„Honecker sagte: ‚Ich bin wieder zu Hause‘“

Kornelius Holmer war 14 Jahre, als seine Eltern das Ehepaar Honecker aufnahmen. Im Interview erzählt er, wie er diese Zeit erlebte und wie er den Film „Honecker und der Pastor“ fand.
Von Johannes Blöcher-Weil
Honecker und der Pastor

PRO: Welches Bild hatten Sie als 14-jähriger Junge von Erich Honecker, Herr Holmer?

Kornelius Holmer: Bei uns am Esstisch wurde schon immer über die politischen Entwicklungen diskutiert. Ich hatte mitbekommen, wie unzufrieden einer meiner älteren Brüder mit dem Leben in der DDR war. Er hat über Honecker und die Zustände im Land geschimpft.

Mein Vater hat Erich Honecker nie verteidigt. Er hat uns aber immer gesagt, dass wir als Christen nicht schlecht über andere Menschen reden, auch wenn wir ihre politische Meinung nicht teilen. Mit dieser Haltung bin ich groß geworden.

Wie haben Sie Erich Honecker in den neun Wochen bei Ihnen dann wahrgenommen?

Ich war ja drei Jahre älter als der Kornelius im Film. Erich Honecker war freundlich und sehr aufmerksam. Er und seine Frau waren bis zuletzt überzeugte Kommunisten. Sie haben fest an das geglaubt, was sie vertreten haben.

Ab wann wussten Sie, dass Ihre Familie Besuch bekommen würde?

Ganz genau kann ich das nicht sagen. Honeckers Anwälte hatten bei der Kirchenleitung angefragt, ob sie einen Ort wüssten, an dem er unterkommen könnte. Die Anfrage wurde dann an meinen Vater, der zu dem Zeitpunkt der Leiter der Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal war, weitergeleitet und der hat dies mit der Direktion und meiner Mutter besprochen und diskutiert.

Lobetal selbst kam nicht infrage. Dort gab es eine ewig lange Warteliste. Da konnte es keine Privilegien geben. Dadurch kam meinen Eltern der Gedanke, dass wir sie als Familie aufnehmen könnten.

„An den ersten Wochenenden gab es immer wieder wütende Proteste vor unserem Haus. Sie haben gerufen:
‚Keine Gnade für Honecker‘“.

Was hat Ihre Mutter dazu gesagt?

Meine Eltern haben sich beide ganz eng miteinander abgestimmt. Wenn meine Mutter es nicht gewollt hätte, wäre es nicht so gekommen. Das Gleiche gilt für die wichtigsten Mitarbeiter in Lobetal und uns Kinder. Meine Eltern haben auch meinen Bruder gefragt, der über Ungarn geflohen war. Sein Zimmer sollte als Unterkunft für die Honeckers dienen. Bei einem Veto hätten meine Eltern sich die Sache sicher noch mal überlegt.

Wann haben Sie Ihre Eltern dann endgültig informiert?

Ich denke, es war so eine Woche vorher.

Wussten Sie, was diese Entscheidung bedeutet?

Nein. Als 14-Jähriger fand ich das natürlich aufregend, wenn der ehemalige Staatsratsvorsitzende bei uns wohnt. Aber die Tragweite der Entscheidung war mir nicht bewusst.

Ist es Ihnen denn schwer gefallen, Erich Honecker und seine Frau nicht abzulehnen?

Meine Geschwister durften ja kein Abitur machen. Im Gegensatz zu ihnen war ich davon nicht betroffen, weil ich noch zu jung war. Deswegen war das nicht relevant für mich. Meine Mutter hat sich schwer getan und sehr mit der Entscheidung gerungen. Das verdeutlicht die Dokumentation zu dem Film ganz gut. Es ging ja um die herausfordernde Frage, wie ich mit jemandem umgehe, auf den ich einen Groll habe. Ich fand die Tage aber auch sehr spannend, weil sich mein Leben geändert hat.

Gibt es konkrete Anfeindungen, an die Sie sich erinnern können?

An den ersten Wochenenden gab es immer wieder wütende Proteste vor unserem Haus. Sie haben gerufen: „Keine Gnade für Honecker“. Gott sei Dank ist niemand über den Zaun gestiegen und näher an das Haus vorgedrungen. Meine Eltern haben auch vieles von uns ferngehalten.

Ich kann mich erinnern, dass wir kurz nacheinander zwei anonyme Briefe bekommen haben. Im ersten wurde nach den drei schlimmsten Hs der Geschichte gefragt. Darunter standen die Namen Hitler, Honecker und Hussein. Im zweiten Brief wurde ein viertes H ergänzt und unser Nachname hinzugefügt. Ich fand das lustig, auch wenn es nachdenklich hätte machen sollen.

Aber Sie persönlich wurden nicht angefeindet?

Ich habe die Demonstrationen erlebt und die viele Post, die meine Eltern bekommen haben. Auf dem Nachhauseweg haben mich die Menschen vor dem Haus gebeten zu erzählen, warum wir das machen. Ich habe sie dann an meine Mutter verwiesen. Sie hat dann oft und viel mit den Leuten am Zaun diskutiert. Aber vieles war längst nicht so dramatisch, wie es im Film dargestellt wird.

Hatten Sie denn auch Angst um das Leben Ihrer Eltern?

Zu keinem Zeitpunkt. In einer ARD-Dokumentation vor ein paar Jahren hat Hans Modrow erklärt, dass die DDR unsere Familie grob fahrlässig im Stich gelassen habe. Das bereue er nachträglich. Ich bin gefragt worden, ob ich ihm vergeben könnte. Ich habe geantwortet, dass ich in meinem Alter gar nicht wusste, wie brenzlig die Situation zum Teil war.

Im Rückblick ist ja alles gut gegangen. Ich habe mein Leben einfach weitergelebt, bin zur Schule gegangen und habe mich mittags mit Freunden verabredet. Mein 18-jähriger Bruder hat da sicher schon mehr mitbekommen.

Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Über unsere Gefühle und Empfindungen nicht. Unsere Eltern wollten, dass wir unser Leben so normal wie möglich weiterleben. Für mich waren zwei ältere Menschen bei uns zu Besuch, die Hilfe brauchten. Natürlich hatten sie uns drangsaliert. Ich habe den Kritikern immer gesagt, dass sie sehen müssten, wie alt und gebrechlich die Honeckers sind.

Bevor ich in die Schule bin, habe ich mich immer höflich verabschiedet. Auch nachmittags haben wir über den Tag geredet. Genauso, wie ich es mit meinen Großeltern gemacht hätte. Das hat ziemlich viel genommen von der Brisanz, die da in der Luft lag. Meine Eltern waren froh, dass ich keine großen Vorbehalte hatte und ganz normal mit Honeckers umgegangen bin.

Mit dieser Einstellung sind Sie in der Schule doch sicher angeeckt?

Das waren ja meine Freunde. Sie waren alle durch den Sozialismus geprägt. Der Name Honecker war für sie gar nicht unbedingt so negativ besetzt. Für viele Familien war der Sozialismus Fortschritt und der Kapitalismus rückständig. Die Wiedervereinigung erschien manchen also wie ein Abstieg.

Natürlich musste ich meinen Kumpels immer erzählen, wie das so ist mit den Honeckers. Ich habe ihnen verdeutlicht, dass das ganz normale Menschen sind. Dann waren sie zufrieden. Wenn ich eine öffentliche Person privat kennenlerne, dann nehme ich sie natürlich anders wahr als in der Öffentlichkeit.

„Mein Vater hat Honeckers politische Meinung nicht geteilt, aber er hat in ihm den Menschen gesehen, der Hilfe brauchte. Da machte er keine Unterschiede zwischen einem Staatsratsvorsitzenden und andern.“

Was war für Sie die eindrücklichste Begebenheit dieser Zeit?

Die eindrücklichste Geschichte, die ich erzählen möchte, ist, als die Honeckers aus Lindow zurückkamen. Obwohl es dunkel war, konnte man sehen, wie sehr er von seiner Krebserkrankung gezeichnet war.

Als er vor der Tür stand, hat er zu meiner Mutter den Satz gesagt: „Jetzt bin ich wieder zu Hause.“ Das war für mich ein starkes Zeugnis. Ich persönlich würde ein Zuhause als sicheren Ort beschreiben, wo ich Geborgenheit erfahren kann.

Gibt es eine Frage, die Sie Erich Honecker gerne stellen würden?

Ich habe generell die Anfrage an den Sozialismus und dessen Menschenbild. Der Sozialismus geht davon aus, dass der Mensch gut ist. Die Bibel lehrt uns, dass der Mensch von Jugend auf böse ist. Sozialisten können doch nicht bei all den schlimmen Ereignissen in der Welt davon ausgehen, dass der Mensch gut ist. Der Mensch kann zwar Gutes tun, aber nicht gut sein.

Wenn, dann würde ich Honecker fragen, warum er selbst nie einsehen konnte, dass so viel Unrecht geschehen ist. Viele Biografien junger Menschen wurden gebrochen, nur weil sie die DDR verlassen wollten oder Kontakte in den Westen hatten. Da gab es keine Einsicht, dass hier grundlegende Dinge verkehrt liefen.

Was löst die Aktion Ihrer Eltern bei Ihnen aus: Stolz, Bewunderung oder war das eine Selbstverständlichkeit?

Von allem etwas. Ich bin meinen Eltern für ihr vorbildliches Handeln dankbar. Sie haben Menschen geholfen, durch die sie viel Schlechtes erlebt hatten. Das haben meine Eltern in absoluter Ruhe und Gelassenheit gemacht, ohne sich selbst zu verraten.

Mein Vater hat Honeckers politische Meinung nicht geteilt, aber er hat in ihm den Menschen gesehen, der Hilfe brauchte. Da machte er keine Unterschiede zwischen einem Staatsratsvorsitzenden und andern. Deswegen bin ich auch ein wenig stolz auf meine Eltern. Auch wenn es trotzdem selbstverständlich sein sollte, wenn man sich als Christ treu bleiben will, so etwas zu machen, und sei es noch so schwer.

Gibt der Film „Honecker und der Pastor“ ein realistisches Bild der damaligen Situation ab?

Beim ersten Schauen habe ich mich schwer getan, wie manche Dinge umgesetzt wurden, weil vieles so anders war. Ich musste mich von dem Bild lösen, dass hier die Realität eins zu eins umgesetzt wird. Der Regisseur hat natürlich Kunstgriffe gemacht, um die Themen des Films zu verdeutlichen: nämlich Barmherzigkeit, Vergebung und den persönlichen Umgang miteinander. In meinem Umfeld fanden das alle stark umgesetzt. Mit jedem Schauen finde ich die Umsetzung immer gelungener.

Welche Kunstgriffe meinen Sie?

Der Film arbeitet mit einigen Gegensätzen, um deutlich zu machen, dass er keinen Anspruch darauf erhebt, darzustellen, wie es in Wirklichkeit war. Es wurde viel mit Licht und Schatten und unterschiedlicher Musik gearbeitet.

Kornelius Holmer ist Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Aufgewachsen ist er im Oderbruch. In Lobetal erlebte der inzwischen verheiratete Vater von vier Kindern als 14-Jähriger, wie seine Eltern das Ehepaar Honecker bei sich aufnahmen.

Wie viel Filmstoff ist historisch?

Es gab eine Bombendrohung, Demonstrationen und innerkirchliche Anfeindungen gegen meinen Vater. Viele haben hinterher seine Entscheidung verteidigt, auch wenn sie es erst anders gesehen hatten. Mein Vater ist auch mit den Honeckers spazieren gegangen. Leider nicht historisch ist der Ort der Dreharbeiten. Alle Personen in dem Film hingegen gab es wirklich. Die Dramatik der Demonstrationen ist natürlich für das Drehbuch verstärkt worden.

Meine Eltern werden in dem Film ganz anders dargestellt, als sie in der Realität waren. Die Schauspielerin, die meine Mutter gespielt hat, hatte mit Abstand die schwerste Rolle. Sie konnte mit meiner Mutter nicht mehr über ihre Erlebnisse reden. Meine Mutter war stolz auf ihre zehn Kinder. Das kommt in dem Film sehr gut rüber.

Mein Vater ist eigentlich viel fröhlicher als in dem Film. Allerdings ist seine Art, als Theologe über die Dinge zu reden, gut umgesetzt. Wie die Eltern diese Phase gemeinsam durchstehen und sich trotzdem lieb haben, ist auch sehr gut gelungen. Drehbuchautor Fred Breinersdorfer hat immer ganz bewusst Gegensätze geschaffen.

Der Film „Honecker und der Pastor“, 97 Minuten, ist in der ZDF-Mediathek zu sehen. Eine halbstündige Doku begleitet Regisseur Jan Josef Liefers bei den Nachforschungen für seinen Film, bei Gesprächen mit Uwe Holmer und Einwohnern Lobetals.

Stören Sie die Unterschiede zur Geschichte, wie sie tatsächlich war?

Ich habe natürlich meinen Blick auf die damaligen Geschehnisse. Sie sind anders als bei meinen Eltern oder meinen Geschwistern, die nicht zu Hause lebten. Der Film erhebt aber nicht den Anspruch auf Wahrheit, was ich gut und richtig finde. Mir war wichtig, dass er niemanden lächerlich macht und für niemanden Partei ergreift.

Dass der Gesang nicht historisch ist, weiß jeder, der unsere Familie kennt und weiß, wie gerne wir singen. Der Schauspieler, der mich gespielt hat, hat meine Freude in der damaligen Situation gut rübergebracht. Bei uns im Dorf war etwas los. Das fand ich spannend. Meines Erachtens ist der Film gelungen und jeder sollte ihn gesehen haben.

Inwiefern war Ihre Familie bei der Entstehung des Filmes eingebunden?

Ich habe mich im Januar 2019 mit Jan Josef Liefers und seinem Team zu einem lockeren Gespräch getroffen. Dabei hat er mir gesagt, dass es ihm in dem Film um das Thema „Vergebung“ geht. Dafür wollte er gerne auch mit meinem Vater sprechen. Es ging in unserem Interview um Gott und die Welt, unsere Kindheit in der DDR und zwischendurch immer mal wieder um die Honeckers, die Ereignisse und die Motivation meines Vaters. Dies habe ich meinem Vater geschildert. So lud er Liefers zu sich ein.

Wenn Sie heute vor so einer Entscheidung stünden wie Ihre Eltern: Was würden Sie tun?

Eine schwierige Frage. Das ginge natürlich nicht ohne Rücksprache mit meiner Familie. Da dürfen auch unsere Kinder mitreden. Bei der grundsätzlichen Bereitschaft, jemanden aufzunehmen, mache ich keinen Unterschied, ob ich die Person mag oder nicht. Vermutlich werde ich so eine dramatische Situation ja auch nicht erleben. Von daher kann ich jetzt einfache Antworten geben. Ich hoffe, dass ich es genauso machen würde wie meine Eltern, auch aus meinem christlichen Glauben heraus.

Vielen Dank für das Gespräch!

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5 Antworten

  1. Sehr interessantes Interview. Ich durfte anlässlich einer Tagung Pfarrer Holmer etwas näher kennenlernen.
    Im Rahmen seiner Predigtreihe erzählter er davon , wie er die Honeckers mit seiner Familie aufgenommen hatte. So wie ich ihn als Mensch und Christ erlebte und was er über die Zeit mit Honeckers erzählte, fand ich den Film sehr authentisch. Absolut empfehlenswert.

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  2. Kornelius, wir haben zusammen im REHA CERENE in Blumenau, Santa catarina, Brasil gearbeitet. Mit grosser Interesse und Spannung habe ich dein Interwiev über „Honecker und der Pastor“ gelesen. Im „Ruhestand“ wohnen wir seit 2002 in unserer Heimatstadt Joinville-SC.
    Sei ganz herzlich gegrüsst, dein
    Missionar em. Rolf Voigt.
    Um grande abraço brasileiro!

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  3. Auch mich hat die Familie Holmer sehr beeindruckt. Ein starkes Vorbild in der Nachfolge Christi. Wirkliche Feindesliebe zu praktizieren ohne viel Aufhebens darum zu machen.

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  4. Ein sehr gutes Interview mit einem interessanten Zeitzeugen. Vielen Dank, Johannes Weil und Kornelius Holmer. Gut gefragt und offen geantwortet – was für eine verrückte Situation, die Gott genutzt hat.
    Ich habe den Film gesehen und bin beeindruckt, gut gemacht, wirklich wertschätzend für alle Personen trotz der Schuld der Honeckers. Erfrischend Christlich fürs deutsche Fernsehen und sehenswert gefilmt.
    Noch beeindruckender fand ich Podcast der Idealisten .net über „Uwe Holmer, der Pastor, der Honecker bei sich aufnahm“. Da ist es nur eine Randnotiz in einem langen Glaubensleben.

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