Filmkritik

Du bekommst, was du verdienst

In der Serie „Arcadia“ funktioniert die Gesellschaft nach einem Punktesystem, in dem jeder bekommt, was er verdient. Das ist sehr klug und spannend erzählt und bietet erstaunliche Anknüpfungspunkte für die christliche Botschaft.
Von Jonathan Steinert
Serie "Arcadia"

Es ist der Traum von einer absolut gerechten Gesellschaft: Jeder bekommt, was er verdient. Der persönliche Score, der Punktwert, den ein Bürger aufgrund seines Lebensstils und Verhaltens erreicht, ist dafür ausschlaggebend. Ein Algorithmus berechnet ihn anhand von IQ, Ausbildung, Lohn, Gesundheit, Gewicht, Fitness, gesellschaftlichem Beitrag und Gesetzestreue einer Person. Wer sein Leben auf diesen Feldern optimiert, dessen Punktzahl steigt – und der darf im Bus zuerst einsteigen, bekommt bevorzugte medizinische Behandlung oder hat Anrecht auf ein schönes Haus. „Zehnerchen“, das sind die, die in diesem System alles richtig machen.

Schwierig wird es, wenn sich der Score nach unten in Richtung drei bewegt. Etwa weil man zu viel Süßes isst oder keine Arbeit hat. Nicht nur, dass man dann zum Beispiel auf bestimmte medizinische Behandlungen keinen Anspruch mehr hat oder in einer engen Wohnung leben muss. Wer den Mindestscore nicht mehr halten kann, wird deportiert und muss das Gemeinwesen verlassen. Für Straftäter gilt das sowieso.

Aber das System verspricht, transparent und gerecht zu sein – und die Gesellschaft vor allem sicher zu machen. Das funktioniert natürlich nur mit einer umfassenden Überwachung der Bürger. Der Score ist auf einem in die Hand implantierten Chip gespeichert. Darüber kann jeder jederzeit geortet werden. Und statt eines Schlüssels öffnet dieser Chip Türen – wenn es der Score und die hinterlegten Daten zur Person das zulassen. 

In welcher Welt will man leben?

Diese dystopische Gesellschaft, die in einigen Punkten erschreckend an die Realität erinnert, ist der Kern der sehr sehenswerten Serie „Arcadia – Du bekommst, was du verdienst“. Die belgisch-niederländisch-deutsche Co-Produktion ist in der ARD-Mediathek zu sehen, Mitte August ist die zweite Staffel gestartet. Die Geschichte dreht sich um eine Familie, die es in diesem System fast zerreißt, weil persönliche Werte und Beziehungen mit den strikten Regeln dieser vom Score bestimmten Gesellschaft kollidieren. Der Vater etwa wird verbannt, weil er den Score seiner autistischen Tochter manipuliert haben soll, damit sie bessere Chancen im Leben hat.

Immer wieder stehen die Protagonisten vor der Frage: Unterwerfe ich mich dem – für gut und gerecht erachteten – Punktesystem? Oder halte ich zu Menschen, die in diesem System das Nachsehen haben, und riskiere damit selbst einen Punktabzug?

Die Serie erzählt diese Spannungen und Konflikte in allen möglichen Facetten. Keiner der Protagonisten ist frei davon, weder die einfachen Bürger Arcadias noch die Mächtigen. Es geht um Abhängigkeiten, um Macht, um Widerstand, Menschlichkeit. Und immer schwingt die Frage mit, welche Gesellschaftsform eigentlich wünschenswert wäre und auf welchen Werten das Zusammenleben beruhen sollte.

Arcadia, Darsteller am Set in Wolfsburg Foto: WDR/Axel Herzig
Darsteller von „Arcadia“ am „Phäno“, einem Museum in Wolfsburg. Es dient in der Serie als Sitz der Sicherheitsbehörde.

In der Serie stehen sich zwei Welten gegenüber. Denn einige der Menschen, die aus Arcadia verbannt wurden, bauen in der Wildnis außerhalb der Nation eine Siedlung auf. Auch dort ist die Frage: Nach welchen Regeln funktioniert das Zusammenleben? Wer ist dazu legitimiert, sie festzulegen und auf ihre Einhaltung zu achten? Während drinnen der Score bestimmt, gilt draußen – bis zur Revolte – das Wort eines Anführers und das Prinzip „Blut für Blut“. Das erinnert an „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ im Alten Testament, was dort dazu diente, die Balance von Schuld und Sühne herzustellen. 

Eine biblisch-christliche Perspektive auf „Arcadia“ zu werfen, lohnt sich an vielen Stellen. Bemerkenswert in der Gesellschaft von Arcadia ist etwa, dass auf den Score vor allem Werte einzahlen, die sich um die eigene Leistung und Person drehen. Werte wie Fürsorge, Hilfsbereitschaft oder Nachsicht spielen dafür keine Rolle. Das System von Arcadia mutet zwar gerecht an, weil jeder weiß, was wem zusteht, und Neiddebatten damit theoretisch keine Grundlage haben. Aber es erzeugt eine Gesellschaft aus Einzelkämpfern, von denen jeder nur darauf bedacht ist, seinen Score nach oben zu bringen.

Hüterin eines unbarmherzigen Systems

Zugleich schafft das System ein grundlegendes Misstrauen, weil es eine soziale Kontrolle etabliert. Wer Fehler macht, muss darauf hingewiesen und beim wiederholten Male den Behörden gemeldet werden. Das lernen schon die Kinder. Sicherheit und Gerechtigkeit verspricht Arcadia für den Preis eingeschränkter Freiheit. Bezeichnenderweise trägt die oberste politische Repräsentantin in Arcadia den Titel „Hüterin“. Eine Beschreibung, die die Bibel auch für den Gott Israels kennt, am anschaulichsten im Bild des guten Hirten. Es ist interessant, diese beiden Hüter-Figuren zu vergleichen. Was macht einen guten Hüter aus? Dass er nach absoluter Macht strebt, um die Stabilität und die Sicherheit des Systems zu gewährleisten? Dass er sich selbst gewissermaßen verbannen lässt, stellvertretend für Menschen, die unter dem Mindestscore liegen?

Es gibt in Arcadia einen ganz entscheidenden Gegensatz zum biblischen Hüter: In Arcadia herrscht ein durch und durch unbarmherziges System. Es legt einen immensen Druck auf seine Bürger, weil es allein von ihnen selbst abhängt, ob und welchen Platz sie in der Gesellschaft haben.

Die zwei Staffeln von „Arcadia – Du bekommst, was du verdienst“ sind in der ARD-Mediathek zu sehen. Regie: Tim Oliehoek

So einleuchtend und verlockend der Leitspruch Arcadias „Du bekommst, was du verdienst“ erscheinen mag, so beliebig ist er doch. Denn wer legt fest, was jemand in seinem Leben „verdient“? Welche Kriterien wären dafür angemessen? In welchem Umfang müssten sie erfüllt sein? Die Serie „Arcadia“ zeigt, wie das aussehen und welche Folgen das haben kann. Und am Ende ist das auch gar nicht so weit weg von einer liberalen Gesellschaft, in der persönliche Freiheit ein hohes Gut ist. Verdienen Superreiche ihren Reichtum? Verdienen es Flüchtlinge, vom Steuerzahler finanziert zu werden? Debatten wie diese sind immerzu auf der Tagesordnung. Sie haben zu tun mit Neid, mit der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und der Angst, zu kurz zu kommen. 

Glaube an gnädigen Gott entlastet

Aber auch auf einer grundsätzlicheren Ebene treibt die Frage nach dem, was man verdient, Menschen um. Womit hat es jemand verdient, auf der Straße zu leben? Verdient es ein Paar, dass sein Kinderwunsch in Erfüllung geht? Verdient es ein anderes, dass er unerfüllt bleibt? Verdiene ich es, gesund und glücklich zu sein? Verdiene ich es, krank zu werden?

Verdient haben Menschen der Bibel zufolge nichts als Tod und ewige Verbannung. Denn, um in der Motivik von „Arcadia“ zu bleiben, in Eigenleistung können die Menschen den erforderlichen Score für das Leben im Land des Hüters nicht erreichen. Doch Gott gibt, was man nicht verdient: Jesus löst den Mindestscore für alle Menschen durch seinen Tod am Kreuz ein. Darin liegt die göttliche Gerechtigkeit. Gutes widerfährt unverdient als Geschenk. Das entlastet. Denn im Umkehrschluss heißt es auch, dass Schicksalsschläge ebenso wenig „verdient“ sind aufgrund ungenügenden Verhaltens. Die Frage nach dem Leid löst das noch nicht. Aber der Glaube an einen grundsätzlich gerechten, gnädigen und barmherzigen Gott kann helfen, einen anderen Blick darauf zu gewinnen.

Um diese theologische Ebene geht es in „Arcadia“ nicht. Aber die Serie bietet viele Anknüpfungspunkte, um solche geistlichen Fragen weiterzudenken. Neben denen, die sie ohnehin unmittelbar durch das Gesellschaftsmodell aufwirft. Und ganz abgesehen davon, fasziniert die Serie auch durch ihre Darsteller, die Dramaturgie und die besondere Ästhetik, mit der die Welt von Arcadia gezeichnet wird. Am besten schaut man „Arcadia“ nicht allein, denn nicht nur die Serie lohnt sich, Gespräche darüber ganz sicher auch.

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