Die Nonne und ihr Henker

Arthur Seyß-Inquart war Hitlers Reichskommissar in den Niederlanden. Zu seinen prominentesten Opfern gehörte die katholische Ordensfrau, Philosophin und Jüdin Edith Stein. Kirche und Religion hatten für beide eine völlig unterschiedliche Bedeutung.
Benedikt Vallendar
Konzentrationslager Auschwitz

Als in der Nacht zum 16. Oktober 1946 Arthur Seyß-Inquart, ehemaliger Reichsstatthalter Hitlers in den besetzten Niederlanden, hinkend die Stufen zum Schafott bestieg, war die katholische Ordensschwester, Hochschullehrerin und Jüdin Edith Stein schon vier Jahre tot; deportiert nach Auschwitz und wahrscheinlich am 9. August 1942 zusammen mit Millionen anderen grausam ermordet. 

Die promovierte Philosophin und „Patronin Europas“, zu der sie der damalige Papst Johannes Paul II. 1999 kürte, war eines der prominentesten Opfer Seyß-Inquarts. Fast ein Jahr lief der Kriegsverbrecherprozess gegen den katholischen promovierten Juristen und seine Mitangeklagten. Am Ende standen zwölf Todesurteile. Zehn davon wurden tatsächlich vollstreckt, weil sich Herrmann Göring, lange Zeit Hitlers zweiter Mann, wenige Stunden zuvor mit einer Giftkapsel das Leben genommen hatte und Martin Bormann bereits tot war.

Nürnberger Prozesse

Ab Oktober 1945 mussten sich die Hauptkriegsverbrecher aus der Führungsriege der Nationalsozialisten in Nürnberg vor einem internationalen Militärgericht verantworten. Alle vier alliierten Siegermächte stellten je einen Richter und einen Ankläger. Von den 24 Angeklagten erhielten zwölf die Todesstrafe, darunter Arthur Seyß-Inquart (auf dem Bild hintere Reihe sitzend 3.v.l.); zehn davon wurden vollstreckt, da Hermann Göring und Martin Bormann Suizid begingen. Es folgten bis 1949 zwölf weitere Prozesse vor dem US-amerikanischen Militärtribunal gegen Militärs, Ärzte, Juristen, Industrielle und andere Beteiligte an den nationalsozialistischen Verbrechen. Die Prozesse waren der erste Versuch in der Geschichte, Kriegsverbrecher juristisch zu belangen, und hatten daher wegweisende Wirkung für die weitere internationale Rechtsprechung.

Der Mörder Seyß-Inquart und sein Opfer Edith Stein sind sich nie persönlich begegnet. Geprägt von ähnlichen gesellschaftlichen Verhältnissen, schlugen sie ganz unterschiedliche Lebenswege ein. Sie waren fast gleichaltrig, sie geboren 1891 in Breslau, er 1892 im damaligen Mähren. Beide stammten aus einem bürgerlichen Umfeld.

Jugend im Schatten des Ersten Weltkriegs

Auch charakterlich sollen sie sich geähnelt haben: introvertiert, abwartend, analytisch und wenig zugewandt; zugleich in ihren Fachrichtungen anerkannt und beruflich ambitioniert; sie als Dozentin, er als erfolgreicher Fachanwalt für Arbeitsrecht; beide aufgewachsen in einem Umfeld, in dem Bildung, Beziehungen und Begegnungen für gewöhnlich als Koordinaten für ein gelingendes Leben gelten. Seyß-Inquarts Vater hatte es bis zum Direktor eines Gymnasiums gebracht und galt als Haustyrann, während Edith Stein als Tochter jüdischer Eltern den ihrigen schon im Kleinkindalter verlor und von ihrer Mutter großgezogen wurde.

Die Jugendjahre beider waren gesellschaftlich geprägt von Obrigkeitsdenken und sozialer Enge, tradiertem Denken in seinem undefinierten Verhältnis zur technischen Moderne; umgeben von einer fragilen Sicherheitsarchitektur, die im Sommer 1914 in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges mündete.

Der Vereinsmeier Seyß-Inquart suchte schon früh den Anschluss an deutsch-nationale Kreise, Debattierclubs, in denen das Katholischsein oft nur als Feigenblatt fungierte, um sich aus Intoleranz, Gewalt und Dogmenhörigkeit ein neues Lebensgefühl zu basteln; ein Lebensgefühl, das ab Ende der zwanziger Jahre vor allem junge Wähler in den Bann zog. Und einmal mehr die Annahme nährte, dass sich die faschistischen Bewegungen Europas, allen voran der deutsche Nationalsozialismus, als Bewegungen der Jugend verstanden.

Karriere im NS-Apparat

Arthur Seyß-Inquart und Edith Stein wurden von Zeitgenossen als spröde, unnahbar und wenig zugänglich geschildert; er ein Karrierist, sie eine Frau, die sich nach zwei enttäuschten Liebesbeziehungen in einen Kokon aus Büchern, Briefen und Manuskripten flüchtete; ihre eigene, hochkomplexe Gedankenwelt, in der es keineswegs so gesellig zugegangen sein dürfte wie in den bierseligen Zirkeln ihres späteren Mörders.

Arthur Seyß-Inquart Foto: Gemeinfrei

Arthur Seyß-Inquart

Arthur Seyß-Inquart kam 1892 in Mähren zur Welt, das damals zu Österreich gehörte. In Wien besuchte er das Gymnasium und die Universität, wo er Jura studierte und promovierte. 1917 heiratete er seine Frau Gertrud, mit der er drei Kinder hatte. Beim „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 spielte er als Mitglied der österreichischen Regierung eine zentrale Rolle. Nach der Besetzung der Niederlande 1940 wurde er dort Reichskommissar und damit unter anderem für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Rassepolitik und die Verfolgung der Juden zuständig. 1945 wurde er beim Nürnberger Prozess angeklagt und 1946 wegen der Teilnahme an der Planung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Kaum einer in Nürnberg wollte und konnte glauben, für welch ungeheuerlicher Verbrechen Arthur Seyß-Inquart, der harmlos wirkende Mittfünfziger mit Nickelbrille, verantwortlich sein sollte. Massendeportationen in Konzentrationslager, Erschießungen und die systematische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in fünf Jahren deutscher Besatzung standen in der Anklageschrift; ebenso die systematische wirtschaftliche und kulturelle Ausbeutung eines Landes, auf dessen Kunstschätze es die NS-Bürokratie besonders abgesehen hatte.

Den Einmarsch Hitlers in Österreich im März 1938 hatte er politisch vorbereitet, als Innenminister gedient und zwei Tage lang von Hitlers Gnaden das Amt des Bundeskanzlers bekleidet. Österreich an das Deutsche Reich anzugliedern, alle Deutschen unter einem „Führer“ zu vereinen, sei sein Lebenstraum gewesen, berichtete er 1945 seinem amerikanischen Vernehmer. Hitler dankte es ihm mit hoch dotierten Posten, als stellvertretender Statthalter im besetzten Polen und ab 1940 als sein erster Mann in den Niederlanden. Nach Hitlers Willen hätte Seyß-Inquart Außenminister werden sollen, als Ersatz für Joachim von Ribbentrop.

Kriminelle Energie mit christlichem Anstrich

„Arthur Seyß-Inquart verstand es meisterhaft, sein teuflisches Inneres mit Eloquenz und rhetorischem Geschick zu übertünchen“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin. In Seyß-Inquarts Amtszeit in den Niederlanden fiel auch das Schicksal der Anne Frank, jenem jüdischen Mädchen, das sich mit der Familie nach Amsterdam geflüchtet hatte, verraten wurde und später durch sein posthum erschienenes Tagebuch internationale Bekanntheit erfuhr.

Das Nürnberger Tribunal befand Seyß-Inquart am 30. September 1946 in drei von vier Anklagepunkten für schuldig, darunter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bis zum Schluss zeigte der Angeklagte keine Reue, vergötterte weiter seinen „Führer“ und verlor sich in Selbstmitleid und Verharmlosung der eigenen Rolle in der Tötungsmaschinerie des NS-Staates.

Die Vita des Arthur Seyß-Inquart offenbart in erschreckender Weise, wie einfach es sein kann, christliche Prägung mit kriminellem Denken und Tun in Einklang zu bringen. Bis zum Schluss hat der Katholik Seyß-Inquart brav seine Kirchensteuer bezahlt. Und zugleich Gefallen daran gehabt, Deportationslisten zu erstellen und Erschießungsbefehle zu erteilen. In einer privaten Unterhaltung mit SS-Reichsführer Heinrich Himmler hatte er durchblicken lassen, dass das „Christentum keine Irrlehre“ sei.

Denn wenn ein Volk tausend Jahre lang geirrt hätte, dann wäre es in „seinem Kern doch ohne Wert“, ganz abgesehen vom positiven Einfluss, der vom Christentum auf die Entwicklung der deutschen Nation ausgegangen sei. Woraufhin sich Himmler wohlwollend über jede „Gottgläubigkeit“ geäußert haben soll, und dass in der SS „Platz sei für jede individuelle Überzeugung“ – mit Ausnahme des Atheismus.

Auf der Suche nach der Wahrheit Jesus gefunden

Während Seyß-Inquart zum Anhänger einer mörderischen Weltanschauung mutierte und seine christliche Prägung als bürgerliche Fassade missbrauchte, vollzog Stein auf der Suche nach der Wahrheit den Bruch mit ihren jüdischen Glauben. Sie wurde Atheistin, aber fand ihr Seelenheil schließlich in Jesus Christus und folgte dem Ruf des Karmeliterordens, einer Gemeinschaft, die obendrein für ihre Strenge bekannt ist.

Edith Stein Foto: Gemeinfrei

Edith Stein

Edith Stein wurde 1891 in Breslau im heutigen Polen als Tochter einer jüdischen Familie geboren. Sie studierte Philosophie bei Edmund Husserl und bezeichnete sich in ihrer Studienzeit als Atheistin. Durch die Begegnung mit dem lebendigen Glauben von Christen und inspiriert von der Heiligen Theresa von Ávila ließ sich Stein 1922 katholisch taufen. 1933 trat sie als Teresa Benedicta vom Kreuz in den Karmeliterorden ein. 1942 wurde sie von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet. 1998 sprach Papst Johannes Paul II. sie heilig und ernannte sie im darauffolgenden Jahr zu einer „Patronin Europas“.

Am 31. Dezember 1938 siedelte Schwester Edith Stein von Köln ins Kloster Echt in den Niederlanden über, da sich die Lage für Juden in Deutschland nach der Reichpogromnacht immer weiter zugespitzt hatte. Dort wurden sie und mehr als 240 weitere zum katholischen Glauben konvertierte Juden Anfang August 1942 von der Gestapo verhaftet: als Reaktion darauf, dass die katholischen Bischöfe einen Hirtenbrief in allen Kirchen verlesen ließen, in dem sie die Judenverfolgung der Nazis anprangerten. Seyß-Inquart hatte die Kirchenführer zuvor gewarnt, dass dieser Protest Konsequenzen haben würde. Edith Stein war offenbar auf ihre Verhaftung gefasst gewesen – und entschied sich, trotzdem im Kloster zu bleiben.

Selbstfindung im Fin de siècle

In der Rückschau enthüllen die höchst unterschiedlichen Lebenswege der Ordensschwester Edith Stein und des Hitler-Verehrers Seyß-Inquart einmal mehr, dass auch die katholische Kirche nie eine Einheitskirche war, sondern weit mehr das Abbild heterogener Gesellschaften ist, die damals wie heute im Zustand fortwährender Selbstsuche verharren. Die Biografien Arthur Seyß-Inquarts und Edith Steins entpuppen sich außerdem als Blaupausen einer Ära, die später als „Fin de siècle“ in die Literatur- und Kunstgeschichte eingegangen ist; den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, den vor allem junge Menschen als einengend, verstörend und verwirrend empfanden.

Auch die späteren Lebensjahre Steins und Seyß-Inquarts waren geprägt vom Schwanken zwischen Aufbruchsstimmung und diffuser Zukunftsangst, Endzeitstimmung und Lebensüberdruss; ebenso Weltschmerz, Todessehnsucht und Vergänglichkeit – eine allgemeine Krise, die maßgebende Gesellschaftsschichten ergriffen hatte, weil Grundwerte des sozialen Lebens nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg aus den Fugen geraten waren.

Kluge Geister ahnten voraus, dass Heilsversprecher vom Schlage Stalins, Mussolinis und Hitlers die Menschheit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an den Rand der Apokalypse führen würden; eine historisch-soziale Entwicklung ihresgleichen, an der sich Arthur Seyß-Inquart aktiv beteiligte, während Edith Stein den Weg der inneren Emigration beschritt, der in Auschwitz ein grausames Ende fand.

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 6/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können das Magazin hier kostenlos abonnieren.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen