„Einen generellen Boykottaufruf finde ich schwierig“

Wegen Menschenrechtsverletzungen steht das WM-Gastgeberland Katar in der Kritik. Im PRO-Interview erklärt der EKD-Sportbeauftragte Volker Jung, warum die Kirche sich keinen Boykottaufrufen anschließt.
Von Martin Schlorke
Der Sportbeauftragte der EKD, Volker Jung

PRO: Einem Bericht des Guardian zufolge sind seit 2011 mindestens 6.500 Arbeiter in Katar gestorben. Viele stünden im Zusammenhang mit Infrastrukturprojekten für die Fußballweltmeisterschaft 2022. Ein breites Fanbündnis fordert wegen der schlechten Arbeitsbedingungen und der hohen Todeszahlen einen Boykott der WM. Auch die Sportarbeit der Evangelischen Kirche in Bayern hat sich dem Boykott angeschlossen. Wie steht die EKD zu solchen Forderungen?

Volker Jung: Jeder Todesfall ist tragisch. Und dass Arbeitsbedingungen für Migrantinnen und Migranten oft nicht menschenwürdig sind, ist ein großes Problem. Nicht nur in Katar. Einen generellen Boykottaufruf aber auf einen einzigen Zeitungsbericht ohne nachvollziehbare Quelle aufzubauen, finde ich schwierig. Ein Problem dieser furchtbaren Todeszahl ist nämlich, dass der Guardian-Artikel sich auf rund 1,5 Millionen Menschen über einen Zeitraum von zehn Jahren bezieht. Die Zeitung sagt nicht genau, ob und wie viele Menschen bei Bauarbeiten für die Sportanlagen wirklich verunglückt sind. Es wäre wichtig, Licht in diese Sache zu bringen und ganz klar offenzulegen, wie fatal die Missstände wirklich noch sind.

Befürwortet die EKD ebenfalls einen Boykott?

Wir sind hier eng mit Gruppen wie Transparency International im Austausch, um uns zu beraten. Neben der Notwendigkeit, den Zeitungsartikel zu hinterfragen und Aufklärung zu fordern, zeigt die Erfahrung leider auch: Boykottaufrufe sind zwar sehr medienträchtig, sie helfen aber oft nicht wirklich. Und sie kommen, was Katar betrifft, auch zehn Jahre zu spät.

Die WM rückt das Emirat jetzt in ein weltweites Brennglas. Es steht unter Beobachtung. Und wir können zu diesem Zeitpunkt feststellen, dass sich die Menschenrechtssituation verbessert hat. Übrigens auch die arbeitsrechtliche Situation, was die Gewerkschaft IG-BAU bestätigt, mit der wir ebenfalls im Gespräch sind. Ohne die WM wäre zum Beispiel die bedrückende Situation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten in dem Land kaum ins Bewusstsein gekommen.

Amnesty International regt sogar an, dass die nationalen Sportverbände noch mehr Druck auf die Fifa machen sollen, damit das Thema der prekären Arbeitsverhältnisse im Fokus der Weltöffentlichkeit bleibt und sich die Lage der Menschen dadurch verbessert. Das wäre also das genaue Gegenteil eines Boykotts.

Das bessere Ziel liegt für mich tatsächlich darin, die Aufmerksamkeit für den Sport weiter zu nutzen, um positive Veränderungen für die Menschen zu erreichen.

Die Kirche äußert sich vielfältig zu anderen gesellschaftlichen Themen und tritt als Mahner auf. Die Umweltexperten der EKD fordern ein Tempolimit und setzt sich für zivile Seenotrettung ein. Warum gibt es zu Katar keine solche klare öffentliche Haltung?

Die gibt es längst. Nach der Vergabe der WM an Katar haben wir verschärfte Transparenzkriterien bei den Verfahren angemahnt. Insbesondere die Einhaltung der Menschenrechte sollte einen höheren Stellenwert erhalten, wenn es um die Auswahl künftiger Austragungsorte für sportliche Großereignisse wie eine WM oder Olympia geht. Ich habe zudem den Zeitpunkt der Fußball-WM scharf kritisiert. Sie kollidiert voll mit der Adventszeit. Immerhin ist das Endspiel jetzt vor Weihnachten. 

Es gibt aktuell keinen öffentlichen Boykottaufruf der EKD. Welchen Umgang mit Katar und der WM empfiehlt die EKD stattdessen?

Die Kirchen können bei einer Fußball-WM auf Menschenrechtsverletzungen oder eine schwierige politische Situation hinweisen. Vor allem dann, wenn der Ball einmal rollt und das dann niemand mehr tut. Gleichzeitig müssen wir das aber auch realistisch sehen. Wir sind als evangelische Kirche keine Welt-Werteagentur, die mit erhobenem Zeigefinger moralische Appelle von sich gibt, worauf sich am anderen Ende des Globus plötzlich alles ändert. Das schafft ja noch nicht einmal die UN. Bei alldem müssen wir uns aber auch an die eigene, deutsche Nase fassen. Wir treten als evangelische Kirche zum Beispiel schon jetzt dafür ein, dass wir in Deutschland 2024 eine nachhaltige EM hinbekommen. Das fängt damit an, wo und unter welchen Bedingungen Fan-Trikots genäht oder Fußbälle hergestellt werden. Da können wir alle wirklich etwas bewirken.

Der DFB hat sich noch nicht auf die neuerlichen Vorwürfe und die Fan-Forderungen geäußert. Der öffentliche Druck steigt jedoch. Was könnte ein Boykott der WM durch den DFB für andere Länder bedeuten?

Das kann ich gegenwärtig nicht abschätzen. Und ich halte das auch ehrlich gesagt für ein wenig wahrscheinliches Szenario.

Seit 2015 ist klar, dass die WM in der Adventszeit stattfinden wird. Damals beschwerte sich unter anderem der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm über die Winter-WM. Er wolle sich als Christ und Fußball-Fan nicht zwischen dem Sport und dem Advent entscheiden. Hat sich an dieser Haltung der EKD bezüglich der Terminvergabe etwas geändert?

Nein. Ich kann mir eine Fußball-WM mit Adventskranz neben dem Fernseher einfach noch immer nicht richtig vorstellen. Vermutlich werde ich aber, wenn es denn so weit ist, mir dann trotzdem auch das eine oder andere Spiel anschauen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Martin Schlorke.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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