„Bis Ende des Jahres werden keine Armenier mehr in Bergkarabach leben“

Die Lage in Bergkarabach ist undurchsichtig. Lukas Reineck war vor wenigen Tagen in Armenien. Im Interview erklärt er, warum die Lage für Christen schwierig ist, was es mit dem Konflikt um Bergkarabach auf sich hat und wie die Stimmung vor Ort ist.
Von Swanhild Brenneke

PRO: Wie ist die Situation gerade in Bergkarabach?

Lukas Reineck: Die momentane Situation in Bergkarabach oder, wie man auf Armenisch sagt, „Arzach“ ist angespannt und undurchsichtig. Der Angriff des aserbaidschanischen Militärs am Dienstag letzte Woche hat dazu geführt, dass die meisten Armenier, die in diesem Gebiet leben, sich auf den Weg Richtung Grenze zur Republik Armenien machen. Die Zahlen über Verletzte und Tote seit der aserbaidschanischen Aggression am Dienstag vergangene Woche variieren immer mal wieder. Zuletzt hatte ich von 200 Verletzten und 30 Toten gehört.

Bis zu 120.000 Armenier leben in der Enklave Bergkarabach. Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan hat verlauten lassen, dass das armenische Sozialministerium diese „Flüchtlingswelle“ bewältigen kann. Von Partnern aus Eriwan hörte ich aber, dass die Regierung mit den vielen Menschen aus Bergkarabach überfordert ist und armenische und internationale NGOs bei der Aufnahme und Betreuung der Geflüchteten helfen müssen.

Polizeiaufgebot in Eriwan

Armenien ist in etwa so groß wie das Saarland. Die 120.000 Bergkarabach-Armenier aufzunehmen, benötigt viele Ressourcen. Für ein Land wie Armenien, das knapp drei Millionen Einwohner hat, ist das ein enormer Kraftakt.

Sicherlich können nicht alle Menschen gleichzeitig Bergkarabach verlassen. Aus den Medien ist zu entnehmen, dass circa 30.000 Menschen die Grenze nach Armenien überschritten haben. Die erste Anlaufstelle für viele der Geflüchteten ist die Stadt Goris in der armenischen Republik. Da in den letzten Wochen kaum noch Benzin in Bergkarabach für die armenische Bevölkerung vorhanden war, hat Aserbaidschan den Menschen Tankfüllungen bis 20 Liter organisiert. Damit man zur Grenze fahren kann. Diejenigen, die kein Auto haben, wurden mit Bussen an die Grenze gebracht. Tragischerweise explodierte vor zwei Tagen in der Hauptstadt Bergkarabachs, Stephanakert, ein Treibstofflager. Dabei kamen dutzende Menschen ums Leben.

An der Grenze wartet das armenische „Rote Kreuz“ auf die Geflüchteten. Die armenische Regierung hat eine einheitliche Plattform geschaffen, um die Ankommenden zu registrieren und eine Bedarfsanalyse zu machen. Viele der Ankommenden haben nur das Nötigste dabei. Manche der Kinder kommen ohne Schuhe an der Grenze an. Der Hauptbedarf besteht momentan aus Lebensmitteln, Hygieneartikeln, technischen Mitteln, Notfallseelsorge und psychologischer Betreuung.

Was ist in den vergangenen Wochen überhaupt in Bergkarabach passiert?

Nach dem Krieg um Bergkarabach im Jahr 2020 hat Aserbaidschan einen Großteil dieser bergigen Region eingenommen. Die noch verbleibende armenische Bevölkerung hat bis zuletzt unter dem Druck, den die aserbaidschanische Regierung auf sie ausübte, gelitten. Gasleitungen wurden blockiert und es gab Berichte, dass man armenische Dörfer mit Lautsprechern beschallt hat, um die Bewohner zu terrorisieren und zum Wegziehen zu bewegen. Der Höhepunkt war die Blockade des Latschin-Korridors während der vergangenen neun Monate.

Das größte Süßwasser Reservoir für Armenien ist der Sevansee. Hinter den Bergen am Horizont ist Aserbaidschan.

Die Blockade begann im Dezember 2022. Die Region Bergkarabach, die Medikamente, Lebensmittel und sonstige humanitäre Güter nur über den Latschin-Korridor beziehen kann, wurde von der Republik Armenien isoliert. Die Menschen hungerten, es gab vermehrt Fehlgeburten in der Region und man konnte nicht ausreisen.

„Ein armenischer Mann Anfang 40 starb an Entkräftung. Das war der erste Hungertote.“

Aserbaidschan hat die Blockade unter anderem damit gerechtfertigt, dass Armenien illegal Erze aus einer Mine abbaue und dies zu erheblichen Umweltschäden führen würde. Daraufhin wurden aserbaidschanische „Umweltaktivisten“ an den Latschin-Korridor geschickt, die diesen blockierten, um gegen die vermeintliche Umweltverschmutzung protestierten. Aus armenischen Quellen ging hervor, dass die Umweltaktivisten zum Teil Soldaten waren, die im Krieg 2020 noch gekämpft hatten. Der Krieg im Jahr 2020 war übrigens der erste moderne Drohnenkrieg. Mit dem Verkauf von Öl ist Aserbaidschan reich geworden. Und konnte moderne Waffen aus der Türkei und Israel kaufen.

Über Wochen versuchte man, die armenische Bevölkerung in Bergkarabach auszuhungern. Anfang diesen Monats waren die Regale der Supermärkten in der Hauptstadt Stephanakert so gut wie leer. Ein armenischer Mann Anfang 40 starb an Entkräftung. Das war der erste Hungertote. Derweil standen dutzende LKWs mit Hilfslieferungen vor dem Latschin-Korridor und konnten nicht einreisen. Zuletzt hat die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo selbst einen französischen Konvoi mit großem Presseecho begleitet. Aber auch dieser Konvoi blieb vor dem Grenzübergang Latschin stehen.

Dies geschah alles vor den Augen russischer Friedenstruppen und EU-Beobachter vor Ort. Laut dem ehemaligen Chefankläger am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, Luis Moreno Ocampo, gleicht das Abschneiden jeglicher Versorgung einem weiteren Versuch eines Völkermordes an den Armeniern.  

Am Montag vergangene Woche, kurz vor dem Angriff, ließ Aserbaidschan einen Hilfskonvoi Richtung Bergkarabach passieren.

Einen Kreuzstein wie diesen findet man hundertfach in Armenien, aber auch in Bergkarabach

Warum ist Bergkarabach so ein „Brennpunkt“? Worum geht es beim Konflikt genau?

Bis Ende diesen Jahres werden vermutlich keine ethnischen Armenier mehr in Bergkarabach leben. Die armenische Kirchengeschichte ist in dieser Region fast 2.000 Jahre alt. Die Armenier sind das erste Volk in der Geschichte, die das Christentum circa um das Jahr 301 zu ihrer Staatsreligion machten. In der Region Bergkarabach finden sich Jahrhunderte alte Klöster und sogenannte „Chatschkar“ (zu Deutsch: Kreuzsteine), die von einem antiken christlichen Glauben Zeugnis ablegen.

Und gleichzeitig ist Bergkarabach ein ehemaliger sowjetischer Oblast und wurde von Stalin offiziell Aserbaidschan zugesprochen. So ist die Regelung, dass Bergkarabach seit dem Ende der Sowjetunion nach dem Völkerrecht Aserbaidschan gehört, aber dort schon immer Armenier leben. Wenn man so möchte, berufen sich die Armeniern auf eine Art Gewohnheitsrecht, dass ihre Heimat seit Gedenken an auch Bergkarabach beinhaltet.  

In der Geschichte Armeniens kam es immer wieder zu Heimatverlust. Wenn man sich Ortschaften und Karten aus dem 18. Jahrhundert der heutigen Türkei anschaut, dann sind dort armenische Städte und Ort verzeichnet, die es heute so nicht mehr gibt. Durch den armenischen Genozid 1915, wo 1,5 Millionen Armenier ums Leben kamen, verloren Armenier auch viel Land.

Und nun wiederholt sich für die Armenier diese Katastrophe. Schon wieder verlieren sie einen identitätsstiftenden Teil ihre Heimat. Für Aserbaidschan geht es diesem Konflikt um geostrategische Interessen. Es geht um einen weiteren Korridor durch die Republik Armenien, der Aserbaidschan mit der Türkei verbinden soll. Die Türkei und Aserbaidschan sind turkstämmige Völker, die sich als Brudervölker verstehen. Glaubt man Aussagen des aserbaidschanischen Präsidenten, dann beinhaltet West-Aserbaidschan Teile des heutigen Armeniens.

Wie geht es jetzt weiter?

Der politische Status von Bergkarabach hat sich über Nacht gewandelt. Bergkarabach ist jetzt vollkommen in der Hand von Baku (Aserbaidschans Hauptstadt). Die armenische Regierung hat keine Verhandlungsmasse, um weiteren Anspruch auf das Land zu erheben. Schon in der letzten Woche hörte ich immer wieder von unseren Partnern vor Ort, dass Arzach (Bergkarabach) verloren sei.

„Man rechnet teilweise hier sogar mit Angriffen auf die armenische Hauptstadt Eriwan.“

Wie ist die Lage für Christen dort? 

Eine armenisch-orthodoxe Christin erzählte mir, dass sie sehr enttäuscht ist von ihrer Kirche. Diese tue wenig. Es gäbe kaum Trost für die orthodoxen Gläubigen. Die Kirche sei lethargisch und würde den Menschen eigentlich keine „geistliche Nahrung“ bieten.

In einer englischsprachigen Freikirche, wo ich noch den Gottesdienst besuchte, sprach man im Gottesdienst über die Bedrohung durch Aserbaidschan. Man betete für Frieden und sichere Grenzen. Die Gemeindeleitung hatte auch das Angebot gemacht, dass man sich in Whatsapp-Gruppen verständigen kann, falls es zum Kriegsfall kommt. So, dass man den eigenen Stadtteil nicht verlassen muss. Man rechnet teilweise hier sogar mit Angriffen auf die armenische Hauptstadt Eriwan.

Was ich auch festgestellt habe, herrscht eine Politikverdrossenheit unter den Christen. Man glaubt der Regierung nichts mehr. Der Premierminister Nikol Paschinjan hat bei vielen Gläubigen das Vertrauen verspielt. Man geht sogar so weit, dass man sagt, Paschinjan habe Bergkarabach verkauft. Der Eindruck ist häufig, dass man Armenien nur noch als einen Spielball der Mächtigen begreift.

Ich weiß aber auch von einem Gemeindeverbund, die für eine Erweckung und eine Erneuerung der christlichen Tradition in Armenien betet. Sie hoffen auf eine geistliche Erneuerung in Armenien. Sie berufen sich dabei auf 2. Chronik 7, 14:

„Wenn dann mein Volk, über dem mein Namen genannt ist, sich demütigt, und sie beten und suchen mein Angesicht und wenden sich ab von ihren bösen Wegen, werde ich es vom Himmel her hören und ihre Sünde vergeben und ihr Land heilen.“

Man hofft auf ein Wunder. Wenn einem die internationale Staatengemeinschaft schon nicht helfe, dann doch Gott. Im Krieg 2020 gab es immer wieder Geschichten von Bewahrung an der Front und von Menschen, die Gottesbegegnungen hatten und auch zum Glauben kamen.

Demonstration am zentralen Platz in Armeniens Hauptstadt Eriwan gegen Regierungschef Nikol Paschinjan

Sie kommen gerade aus Armenien. Wie war die Stimmung dort in der Bevölkerung?

Ja. Bis Freitag vergangene Woche war ich dort. Am Dienstag vergangene Woche war ich in der Hauptstadt Eriwan. Als die Meldungen des Angriffs der Aserbaidschaner durchkamen, rieten uns unsere Projektpartner, in unserer Unterkunft zu bleiben. Weil vieles, was in Bergkarabach passiert, nicht genau nachprüfbar ist. Man ist verzweifelt oder auch resigniert. Laut unserer Partner in Eriwan gab es Massaker, Vergewaltigungen und sogar Enthauptungen in Dörfern in Bergkarabach durch aserbaidschanische Soldaten. Das sind  oft unbestätigte Meldungen, die in armenischen Netzwerken kursieren,  aber diese führen doch zu einer großen Unsicherheit und Wut bei den Armeniern in der Republik.

Plakat für ein Konzert mit dem Rapper Snoop Dog

Auf dem zentralen Platz in Armeniens Hauptstadt gab es Demonstrationen gegen den Regierungschef Nikol Paschinjan. Die Demonstrierenden riefen: „Nikol Betrüger“, „Nikol Betrüger“. Ähnlich wie bei den Klimaklebern in Deutschland wurden Straßen blockiert. Es wurde auch davon gesprochen, dass man den Regierungschef absetzen oder sogar vergiften wolle.

Am absurdesten fand ich, dass der US-Gangster Rapper Snoop Dog für ein Konzert am 23. September, also vergangenen Samstag, nach Eriwan eingeladen wurde. Für diesen „Top-Act“ hatte die Regierung mehrere Millionen US-Dollar ausgegeben. Man muss sich das mal vorstellen! Es wird solch ein „Top-Act“ eingeladen in einem Land, dass existenziell bedroht wird. Die Armenier, mit denen ich darüber gesprochen hatte, meinten, das wäre ein Ablenkungsmanöver der Regierung, um das Volk still zu halten.

Foto: privat Foto: privat

Lukas Reineck arbeitet als Projektkoordinator für die Organisation Christlicher Hilfsbund im Orient e.V., die in Armenien humanitäre und geistliche Projekt haben.

Wie könnte die Zukunft für Bergkarabach aussehen? Wird langfristiger Frieden möglich sein?

Ich kann mir schwer vorstellen, dass Bergkarabach jemals wieder armenisch wird, geschweige denn Armenier dorthin zurückkehren möchten. Zu groß ist das Mistrauen gegenüber ihren aserbaidschanischen Nachbarn. Und ein langfristiger Frieden hängt viel vom zukünftigen Verhalten der „Player“ in dieser Region ab: Iran, Türkei, Aserbaidschan und Russland. In meiner Wahrnehmung ist Armeniens politischer Einfluss nach dem endgültigen Verlust der Region Bergkarabach verschwindend gering. Gebet der Gläubigen in Armenien kann ein wichtiger Beitrag für Frieden in dieser Region sein. 

Danke für das Gespräch!

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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