„Ein Horizont, den ich vorher nie hatte“

Jörg Dechert leitete ein Jahrzehnt lang ERF Medien. Nun folgt er einer neuen Berufung. Im zweiten Teil des PRO-Interviews spricht er offen über den herausfordernden Weg seiner Entscheidungsfindung. Und wie er damit umgeht, dass manches unvollendet bleibt.
Von Christoph Irion
Jörg Dechert

PRO: Genau zehn Jahre lang warst du Vorstandsvorsitzender beim ERF. In wenigen Tagen, am 30. September, „endet diese Berufung“, so hast du es selber formuliert. Insgesamt warst du 25 Jahre lang beim ERF tätig, fast die Hälfte deines bisherigen Lebens. Ganz viel hat sich seither verändert. Der frühere christliche Radio- und Fernsehsender hat sich digital diversifiziert, seine Reichweiten gesteigert. Während der Corona-Zeit habt ihr ein modernes, ganz neues Medienhaus entwickelt und gebaut. Was bedeutet dieses Vierteljahrhundert beim ERF für dich persönlich? Was hast du gelernt? Was hat dich hier geprägt? Als Mensch, als Medienprofi, als Gotteskind?

Jörg Dechert: Es ist unfassbar viel, was ich gelernt habe. Oft denkt man ja zuerst an das, was man im Rahmen seiner Arbeit so bewegt und geprägt hat: Was sind die Erfolge, so wie das vielleicht in einem Arbeitszeugnis stehen würde? Aber Prägung geht ja immer auch in die andere Richtung; die Arbeit und das Miteinander prägen ja auch mich. Und ganz viel von dem, was ich gelernt habe über Christsein, über Glauben, über Gott, über Leiterschaft und Zusammenarbeit – das habe ich hier gelernt. Mit und von den Kolleginnen und Kollegen beim ERF.

Was zum Beispiel?

Ich sage immer: Es gibt niemanden, von dem ich nichts lernen kann. Manchmal sind es ganz unscheinbare Dinge. Ich finde das großartig. Oder zum Beispiel bei den Andachts- und Gebetsgruppen, die wir im ERF haben: Das ist nicht Chefsache, sondern das können alle mitgestalten. Nicht jede Andacht erlebst du als inspirierend, aber oft habe ich einzelne Sätze, neue Gedanken und Fragen von anderen mitgenommen, die mich weiterbringen. Manchmal sind es halt die kleinen, vermeintlich unscheinbaren Dinge, die dich prägen.

„Es gibt niemanden, von dem ich nichts lernen kann.“

Und du bist viel rumgekommen, bist unzählig vielen Menschen begegnet …

Ja, ich habe dadurch einen Horizont bekommen, den ich vorher nie hatte. Dazu zählt auch das Erleben der verschiedenen geistlichen Strömungen und das Wachsen eines großen persönlichen Netzwerks. Beim letzten Willow-Leitungskongress ist mir das erst richtig bewusst geworden. Ich fahre da seit vielen Jahren hin, aber diesmal habe ich vom Kongressprogramm so gut wie nichts mitgekriegt. Ich war fast pausenlos nur in der Ausstellungshalle und habe mit so vielen Leuten aus meinem Netzwerk geredet. Ein großartiger Reichtum an Impulsen, an Fragen, an Ideen – und ja, manchmal auch an Absurditäten in unserer „Szene“. Da kann und muss man auch mal schmunzeln, auch über sich selbst.

Du sprachst eben von dem Bild, wie es im Arbeitszeugnis vermittelt wird. Da stehen dann bei einer erfolgreichen Führungskraft schöne Erfolge, beeindruckende Arbeitsergebnisse. Und gleichwohl weiß jeder, der in Verantwortung steht, dass wir immer auch an Grenzen stoßen …

Oh ja, diese 25 Jahre beim ERF waren voller wunderbarer Chancen, aber da waren auch Grenzen. Auch eigene Grenzen.

Man könnte sagen: Innerhalb eines Jahrzehnts habt ihr die ERF-Welt neu erfunden. Ihr habt intensive Phasen des rasanten und dramatischen Wandels gestaltet. Da ist viel gelungen. Aber manches klappt nicht. Und einiges geht sogar kaputt. Auch manche Menschen können nicht so gut mit. Es gibt Stress, auch Missverständnisse, manchmal getrennte Wege…

Und manches bleibt unvollendet, was man sich anders gewünscht hätte. Hm… Ich habe im Laufe der Zeit gelernt – und bin damit auch noch nicht fertig –, diese Dinge aus Gottes Hand zu nehmen und zu akzeptieren: Ja, manches ist anders gelaufen, als ich es mir gewünscht habe. Manches ist unfertig geblieben. Manchmal sind Menschen enttäuscht worden, was ich gar nicht wollte. Aber du kannst bei allem Bemühen, Menschen mitzunehmen, am Ende nicht garantieren, dass es für alle funktioniert. Und es hat nicht für alle funktioniert …

Wie hast du das erlebt?

Ich erinnere mich gut an Gespräche, in denen sich zwei Ansprüche gegenüberstanden. Der eine war: Du musst uns mitnehmen! Und der andere: Ihr müsst auch mitkommen! Das kriegst du nicht immer aufgelöst zur Zufriedenheit aller. Ich bin auch manchmal an den Punkt gekommen, an dem ich dachte: Schade, aber hier bin ich jetzt am Ende meiner Möglichkeiten.

Und wenn sich Wege von Menschen trennen, die als Christen miteinander auf einem gesegneten Weg waren?

Da gibt es ja diese spannende Geschichte von Paulus und Barnabas in der Apostelgeschichte, die zitieren wir dann immer gern: Guck mal, bei Paulus war das auch so. … Ja, manchmal sind getrennte Wege vielleicht wirklich der am wenigsten schlechte Weg, wenn wir trotz aller Bemühungen keine gemeinsame Vorstellung hinbekommen. Auch ich muss mir selber das eingestehen und sagen: Selbst nach bestem Wissen und Gewissen geht es einfach nicht immer gut. Und ich weiß: Auch ich habe es manchmal nicht so gut gemacht, wie es vielleicht gegangen wäre. Auch ich habe Fehler gemacht, die vermeidbar gewesen wären.

„Gott erweist sich meistens als viel größer und gnädiger, als wir uns das vorher vorstellen können.“

Aber im Ergebnis muss dies nicht immer negativ enden …

Nein, und das habe ich Gott sei Dank auch gelernt. Denn Manches scheint nur auf den ersten Blick als Katastrophe, und nachher wird trotzdem etwas Gutes daraus, für alle Beteiligten.

Ein Beispiel?

Für mich war es immer wieder bemerkenswert, wenn Menschen, die gegangen sind, nach ein paar Monaten zu Besuch vorbeigekommen sind und dann relativ entspannt und fröhlich erzählt haben, wie ihr Weg weiter gegangen ist. Oft anders als früher im ERF. Und manchmal vielleicht sogar besser. Ich glaube, wir sollten in unseren christlichen Organisationen manche Dinge etwas weniger dramatisch sehen, als wir das tun. Weil wir ja doch erleben können: Gott erweist sich meistens als viel größer und gnädiger, als wir uns das vorher vorstellen können.

Wie war es für dich persönlich, als du erkannt hast: Meine Berufung als ERF-Chef neigt sich dem Ende zu – eine neue kommt? Wie soll man sich das vorstellen? Da ist eine zielstrebige, dynamische, erfolgreiche Führungskraft im Reich Gottes unterwegs. Und die weiß ab einem bestimmten Punkt, ich werde meinen Vertrag nicht verlängern?

Der Begriff „Erkenntnisprozess“ trifft es vielleicht besser als die Vorstellung von einem bestimmten Punkt. Für mich war schon 2014 die Berufung in den Vorstandsvorsitz stark mit einer „Change-Agenda“ verbunden. Mir war damals klar: Hier ist jetzt Modernisierung dran, und auch nicht nur so ein bisschen, sondern schon in wesentlichen Aspekten unserer Organisation. Ich habe damals dem Aufsichtsrat gesagt: Ich bin kein Mensch für Kontinuität und Bestandspflege. Wenn ihr mich wollt, dann müsst ihr wissen: Ihr wählt den Wandel. Damals haben wir uns gegenseitig in die Augen geschaut und gesagt: Ja, wir wollen das. Seitdem hatte ich immer das geistliche Empfinden: Was Gott durch mich bewegen will, ist, eine Modernisierung anzuschieben und anzuführen. Als Vorstände beim ERF haben wir Fünfjahresverträge, und ich habe gedacht: Wenn’s schiefgeht, fünf Jahre stehst du irgendwie durch. Aber mir war klar: Um einen Kulturwandel wesentlich voranzubringen, wären zehn Jahre schon notwendig. Ich hatte also frühzeitig einen Horizont von erst einmal zehn Jahren vor Augen …

Ab wann hast du konkret an eine echte Weichenstellung gedacht?

Mit 43 Jahren bin ich als Vorstandsvorsitzender berufen worden. Sieben Jahre später, mit 50, bin ich mit mir selbst in Klausur gegangen. Das war mir wichtig, mal vor mir selbst Rechenschaft abzulegen: Was ist geworden? Wer bin ich geworden? Von welchen Vorstellungen muss ich mich vielleicht verabschieden? Welche Träume will ich loslassen? Und dabei habe ich erlebt, wie Gott die Frage nach meiner Berufung wieder hervorgeholt hat …

Wie lief das genau?

Innerhalb von zwei Tagen ist mir damals deutlich geworden: Wenn die zehn Jahre voll sind, wird deine Berufung in diesem Amt enden. Der „Bogen der Berufung“ wird sich dem Boden zuneigen, und auch wenn der Wandel in so einer Organisation natürlich nie fertig ist – meine Berufung wird dann abgeschlossen sein. Ich hatte den Eindruck, dass Gott sagt: Diese dichte Sturm- und Drang- und Modernisierungsphase im ERF, für die ich dich berufen habe, geht zu Ende. Und was danach kommt, das zeige ich dir später …

Das klingt spannend – aber nicht gerade komfortabel …

Ja, richtig. Diese Reihenfolge hat mir nicht gefallen. Ich bin ein Stratege und denke die Dinge gerne voraus, deshalb hätte ich das gerne von Gott anders herum gehabt. Aber so war es halt nicht.

Wie ging es weiter?

Zwischen diesem Erkenntnismoment und heute liegen drei Jahre. In dieser Zeit habe ich meinen Eindruck mit Freunden gegengecheckt und gefragt: Wie seht ihr das? Und gebetet. Und im Frühjahr 2023 war es dann klar für mich, und ich habe meine Entscheidung getroffen: Ich werde nach zehn Jahren mein Amt loslassen.

„Berufung ist ein scheues Reh, und solche Prozesse dauern eine Weile.“

Du hattest die Erkenntnis, dass deine Berufung beim ERF zu Ende geht, aber wo dein persönlicher Weg hinführen soll, das blieb erstmal im Nebel. Kommen einem da nicht Zweifel?

Der Eindruck, dass eine neue Berufung bevorsteht, war mittlerweile so stark, dass ich da nicht gegen ankonnte. Das Reden Gottes war fast stärker als die ursprüngliche Berufung 2014. Vielleicht war das auch nötig: Wir haben eine kluge Regelung bei uns, dass Vorstandsmitglied und Aufsichtsrat sich alle fünf Jahre in die Augen schauen und besprechen, wie sie jeweils über eine Verlängerung denken. Rein menschlich gesehen wäre es für beide Seiten nachvollziehbar gewesen, noch einmal fünf Jahre weiterzumachen. Aber bei mir war die Erkenntnis inzwischen eine andere, und gemeinsam haben wir dann in Aufsichtsrat und Vorstand gesagt: Wir müssen und werden damit umgehen, und wir haben jetzt ein Jahr Zeit, diesen Prozess aktiv zu gestalten. Und wenn das wirklich Gottes Reden ist, dann dürfen wir gemeinsam auch darauf vertrauen, dass für beide Seiten Gutes daraus wird – für meine Biografie, aber auch für den ERF und seine „Werksbiografie“.

Und jetzt sind wir ein Jahr weiter …

Ja. Und inzwischen ist die Nachfolgefrage im ERF geklärt. Ich freue mich sehr, dass Aufsichtsrat und Mitgliederversammlung Susanne Thyroff als designierte Vorstandsvorsitzende ab 1. Januar 2025 berufen haben. Und parallel zu diesem Prozess habe auch ich Klarheit gewonnen über meine Beteiligung an der Gründung der sinnkubator gGmbH und über meine Rolle als ihr geschäftsführender Gesellschafter.

Der Weg bis hierher war spannend und ganz schön herausfordernd, oder?

Ja, Berufung ist ein scheues Reh, und solche Prozesse dauern eine Weile. Bei mir zumindest. Aber ich habe in dieser Zeit auch gelernt, diese Offenheit für das, was Gott an Ideen haben könnte, positiv zu sehen und eben nicht als Kontrollverlust. Ich habe gelernt, mich einzulassen auf die Ungewissheit, wie es für mich persönlich weitergehen würde. Und sogar Freude daran zu empfinden. Es ist mir auch bewusst, dass es ein Privileg ist, vor dem letzten Drittel einer Berufsbiografie noch mal fragen zu dürfen, wie es nochmal anders und ganz neu weitergehen kann. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wie ich einmal zurückblicken werde auf das Reden Gottes in diesen Monaten. So wie ich ihn auf meiner geistlichen Reise bisher kennengelernt habe, bin ich oft „reingerutscht“ in neue Aufgaben. Und erst im Rückblick habe ich sehen können: Das hat Gott wirklich gut gemacht! Warum sollte es diesmal anders sein?

Dies ist Teil 2 eines längeren Gesprächs mit Jörg Dechert. Im ersten Teil spricht der scheidende ERF-Chef über sein neues Projekt. Und wie er ab 2025 mit der gemeinnützigen Firma „Sinnkubator“ die Gründung christlicher Statups fördern will.

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