Minderheit oder Milieu? – So kann die Kirche der Zukunft aussehen

Die Kirche der Zukunft wird zwar selbstbewusst sein – aber eine Minderheiten-Kirche. Dieses Bild hat der Vizepräsident des EKD-Kirchenamts, Thies Gundlach, bei einer Tagung in Hofgeismar gezeichnet. Wie man mit einem Sofa und einer Abendandacht mit Absacker Kirchenferne für das Evangelium begeistert, erklärte Miriam Hoffmann vom Projekt „Die Beymeister“.
Von PRO
Miriam Hoffmann hat vor fünf Jahren das Projekt „Die Beymeister“ in Köln-Mülheim gegründet. Ihr Motto lautet: „Da hingehen, wo die Menschen sind.“

Die Kirche steht vor der Herausforderung, das Christentum in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten – heute genannt Milieus – zu verankern. So hieß es in der Einladung zum zweiten Treffen des Ökumenischen Netzwerks Mitgliederorientierung in Hofgeismar. Der Missionar Paulus, der das Evangelium vor 2.000 Jahren verkündete, soll als Vorbild für die Kirche heute dienen, lautete es weiter. Thies Gundlach, der Vizepräsident des Kirchenamts der EKD, stellte sich am Mittwoch im Rahmen der Veranstaltung der Frage „Wohin wächst der Glaube?“. Mit Blick auf die ökumenische Mitgliedervorausberechnung für Deutschland, die besagte, dass sich bis 2060 die Kirchenmitgliederzahlen halbiert haben werden, sprach er vom biblischen Bild der Wüstenwanderung des Volkes Israel, die 40 Jahre andauerte. Er fragte nach einer theologischen Botschaft des Kleinerwerdens: „Will uns Gott dadurch etwas sagen? Überhören wir ihn, weil wir selbst immer etwas sagen müssen?“

Ethische Positionen: ja; Jesus Christus: nein

In seinem Vortrag zeichnete der Theologe ein mögliches Bild der Kirchenzukunft, und versuchte damit auch, die Teilnehmer herauszufordern: „Es wird viel mehr Menschen geben, die sich mit unseren ethischen Positionen verbunden fühlen, als dass sie sich mit Christus verbunden fühlen.“ Bei öffentlichen Festakten werde zukünftig kein Gottesdienst mehr dazu stattfinden, sondern eine „zivile öffentliche Erbauungsfeier, wie das immer wieder in den USA der Fall ist“. Weihnachten und Ostern stehe irgendwann auf einer Stufe mit Ramadan oder dem Kindertag. Die Kirchensteuer werde zur Kultursteuer.

„Liberales Christentum verliert Gestaltungskraft“: Thies Gundlach Foto: pro/Martina Blatt
„Liberales Christentum verliert Gestaltungskraft“: Thies Gundlach

Auf Anfrage von pro fasste Gundlach seine Aussagen zur Frage „Wohin wächst der Glaube?“ zusammen: „Er wächst zu einem selbstbewussten, aber in der Minderheit bleibenden Glauben, der von Gottes Geheimnissen weiß. Er weiß aber auch, dass das nicht mehr Mehrheitsmeinung allgemein ist, sondern etwas Spezielles, etwas Erwähltes. So wie die frühen Christen das Bewusstsein hatten: ,Wir wissen etwas von Gott und seiner Welt, was andere in der großen Mehrheit nicht wissen. Aber es ist unsere Aufgabe, das so weiterzusagen, dass auch andere stauen können, dass auch andere diesen Glauben entdecken können.‘ Das alles gilt, ohne den Anspruch zu haben, wir sind Mehrheitskirche oder das Dominierende.“ Gundlach plädierte dafür, das Kleinerwerden nicht nur hinzunehmen, sondern auch anzunehmen – „und wir müssen es gestalten“.

In seinen Ausführungen ging der 63-Jährige auch auf eine soziologische Beobachtung ein, dass „liberales Christentum auch Gestaltungskraft verliert“. Im Gespräch mit pro erklärte er: „Es ist eine in der Wissenschaft diskutierte Beobachtung, dass liberales Christentum nicht die kirchliche Form von Frömmigkeit wichtig nimmt, sondern mehr privat und individuell bleibt. Sie besagt, dass die Menschen durch den Verlust von Formaten und Formen der Frömmigkeit auch die Frömmigkeit selbst verlieren, sprich: dass sie kein Abend- und Mittagsgebet mehr kennen und die Bibel nicht mehr so wichtig finden.“ Man könne nachweisen, dass in dieser liberalen Generation die Frömmigkeit ohne Format bleibt. Diese soziologische Beobachtung könnten viele in ihren Familien nachvollziehen: Der Großvater war streng gläubig, der Sohn fand den Glauben auch noch wichtig, und bei den Enkeln ist er nicht mehr vorhanden. „Es herrscht das Wissen darum, dass eine institutionell getragene Frömmigkeit, die bestimmte Riten, formale Rituale, Liturgien kennt, eine Stabilisierungsfunktion hat.“

Thies Gundlach (l.), Hanna Jacobs und Bischof Michael Gerber diskutierten im Rahmen der Buchvorstellung von „Kirche – ja bitte“ am Dienstagabend über die Zukunft der Kirche. Das Buch stellt innovative Modelle und strategische Perspektiven zum Thema Mitgliederorientierung vor. Foto: pro/Martina Blatt
Thies Gundlach (l.), Hanna Jacobs und Bischof Michael Gerber diskutierten im Rahmen der Buchvorstellung von „Kirche – ja bitte“ am Dienstagabend über die Zukunft der Kirche. Das Buch stellt innovative Modelle und strategische Perspektiven zum Thema Mitgliederorientierung vor.

Nach dem Vortrag meldeten sich zahlreiche Teilnehmer zu den Äußerungen Gundlachs zu Wort. Ein Diskutant sagte: „Das Szenario gibt uns die Möglichkeit, Gott seine Kirche zurück in seine Hand zu geben.“ Ein anderer Teilnehmer sah es als „anstrengend an, wenn sich die Kirche dauerhaft als Kirche in der Krise beschreibt“. Dieses Bild herrsche schon viele Jahre vor. Mehrere Personen konnten das von Gundlach gewählte biblische Bild der Wüstenwanderung nicht nachvollziehen, weil sich die Kirche nicht in einer Wüste befinde wie das Volk Israel damals. Ein weiterer Teilnehmer forderte die Kirche dazu auf, sich zu hinterfragen und Buße zu tun. Diese Aufforderung konnte Gundlach wiederum nicht nachvollziehen.

„Aus Mangel heraus besteht eine Abhängigkeit im Gebet“

Während der Tagung stellten verschiedene Gründer und Kreative ihre Projekte rund um das Thema Mitgliederorientierung vor. Die gelernte Gemeindepädagogin Miriam Hoffmann startete vor fünf Jahren zusammen mit ihrem Kollegen, Pfarrer Sebastian Baer-Henney, das Projekt „Die Beymeister“ in Köln. Nach Vorbereitung im Gebet und der Anfrage an die Kirchgemeinde vor Ort, ob sie sich im Viertel einbringen könnten, kauften sich ein „milieusensibles Sofa“, setzten sich damit ins stark gentrifizierte Köln-Mülheim und kamen so auf ganz unkonventionelle Weise mit den Leuten vor Ort ins Gespräch. Das Motto lautet „Hingehen, wo die Menschen sind“. Sie hatten keine Flyer, Schilder und anfangs auch keinen Raum, in den sie einladen konnten. Das sieht Hoffmann als Stärke, weil sie so frei von einem System gewesen seien. Eine Haushaltsplanung im Voraus brauche es dafür nicht: „Aus diesem Mangel heraus besteht eine Abhängigkeit im Gebet.“

Miriam Hoffmann macht ihre Arbeit mit stetem Blick nach oben: „Ich finde es unattraktiv, die Kirche zu retten, aber ich glaube, ich bin dazu berufen, Menschen zu begegnen“ Foto: pro/Martina Blatt
Miriam Hoffmann macht ihre Arbeit mit stetem Blick nach oben: „Ich finde es unattraktiv, die Kirche zu retten, aber ich glaube, ich bin dazu berufen, Menschen zu begegnen“

Eigentlich fand die Gründerin Milieukirchen „nicht sehr biblisch“, aber Jesus habe sich schließlich auch aufgemacht zu den Menschen. Die „Beymeister“ bieten einmal in der Woche Homeoffice-Arbeitsplätze, Konzerte, Kleidertausch-Treffen, Abendandachten mit Absacker, ein Abendmahl am Morgen oder „Dreyerley. Sowas wie Gottesdienst“ an. Damit erreichen sie Kirchenferne und Ausgetretene. Das Projekt läuft im Rahmen des Fresh-X-Netzwerks und arbeitet mit der Kirche vor Ort zusammen. Hoffmann warnt, dass die Sofa-Idee wie auch andere Ideen sich nicht eins zu eins kopieren lassen: „In Köln funktioniert immer alles, was absurd ist.“ In manche Städte oder Gebiete passten sie nicht hinein. Laut ihr gilt es, danach zu schauen, was die Menschen vor Ort brauchen – und das kann ganz unterschiedlich sein.

Bei der Tagung unter dem Motto „Der Paulus Code – Mitgliederorientierung heute“ im nordhessischen Hofgeismar waren des Weiteren unter anderen Frank Worbs vom Schweizer Portal Mitgliedbleiben.ch, Anne-Kathrin Hegemann vom „Trauteam im Bistum Essen“ und Oberkirchenrat Christian Fuhrmann, der Erprobungsräume in Mitteldeutschland vorstellte, dabei. Die zweitägige Veranstaltung war das zweite Treffen des Ökumenischen Netzwerks Mitgliederorientierung und fand in der Evangelischen Akademie Hofgeismar statt.

Wenn Sie über weitere spannende Projekte lesen wollen und darüber, was Kirche tun kann, um wieder attraktiver für Menschen zu werden, bestellen Sie das Christliche Medienmagazin pro. In der Titelgeschichte der Ausgabe 5/19 beschäftigen wir uns mit diesem Thema. Die Zeitschrift ist kostenlos hier oder telefonisch (06441/566 77 00) erhältlich.

Von: Martina Blatt

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