Zum Wohle der Kinder

Kinderrechte sollen ins Grundgesetz – so steht es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Das Vorhaben ist umstritten. Während sich die Unterstützer davon bessere Bedingungen für Kinder erwarten, fürchten Kritiker staatlichen Zugriff auf Familien.
Von Jonathan Steinert
Kind, weglaufen, umdrehen

Ein zwölfjähriges Mädchen und sein sechsjähriger Bruder behaupten in der Schule, ihre Eltern würden sie schlagen, wenn sie mit schlechten Noten nach Hause kämen. Die Lehrer informieren das Jugendamt, dieses nimmt die beiden Kinder gleich von der Schule aus in Obhut. Die Eltern verstehen die Welt nicht mehr, beteuern, ihre Kinder nie geschlagen zu haben. Doch das Jugendamt bleibt dabei: Entscheidend sei das Wohl der Kinder, deren Aussagen seien glaubhaft. Vier Wochen absolute Kontaktsperre. In weiteren Gesprächen stellt sich heraus, dass die Eltern offenbar ihren Kindern mal an den Ohren gezogen haben. Das Mädchen korrigiert sich – nur einmal sei sie geschlagen worden. Eigentlich ärgere sie sich darüber, dass ihre Eltern ihr nicht erlaubten, Zeit mit älteren Jugendlichen zu verbringen, und dass sie ihre Handynutzung reglementierten. Nach über einem Monat dürfen die Kinder wieder zu ihren Eltern zurück, da ein Jugendpastor der Gemeinde, die die Eltern besuchten, sich bereit erklärt, die Familie in den nächsten Monaten zu begleiten. So schildert er den Fall.

Szenarien wie dieses sind die große Sorge derer, die eine Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz kritisch sehen. Wenn die Rechte von Kindern Verfassungsrang bekommen, wo bleiben dann die Rechte der Eltern?

Dass Kinderrechte ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen, darauf haben sich SPD und Union im Koalitionsvertrag geeinigt. Befürworter verfolgen dieses Ziel schon seit mehreren Jahren. Bereits 2007 startete das „Aktionsbündnis Kinderrechte“ eine Kampagne dazu. Ende Oktober 2019 präsentierte eine Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern Formulierungsvorschläge. Im November legte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) dem Kabinett einen Gesetzesentwurf vor.

Der Entwurf des Justizministeriums für die Grundgesetzänderung sieht vor, in Artikel 6 einen Absatz 1a zu ergänzen: „Jedes Kind hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft. Das Wohl des Kindes ist bei allem staatlichen Handeln, das es unmittelbar in seinen Rechten betrifft, angemessen zu berücksichtigen. Jedes Kind hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“

Inhaltlicher Ausgangspunkt dafür ist die Kinderrechtskonvention, die die Vereinten Nationen 1989 verabschiedeten. Deutschland hat sie 1992 ratifiziert. Das heißt, die Konvention gilt hierzulande wie ein normales Gesetz. Eine völkerrechtliche Verpflichtung, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, gibt es nicht. Aber die Vereinten Nationen empfehlen Deutschland, die wichtigsten Elemente der Konvention in die Verfassung zu schreiben: den Schutz vor Diskriminierung, den Maßstab des Kindeswohles, das Recht auf Leben und Entwicklung, das Recht des Kindes, bei Entscheidungen, die es betreffen, beteiligt zu werden.

Das steht doch schon im Grundgesetz, wenden Kritiker ein: Die Grundrechte, allen voran die Würde des Menschen, gelten für alle, selbstverständlich auch für Kinder. Das mag sein, erwidern Befürworter, aber Kinder werden dabei nicht ausdrücklich genannt. Das führt dazu, dass den Rechten von Kindern im Zweifel weniger Gewicht gegeben wird als denen von Erwachsenen, etwa wenn es um die Frage geht, ob ein Spielplatz oder ein Kaufhaus gebaut wird. Zwar reichen die bisherigen Formulierungen aus, um Kinderrechte zu garantieren, aber sie werden praktisch zu wenig umgesetzt, heißt es in einem Gutachten, das das Deutsche Kinderhilfswerk dazu in Auftrag gegeben hat.

Antje Lüdemann-Dundua vom christlichen Kinderhilfswerk World Vision erklärt es so: „Kinder kommen bisher im Grundgesetz nur als Anhängsel ihrer Eltern vor. Das wird ihrer Lebensrealität nicht gerecht.“ 20 Prozent der Kinder lebten in Armut oder seien davon bedroht. In Fragen der Schulbildung würden Kinder bisher nicht genug beteiligt, es gebe keine Beschwerdemechanismen für Kinder. „Auch Gewalt gegen Kinder ist leider immer wieder ein Thema, sexuelle Gewalt und Gewalt im Netz“, stellt sie fest. Es sei Luft nach oben, um Kinderrechte tatsächlich zu gewährleisten. Deshalb unterstütze die Organisation die Initiative. Nicht zuletzt, heißt es in einem Papier des „Netzwerks Kinderrechte“, zu dem World Vision ebenso gehört wie die Diakonie oder die Evangelische Arbeitsgemeinschaft Familie und andere, könne es auch ein Signal an Länder sein, die es mit diesen Rechten nicht so genau nehmen: Deutschland sind Kinder und ihre Rechte wichtig.

Sorge vor staatlichem Zugriff

Kritisch sieht die Deutsche Evangelische Allianz (DEA) das Vorhaben, auch wenn es innerhalb ihrer Mitglieder unterschiedliche Positionen dazu gibt. In einer Stellungnahme vom Juli 2018 heißt es: Die DEA erkenne keine Notwendigkeit, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, „weil Kinder, auch Ungeborene, bereits vollwertige Grundrechteträger sind“. Das evangelikale Netzwerk betont: „Kinder dürfen nicht in eine rechtliche Distanz zu ihren Eltern gebracht werden.“ Der Staat müsse vielmehr die Erziehungskompetenz von Eltern unterstützen und Familien ökonomisch absichern. In Artikel sechs des Grundgesetzes steht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Und: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Nur wenn „die Erziehungsberchtigten versagen“ oder die Kinder verwahrlosen, darf der Staat eingreifen.

Wenn nun Kinderrechte ausdrücklich dazukommen, besteht die Gefahr, dass sie gegen Elternrechte ausgespielt werden, sagt Uwe Heimowski, der Politikbeauftragte der DEA. „Der Staat könnte möglicherweise Dinge wie etwa eine Kita-Pflicht oder Erziehungsziele gegen Eltern durchsetzen“, sagt er, auch mit Blick auf Diskussionen um die Sexualethik. Jugendämter könnten Kinder mit Bezug auf das grundgesetzlich verankerte Kindeswohl schneller aus ihren Familien holen als bisher. Die Befürchtungen teilt der Familienbund der Katholiken. „Gefährdet ist nicht weniger als das wohlaustarierte Verhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat“, erklärt der Verbandsvorsitzende Ulrich Hoffmann gegenüber pro. Gerade zum Wohle der Kinder sollte am Selbstbestimmungsrecht der Familie nicht gerüttelt werden. Er fordert stattdessen Gesetze und Maßnahmen, um die Lebenssituation von Kindern konkret zu verbessern.

Kritik am Entwurf

Die Sorgen um das Verhältnis von Eltern und Kindern weist Claudia Kittel vom Deutschen Institut für Menschenrechte zurück. In der Kinderrechtskonvention gehe es darum, „dass die Meinung des Kindes überhaupt gehört wird. Es soll also ein Nachteil ausgeglichen werden. Übrigens unter vollem Respekt vor den Eltern und deren Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder“. Mit dem Entwurf des Justizministeriums ist sie jedoch nicht zufrieden. Er bleibe „signifikant“ hinter den Vorgaben der Konvention zurück. Zu dem Ergebnis kommt auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Gutachten.

Der Soziologe Wolfgang Hammer, ein Kämpfer für Kinderrechte und vielfach von politischen Gremien angehörter Experte, stellte in einer Studie im vorigen Jahr fest, dass Jugendämter immer wieder Kinder in Obhut nehmen, ohne dass deren Wohl gefährdet war – teilweise aus Angst vor Vorwürfen, nicht rechtzeitig eingegriffen zu haben. Zahlreiche Medien berichteten darüber. Gegenüber pro sagt er zur aktuellen politischen Entwicklung: „Die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz muss die Rechte von Kindern gegenüber der staatlichen Gemeinschaft auf eine kindgerechte Umwelt stärken. Zur Zeit sieht es so aus, als ob genau dies nicht beabsichtigt ist. Deshalb befürchten die Kritiker zu Recht, dass die Eingriffe in Familien gestärkt werden sollen.“

Ob es dazu tatsächlich kommt, ist freilich Spekulation. Aber: Neue Begriffe und Formulierungen im Grundgesetz werden auch neue Auslegungen mit sich bringen. „Das wären mögliche Einfallstore für staatliche Eingriffe in familiäre Zusammenhänge“, sagt der Jurist Felix Böllmann, Anwalt bei der christlichen Menschenrechtsorganisation ADF International. Er verweist auf Norwegen, dessen Wohlfahrtsbehörde bei Verdachtsfällen sehr schnell Kinder von ihren Eltern trennt, was in den vergangenen Jahren zu mehreren Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führte. Welchen Effekt eine Grundgesetzänderung haben wird, hängt entscheidend von der Formulierung ab. Noch befindet sich der Entwurf im parlamentarischen Prozess. Am Ende müssen je zwei Drittel der Abgeordneten des Bundestages und des Bundesrates zustimmen.

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Von: Jonathan Steinert

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