Noch vor ein paar Jahren war die Stimmung in Eriwan, Armeniens Hauptstadt, gelöst. Der amtierende Ministerpräsident Nikol Paschinjan war frisch ins Amt gewählt worden. Vielen galt er als Reformer. Derjenige, der die Republik Armenien Richtung Europa führen könnte und aufräumen würde mit dem Sowjet-Erbe sowie der Korruption im politischen Betrieb Armeniens. Die Euphorie um Paschinjan und seine Partei „Zivilvertrag“ war zu Amtsantritt groß.
Jedoch hat sich der Wind in Armenien gedreht. Nach dem verlorenen Krieg im Herbst 2020 um die Enklave Bergkarabach und dem darauffolgenden Exodus von etwa 120.000 Armenierinnen und Armeniern im Jahr 2023 ist das Land innerlich aufgewühlt.
Ein versuchter Staatsstreich – durch die Kirche?
Politisch braut sich in Armenien etwas zusammen. In den letzten Monaten und Wochen bildete sich eine oppositionelle Protestbewegung auf den Straßen Eriwans. Bagrat Galstanjan, ein Erzbischof der Armenisch-Apostolischen Kirche, steht der Bewegung vor. Dieser fordert den Rücktritt des Ministerpräsidenten Paschinjan. Im Juni ließ der Ministerpräsident den Erzbischof verhaften. Der Vorwurf: Ein geplanter Staatsstreich. Angeblich wollten der Geistliche und seine Verbündeten mit Sprengsätzen, inszenierten Autounfällen und der gezielten Störung des Internets Chaos in Armenien verursachen, wie die NZZ berichtete.
„Die Armenisch-Apostolische Kirche hat traditionell starke Verbindungen zu Russland. Hinzu kommt, dass der gegenwärtige Katholikos (Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, Anm. d. Red.) Kontakt zu Robert Kocharyan, einem ehemaligen Premierminister Armeniens und persönlichem Freund Putins hat. Die Kirche und der Staat sollten im Grunde getrennt sein. Unser jetziger Premierminister Paschinjan fordert sogar, dass eine Kommission einberufen wird und dass der jetzige Katholikos abdankt. Das ist alles keine gute Mischung“, stellt Baru Jambazian, CEO einer größeren christlichen NGO, in Armenien fest.
Hinzu kam eine mediale Schlammschlacht zwischen Armeniens Ministerpräsidenten Paschinjan und dem amtierenden Katholikos, Karekin II. Nersissian. Der Ministerpräsident beschuldigte den Katholikos des „Bruchs des Zölibats“. Zudem behauptete er, der Katholikos hätte eine uneheliche Tochter. In regierungsnahen Medien kursierten Bilder der angeblichen Tochter. Der Katholikos konterte darauf hin, dass der Ministerpräsident beschnitten und damit kein richtiger armenischer Christ sei. Die Absurditäten gipfelten darin, dass der Ministerpräsident dem Katholikos, Karekin II. Nersissian, über einen Facebook-Post anbot, ihn in seinem Büro vom Gegenteil zu überzeugen.
Kurioserweise gibt es Verbindungen von armenisch-russischen Oligarchen, wie Samvel Karapetyan, hinein in die armenisch-apostolische Kirche. Gemeinsam möchte man Politik machen gegen die aktuelle Regierung.
„Was sich zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Katholikos, dem Oberhaupt der Armenisch-Apostolischen Kirche, gegenwärtig abspielt, ist ein Witz. Uns ist das sehr peinlich, auch dass man in Europa alles durch die Medien mitbekommt“, so Baru Jambazian weiter.
Der Krieg im Iran
Israels Krieg gegen den Iran oder „Rising Lion“, wie Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Aktion nannte, hatte bereits Auswirkungen auf den Kaukasus-Staat. Armenien importiert Waren des alltäglichen Lebens aus dem Iran. Bei einem längeren Krieg hätte dies zu erheblichen Preissteigerungen geführt. Das Rote Kreuz hatte sich an der Landesgrenze in Stellung gebracht, um Geflüchtete zu empfangen. Einige Iraner überquerten die Grenze. Ein großes Kontingent an Flüchtlingen hätte Armenien ohnehin nicht aufnehmen können. Neben einer aserbaidschanischen Minderheit leben auch Armenier im Iran. Armenien und der Iran sind politisch befreundet.
In diesen ganzen Themenkomplex spielt hinein, dass Israel und Aserbaidschan eine strategische Allianz verbindet. Israel liefert modernste Waffen an Aserbaidschan. Im Gegenzug bezieht Israel Öl aus Aserbaidschan. Rund 40 Prozent seines Öls kommt für Israel aus Aserbaidschan. Vermutet wird auch, dass Israel für Operationen gegen den Iran Aserbaidschan als militärische Basis nutzt, so eine geopolitische Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung.
„Es wäre den Menschen im Iran zu wünschen, dass das Ayatollah-Regime verschwindet. Aber wenn danach Chaos im Iran ausbricht, kann das auch für Armenien gefährlich werden“, kommentiert Baru Jambazian die Situation im Iran.
Gemeinden in Armenien
Die Geflüchteten aus der Region Bergkarabach, aus dem Jahr 2023, werden bis heute von evangelischen Gemeinden seelsorgerlich betreut. Der größte konservativ-pfingstlerisch geprägte Brüdergemeinde-Bund Armeniens verteilt einmal im Monat ein Mittagessen an Geflüchtete. Begleitet wird dieser diakonische Dienst mit einem geistlichen Programm. Mittlerweile haben sich sogenannte protestantische Geflüchteten-Gemeinden gegründet, die sich über Armenien verteilt befinden. Leider gibt keine gemeindeübergreifende Koordination der Geflüchteten-Arbeit, die in eine armenisch-evangelische Allianz eingebettet wäre. Jede Ortsgemeinde hilft so, wie eigene Ressourcen es zu lassen.
Die Armenisch-Apostolische Staatskirche ist weiterhin sehr aktiv in der Geflüchteten-Hilfe. Die Umsetzung hängt selbstverständlich mit dem Engagement der Priester in den lokalen Ortsgemeinden zusammen. Im letzten Jahr rief der amtierende Katholikos, gemeinsam mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen, zu weltweitem Gebet für Frieden für Armenien, der Unterstützung der Geflüchteten und der Freilassung armenischer Geiseln aus Aserbaidschan auf.
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Der Besuch von Premierminister Nikol Paschinjan beim türkischen Präsidenten Erdogan im letzten Monat war historisch, wie in der „taz“ zu lesen war. In der Beliebtheitsskala unter Armeniern ist Paschinjan damit nicht aufgestiegen. Um die eigene Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, braucht Armenien eine Anbindung an den internationalen Warenverkehr. Ohne eine Grenzöffnung hin zur Türkei ist das nicht möglich. Der Premierminister ist bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen: der Verzicht auf die türkische Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch die Osmanen um 1915.
Armenien ist in einer verzwickten Lage. Russland hat kaum Interesse an der Verteidigung des Landes. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev will bisher keinen Friedensvertrag mit Armenien unterzeichnen. Die Armenisch-Apostolische Kirche macht ihre eigene Politik. Evangelische Gemeinden sind politisch zu unbedeutend, als dass sie ins Gewicht fallen.

Lukas Reineck arbeitet als Projektkoordinator für die Organisation Christlicher Hilfsbund im Orient e.V., die in Armenien humanitäre und geistliche Projekte betreibt.
Wie in dem Märchen um Münchhausen wird sich Armenien schwerlich am eignen Schopf aus dem Schlamassel ziehen können. Die Menschen trauen dem momentanen Frieden nicht. An Schießständen üben armenische Zivilisten vermehrt den Umgang mit Waffen. Man will vorbereitet sein für den Ernstfall. 2026 wählen die Armenier ihr Parlament neu. In welche Richtung das Land politisch auch geht, ist offen. Es bleibt zu hoffen, dass das älteste christliche Volk einen langen und dauerhaften Frieden erlebt.