sie die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. Geht es Ihnen in der SPD manchmal zu unchristlich zu?

Die SPD ist für mich keine Glaubens-Autorität. Das Politische, die Partei, wird nie ein Gradmesser sein für die Dinge, die ich glaube. Umgekehrt ist mein Glaube ein Maßstab für gute Politik. Die SPD als Partei hatte lange Zeit Schwierigkeiten mit dem Christentum und auch dem Katholizismus. Es gibt einen historischen Säkularismus und manchmal auch eine Oberflächlichkeit in religiösen Dingen.

Ich denke, wenn man die metaphysische und religiöse Dimension im Leben nicht mitdenkt und fühlt, dann ist das eine verarmte Form von Leben. Mittlerweile hat sich die SPD allerdings für Religionen deutlich geöffnet. Im Übrigen stimmen meine christlichen Werte mit den Grundwerten der SPD überein.

„Das Leben muss als etwas Heiliges respektiert werden.“

Wie stehen Sie zum Lebensschutz bei Abtreibungen?

Wichtig ist, dass alle ethischen Aspekte bedacht werden. Ich bin mir sicher, keine Frau geht leichtfertig mit dieser Ausnahmesituation um. Sie braucht keinen Vormund. Abtreibungen in besonderen Fällen, etwa bei Vergewaltigung, zu ermöglichen und zu entkriminalisieren, halte ich für richtig.

Jedoch wird heute von vielen Akteuren ein Recht auf Abtreibung ohne Bedingungen als Freiheitsrecht angesehen. Das finde ich problematisch. Das Recht auf Selbstbestimmung: ja. Aber das heißt für mich nicht, dass jederzeit die unbegründete oder ungerechtfertigte Abtreibung dazugehört. Das Leben muss als etwas Heiliges respektiert werden. Die Leichtigkeit, mit der zuweilen gefordert wird, den Paragrafen 218 einfach zu streichen, ist nicht meine Position.

Sehen Sie in der Gesellschaft einen Werteverfall?

Ich bin immer sehr skeptisch, wenn man in Kategorien des Verfalls denkt. Denn ich denke nicht, dass Werte früher besser und solider eingehalten wurden. Nur weil man Abtreibung versteckt und nicht offen diskutiert hat, wurden die Werte nicht automatisch ernst genommen.

Besonders unangebracht ist die Rede vom Werteverfall vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Die Mehrzahl der Deutschen hat sich gut arrangiert mit dem Nationalsozialismus und all dem, was da passiert ist. Wenn ältere Menschen von Werteverfall sprechen, ist das für mich unbedacht und unangemessen. Ich finde es auch erstaunlich, wenn Christen vor dem Hintergrund der Frohen Botschaft in pessimistischen Verfallsgeschichten denken.

Schwan_Buchcover Foto: Patmos
Gesine Schwan: „Warum ich die Hoffnung nicht aufgebe. Ein Gespräch mit Holger Zaborowski“ Patmos, 160 Seiten, 22 Euro

Sie waren zweimal Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin. Zweimal sind Sie nicht gewählt worden. 2019 wollten Sie gemeinsam mit Ralf Stegner SPD-Vorsitzende werden. Auch da wurden Sie nicht gewählt. Wie gingen und gehen Sie mit dem Scheitern um?

In der Politik nicht gewählt zu werden, bedeutet für mich nicht im tieferen Sinne Scheitern. Denn Scheitern heißt, vor den eigenen Maßstäben nicht zu bestehen. Wenn es keine Mehrheit für mich gibt, ist das kein Scheitern.

Im Leben bin ich allerdings schon gescheitert, zum Beispiel bei der tödlichen Krebskrankheit meines ersten Mannes. Da war die Hilflosigkeit eine tiefe Erfahrung, ich bin daran gescheitert, ihm zu helfen. Ich hatte versucht, ihn zu retten. Damals betete ich viel, aber ich wusste immer, dass mein Gebet nicht erhört werden musste. Mein Gebet hat den Tod nicht verhindert. Mein Scheitern führte auch dazu, dass ich mich hoffnungslos fühlte. Doch ich wusste auch, das ist nicht die letzte Antwort.

Hat Ihnen in diesem Scheitern Ihr Glaube geholfen?

Ja! Zusammen mit professioneller ärztlicher Hilfe.

Inwiefern?

Der Glaube ist nicht nur rein kognitiver Art. Er ist ein Akt der ganzen Person. Er prägt das Handeln, Fühlen und Denken einer Person insgesamt. Zwar hat der Glaube mich nicht davor geschützt, dass ich mich hilflos gefühlt habe. Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass der Glaube mich durch die schwierige Zeit tragen würde.

Frau Schwan, vielen Dank für das ­Gespräch!

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