Eine Pastorin zwischen Welten

Mira Ungewitter gehört als Baptistenpastorin in Österreich eigentlich zu einer konservativen christlichen Strömung. Doch sie bezeichnet sich als Feministin und eckte auch schon beim Thema Abtreibung an.
Von Anna Lutz

Sieben Jahre ist es her, da hätte ein Zitat über Abtreibung Mira Ungewitter fast den Job gekostet. Eine Journalistin besucht sie damals in ihrer Baptistengemeinde in Wien, die beiden Frauen sprechen über alles mögliche und als das Gespräch fast vorbei ist, stellt die Reporterin eine letzte Frage, fast so als wäre die Sache beiläufig: „Ist Abtreibung eigentlich Sünde?“ Ungewitter hadert. Überlegt. Sünde, wie soll man diesen Begriff nun in der kurzen Zeit einordnen? Wie das Thema seelsorgerlich und zugleich theologisch richtig anfassen, ohne die Antwort ganz zu verweigern? Sie formuliert etwas holprig, aber vorsichtig: „Zu diesem Dogma oder zu diesem Schluss, dass Abtreibung grundsätzlich eine Sünde ist, dazu komme ich in meinen Überlegungen zu Gott und zum Glauben nicht.“

Der Artikel mit dem Zitat erscheint an Heiligabend. Erst Wochen später folgt der Knall. Zehn von 40 baptistischen Gemeindeleitungen in Österreich wenden sich in einer E-Mail an die Bundesleitung und fordern Ungewitter auf, die Aussage zurückzunehmen oder den Baptistenbund zu verlassen.

„Gott ist Feministin“

November 2023. Mira Ungewitter sitzt am Konferenztisch der Berliner PRO-Redaktion, rafft sich die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und bringt ihr Shirt mit dem Logo der Grunge-Band Nirvana in Form. Sie erinnert sich sofort an jenes Interview von 2016. „Ich war noch sehr unerfahren mit Presse damals“, sagt sie. Heute ist das anders. Mira Ungewitter hat drei Bücher veröffentlicht, eines davon trägt den provokanten Titel „Gott ist Feministin“. Darin beleuchtet sie unter anderem biblische Figuren wie Maria Magdalena, die blutende Frau oder Maria, die „Mutter Gottes“.

Sie wurde von der „Zeit“ interviewt, dem Deutschlandfunk oder dem Schweizer Fernsehen. Ihr erstes großes Interview bereut sie nicht, drückt die Dinge aber heute weit differenzierter aus: „Ich finde es schlimm, wenn Kinder, die zum Beispiel das Downsyndrom haben könnten, auf Verdacht hin abgetrieben werden.“ Selbstverständlich lebte sie am liebsten in einer Welt, in der es keine Abtreibungen gäbe. Dennoch ist sie gegen ein Abtreibungsverbot. Weil ein Verbot am Ende sogar mehr Leid mit sich bringe, wie sie sagt: „Das verhindert die Abbrüche nicht, gefährdet aber die Frauen, die es dann illegal und unter schlechten Bedingungen machen“, ist sie überzeugt.

Die Kirche als innerer Gegenpol

Es ist wohl gerade diese Gratwanderung, dieses Bewegen zwischen den Welten, die Ungewitter für auch säkulare Medien so attraktiv macht. Einerseits ist sie freikirchliche Pastorin, andererseits segnet sie in Wien gelegentlich sogar gleichgeschlechtliche Paare, schließlich seien alle Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Sie schrieb ein Buch darüber, wie sie mit ihrem VW-Bus um die Welt reist und bezeichnet sich als Feministin. Ungewitter kommt aus einer traditionellen Kölner Baptistengemeinde. Ihre Eltern waren sowohl traditionell als auch progressiv, die Mutter religiös, aber von den 68ern geprägt, der Vater ein Agnostiker. Von ihrer Mutter habe sie eine tiefe Frömmigkeit, aber auch das Hinterfragen von Traditionen gelernt, sagt die Pastorin heute. Als Teenager ist sie früh in Clubs unterwegs, feiert die Nächte durch – und sitzt dennoch jeden Sonntag freiwillig im Gottesdienst. „Ich war wohl in beiden Welten etwas Besonderes“, sagt sie und meint: Als Christin, die feiern ging, und als Partygirl, das betete. „Ich wusste immer: Man kann sich in dieser Partywelt auch verlieren. Die Kirche ist mein innerer Gegenpol.“

Als 19-Jährige arbeitet sie freiwillig auf einem Missionsschiff in Honduras mit. Einer Art schwimmender Klinik für Zentralamerika und die Karibik, in der vor allem evangelikale Christen unter dem Motto „Bringing Hope and Healing“ sowohl den Glauben weitergeben wollen als auch ganz praktisch vor Ort helfen. Ausgerechnet dort hat die Abiturientin ihre erste Glaubenskrise. „Ich bin nach drei Tagen Anreise angekommen und eine Gruppe betete für mich. Unter anderem dafür, dass ich meine Jungfräulichkeit bewahre“, erinnert sich die heute 38-Jährige. „Dabei wollte ich dort an Bord doch nur Teller spülen“, sagt sie und kann heute darüber lachen. 2004 überfordert sie die Enge dieser frommen Welt. In ihrem Tagebuch notiert sie damals: „Wieso habe ich das Gefühl, dass man mir einen Mord hier eher vergeben würde als vorehelichen Sex?“

Berufung in der Konzerthalle

Nach ihrer Rückkehr macht sie eine Ausbildung zur Eventmanagerin, lernt besonders das Rechnungswesen zu hassen und merkt: Der Schreibtisch ist kein Ort für mich. Ihrer Baptistengemeinde bleibt sie in all der Zeit treu, arbeitet ehrenamtlich mit. Ihre Berufung entdeckt sie schließlich auf einem Konzert.

Die Band „Glashaus“ ist Anfang der 2000er Jahre bekannt für poppigen Soul. Sie gehört zum Label des Rappers Moses Pelham, der auch dabei half, Xavier Naidoo bekannt zu machen. Religiosität und Popszene – das schloss sich keineswegs aus. Nicht nur Naidoo war damals bekannt für christliche Texte. Glashaus interpretierte unter anderem den Bonhoeffer-Klassiker „Von guten Mächten“ und füllte mit Musik wie dieser Stadien. Es ist vermutlich kein Zufall, dass Mira Ungewitter ausgerechnet in dieser Atmosphäre, irgendwo zwischen Mainstream und Spiritualität, inmitten von Tausenden anderer Konzertbesucher, plötzlich etwas ausspricht, das ihr bisher nicht in den Sinn gekommen war: „Ich könnte Theologie studieren“, sagt sie zu ihrer Freundin. Und die antwortet prompt: „Ja, mach das doch.“ Die Sache ist innerhalb von Sekunden entschieden.

Progressiv und konservativ

Zunächst bewirbt sie sich am russlanddeutsch-mennonitisch geprägten Bibelseminar Bonn, wo auch ihre Freundin studiert. Entscheidet sich dann aber für ein Studium an der Universität in Bonn. Und beendet die Ausbildung schließlich am Seminar der Baptisten, in Elstal bei Berlin. Auch hier ist sie wieder zwischen den Welten unterwegs, ist die Konservative an der Uni, die Progressive im Bibelseminar und irgendwo in der Mitte bei den Baptisten. „Das hilft beim Abgewöhnen von Feindbildern“, sagt sie.

Als sie ihre heutige sogenannte „Projektgemeinde“ in Wien im Rahmen eines Praktikums kennenlernt, sind Pastorinnen im Baptistenbund der Österreicher noch nicht erlaubt. Sie kann nur deshalb dort arbeiten, weil der Bund sich darauf einlässt, sie als deutsche Pastorin sozusagen auszuleihen. Der weltweite Baptismus ist so bunt wie der Regenbogen. Und doch zählen die Österreicher eher zu den konservativen Bünden. Als Ungewitter ihre Stelle antritt, sind Frauen im Amt alles andere als normal, auch wenn ihre Gemeinde heute zu den liberaleren zählt.

„Lions Club für Arme“

„Ich bekomme natürlich nicht für alles Applaus“, sagt sie, wenn sie etwa auf ihre feministische Lesart der Bibel angesprochen wird. Dennoch stehe ihre Gemeinde hinter ihr und sie hinter ihrer theologischen Prägung und ihren evangelikalen Wurzeln: „Das hat mir als Jugendliche Sicherheit und Selbstbewusstsein gegeben. Wichtig ist doch, dass sich schon Jugendliche wertvoll fühlen und lernen: Du bist nicht verfügbar.“ Und noch etwas schätzt sie an ihrer Freikirche: „Egal in welcher Stadt ich jemals stranden würde, ich wüsste, ich kann in eine Baptistengemeinde gehen und würde dort Hilfe finden. So eine Art Lions Club für Arme.“

Zurück im Jahr 2017, wenige Monate, nachdem ihr Zitat zum Thema Abtreibung erschienen war. Ungewitter muss sich vor rund 15 Baptistenleitern rechtfertigen, in der Runde sind lediglich zwei oder drei Frauen. Viele der hier Anwesenden wollen sie entlassen sehen. Doch das Gespräch endet anders als erwartet. Ausgerechnet ein älterer Pastor springt Ungewitter zur Seite, erzählt von der komplizierten früheren Schwangerschaft seiner Frau, dass sie fast gestorben wäre bei der Geburt. Er gibt zu: Hätte er eine Entscheidung zwischen dem ungeborenen Kind und seiner Frau treffen müssen, hätte er sich für das Leben seiner Frau entschieden. Damit endet das Gespräch nicht, aber die Stimmung ändert sich. Am Ende kann sie dem Treffen sogar Positives abgewinnen. Es habe auf beiden Seiten für mehr Verständnis gesorgt. Denn es nicht nur Ungewitter, die Toleranz für ihre liberalen Positionen erwarten kann. Auch die konservativen Stimmen haben ein Recht, von ihr gehört und reflektiert zu werden. Seien es Geistliche aus ihrem Bund oder ganz normale Gemeindemitglieder.

Mira Ungewitters Geschichte ist keine der moralischen Normen und Regeln. Sie ist eine, die von Annahme erzählt. Von Toleranz im Miteinander. Deshalb kann sie sich heute – trotz aller Differenzen, die sie auch mit ihren eigenen Glaubensgeschwistern hat – freuen, wenn ein neues Interview in der „Zeit“ mit ihr erscheint: „Da steht dann ganz selbstverständlich: ‚Mira Ungewitter, Baptistenpastorin‘. Ist das nicht toll?“, sagt sie.

Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.

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