Die evangelische Katholikin

Lissy Eichert ist Berlins Wort-zum-Sonntag-Sprecherin. Und viel mehr als das. Sie lebt in einer katholischen Gemeinschaft in Neukölln, hilft mit ihrer Gemeinde den Armen und hält wenig von Männerdominanz und innerkirchlichen Hierarchien. Eine Begegnung mit einer Frau, die nirgendwo so ganz hineinpasst, aber überall gebraucht wird.
Von Anna Lutz
Lissy Eichert in ihrer Gemeinde in Neukölln

Sechsmal im Jahr verlässt Lissy Eichert ihre Neuköllner Kirchenwelt und tritt für drei Stunden ins Rampenlicht. In der Maske wird sie gepudert und gefönt, Redakteure nehmen letzte Änderungen an dem Text vor, den sie im Laufe der Woche verfasst hat und den sie nun möglichst fehlerfrei in die Kamera sagen soll. Auf dem kahlen Gang im Gebäude des Rundfunks Berlin Brandenburg (rbb) macht sie Zungenübungen, überprüft den Sitz der Blümchenbluse und wechselt noch rasch die Schuhe – obwohl die später gar nicht im Bild sein werden.

Eichert ist nervös, ihre Hände sind kalt, sie sorgt sich um Schweißflecken und geht immer wieder ihren Text durch, bis sie im Aufnahmestudio schließlich vor zwei Kameras steht, die sie im Wechsel aufnehmen sollen. Hinter ihr ist nur der Bluescreen, rechts und links blickt sie in abgedunkelte Leere, vor und über ihr in der Regie kümmern sich insgesamt 15 Personen darum, dass sie im richtigen Licht steht, dass der Ton stimmt und auch sonst nichts die Aufnahme stört. „Ruhe, bitte!“, ruft die Aufnahmeleitung. Ein Sendungstitel, der zu den ältesten der deutschen TV-Geschichte zählt, flimmert über den Bildschirm, auf dem der anwesende Redakteur die Aufnahme verfolgt. Wenn die ARD samstagabends das „Wort zum Sonntag“ ausstrahlt, weiß jeder Fernsehzuschauer, ob fromm oder nicht, was ihn erwartet. Eichert atmet noch einmal tief ein und beginnt zu sprechen.

Eine Kirche mitten in Neukölln

Sechs Wochen zuvor: Wenige Meter vom Neuköllner Herrmannplatz entfernt ragt ein backsteinroter Kirchturm in die Höhe. An seiner Front ist ein goldenes Kreuz angebracht. Im Park nebenan schiebt ein Mann einen Einkaufswagen, gefüllt mit vermutlich all seinen Habseligkeiten, vor sich her und schimpft in Richtung des christlichen Wahrzeichens, lacht irre, schimpft weiter. Wenige Meter entfernt verkaufen türkische und arabische Marktschreier Brot, Oliven und Gemüse auf einer Insel inmitten mehrspuriger Straßen. Wer möchte, kann im Umfeld des Herrmannplatzes auch Marihuana oder Härteres erstehen.

Wohl nirgendwo wirkt eine katholische Kirche so fehl am Platz wie hier. Und wohl nirgendwo wird St. Christophorus so sehr gebraucht. Inmitten des dicht bebauten Berliner Bezirks Neukölln, der wegen seines hohen Migrantenanteils, seiner Clankriege und Drogenkriminalität einst bekannt wurde, versorgen Christen Bedürftige mit dem Nötigsten. Sie bieten Kirchenasyl oder Hilfe für Menschen mit geistiger Behinderung an, die mit manchen ihrer Bedürfnisse durch das Raster der Krankenkassen fallen. Movimento Pallotti heißt die Bewegung, zu der einige Gemeinde- und Leitungsmitglieder gehören. Gründer der Pallottinischen Gemeinschaft ist der römische Priester Vinzenz Pallotti. Im 18. Jahrhundert betonte er die Wichtigkeit der Laien in der Kirche. Heute gibt es auch pallottinische Klöster. Pallotti selbst hatte das weniger im Sinn. So leben viele Mitglieder in offeneren Gemeinschaften und legen auf den Gottesdienst genau so viel Wert wie auf die soziale Verantwortung. Auch Hauskirchen sind keine Seltenheit bei den Pallottinern.

Den Blick immer gen Himmer gerichtet: Lissy Eichert sagt von sich selbst, sie sei mit Jesus unterwegs Foto: pro/Anna Lutz
Den Blick immer gen Himmer gerichtet: Lissy Eichert sagt von sich selbst, sie sei mit Jesus unterwegs

Eichert kam vor 25 Jahren nach Neukölln. Gemeinsam mit Pfarrer Kalle Lenz trat sie damals an, um als Christin dem Stadtteil zu dienen. Nun steht sie im Kirchenraum vor einem Bild des katholischen Heiligen Christophorus. Es hängt im Seitenschiff und ist im Umfeld der braunen Holzbänke und der guss­eisernen Accessoires kaum zu übersehen. Ein schwarzer Mann im Gewand trägt darauf ein kleines Mädchen mit ebenfalls dunkler Hautfarbe durch eine grüne Landschaft. „So ist diese Gemeinde“, sagt Eichert. „Bunt.“ Angefertigt hat das Kunstwerk ein befreundeter Maler, der einst selbst Teil dieser Kirche war. Über Wochen kam er zum Gottesdienst, ohne je Kontakt zu anderen Menschen zu suchen. Er beobachtete, sah Sonntag für Sonntag Menschen unterschiedlicher Kulturen, Hintergründe und Milieus kommen und gehen. Er blieb und widmete der Kirche schließlich ein Gemälde, das ihren Charakter symbolisieren sollte.

Deshalb ist Christophorus darauf nicht weiß und alt, sondern Afroamerikaner und jung. In dieser katholischen Kirche verschwimmen die Grenzen zwischen Geistlichen und Gemeindemitgliedern, zwischen oben und unten, zwischen Lehrenden und Lernenden. Der Gottesdienst ist hier nicht nur frontal ausgerichtet. Regelmäßig rufen die Leitenden ihre Zuhörer nach vorne. Dort stehen sie dann versammelt im Kreis um den Altar und beten. Alle auf Augenhöhe. „Hierarchien und Männerdominanz haben unsere Kirche in diesen schrecklichen Missbrauchsskandal manövriert“, sagt Eichert.

Die Kirchgemeinde St. Christophorus in Berlin-Neukölln Foto: pro/Anna Lutz
Die Kirchgemeinde St. Christophorus in Berlin-Neukölln

Sie selbst teilt sich eine Wohnung gleich neben dem Kirchgebäude mit Pfarrer Lenz. Zur pallottinischen Gemeinschaft gehört ebenfalls Pastoralreferentin Stephie Kersten. Sie wohnt ein Stockwerk höher. Mindestens einmal am Tag versuchen alle zu einem gemeinsamen Gebet zusammenzukommen. Eichert glaubt fest an die Überzeugung Vinzenz Pallottis, dass jeder Mensch eine Gabe habe, die er in die Kirche einbringen soll. Nur, was ihre ist, weiß sie nicht genau. Nach längerem Grübeln kommt sie darauf: Sie sei gut darin, Tag für Tag zu schauen, wo der Herr sie brauche – gerne auch spontan. Während des Interviews vibriert ihr Handy im Minutentakt. Eichert ist sich sicher: „Dieser Jesus will mich hier haben.“

Diesen Jesus trifft sie zum ersten Mal als junges Mädchen auf dem Schulweg im heimischen Sauerland. „Ich war ein dickes, weißes, rot-blondes Kind“, sagt Eichert. Die Mitschüler mobbten sie. Deshalb hasste das Mädchen die Zeit auf dem Schulhof, aber liebte die Spaziergänge zur Schule. Denn da hörte sie Gottes Stimme. „Ich gehe mit dir“, sagte Gott. „Ich hatte einen Freund gefunden, das war mein Geheimnis“, erinnert Eichert sich. Ihr inniges Gespräch mit dieser Stimme ist bis heute geblieben. Ausgerechnet bei den freikirchlichen Quäkern versteht sie Jahre später, was es mit dem Schulweggebet von damals auf sich hatte. Mit Mitte zwanzig verbringt sie während des Studiums eine Zeit in einer Kirche der Erweckungsbewegung in England und ist dabei, als die Gemeinschaft sich in einen Kreis setzt und still wird vor Gott – eine ganze Stunde lang. „Als die da so saßen, in sich versunken und konzentriert, kam mir der Gedanke: Hören die diese Stimme vielleicht auch?“ Am Ende schrieb sie ihre Diplomarbeit über die „Methode des kreativen Hörens“, die sie bis heute praktiziert und die ihr Gott ganz nah kommen lässt.

Fröhliche TV-Predigerin

Eicherts Antrieb ist das Streben nach Gerechtigkeit. Schon als Studentin in Vallendar im Raum Koblenz, dem theologischen Zentrum der Pallottiner in Deutschland, interessierte sie sich mehr für den Protest gegen die Atomkraft als für das Klosterleben. Nonne wollte sie nicht werden: „Das erschien mir irgendwie unlustig“, sagt sie. „Weite“ charakterisiere die Pallottiner am besten. „Ich habe dort Menschen getroffen, die die Welt verändern wollten.“ 1986 wurde sie Mitglied. Gemeinsam mit zwei Studenten gründete sie damals die erste pallottinische Kommune. „Der Haustürschlüssel steckte außen“, beschreibt sie das Leben in der ebenso politischen wie frommen WG. Die Betten waren durch Freunde und Besucher immer im Wechsel belegt, wer morgens am Frühstückstisch saß, war zuweilen eine Überraschung. „Es war nicht gleich die große Revolution. Aber es war quirlig“, erinnert sie sich.

Wer Eichert kennenlernt, versteht schnell, warum sie dieses unbemühte und zugleich fromme Leben schätzt. Diese Frau kümmert sich nicht darum, ob die Haare sitzen und das Oberteil zur Hose passt. Für Pressefotos stellt sie sich in ihrem Kapuzenpullover auf, lacht laut, wenn sie aus ihrem Leben erzählt, und wird still und ernst, wenn sie über Männerdominanz und strenge Hierarchien in ihrer Kirche spricht. Dann, ganz unvermittelt, ist sie wieder bei sich. Fröhlich, nie abweisend, immer von sich selbst wegdeutend und das Engagement der anderen betonend.

Ihr Leben als Christin und bei Christophorus hat sie vor allem gelehrt, „dass ich als Mensch so unendlich schwach bin, aber in Gemeinschaft wird es besser“. Ihr kommen die Tränen, als sie sich daran erinnert, wie vor einigen Wochen das Pallotti-Mobil wegen eines Unfalls liegenblieb. Mit dem Transporter liefert der soziale Arm der Gemeinde unter anderem Essen für wohltätige Zwecke aus. Mitten auf dem stark befahrenen Columbiadamm ging nichts mehr und in Eicherts Kopf tickte die Uhr: Nur noch zwei Stunden, bis die Lebensmittel auf dem Tisch stehen mussten. Panik kroch in ihr hoch, der Tag war doch so voll, tausende Dinge zu tun, das Handy klingelte am laufenden Band – da legte ihr eine Mitarbeiterin die Hand auf die Schulter: „Lissy, wir schaffen das“, sagte sie. Ausgerechnet diese eine Helferin, die ansonsten oft so nervös sei, dass sie gar nicht unter Menschen gehen wolle. Eichert beruhigte sich auf der Stelle. Und war daran erinnert worden, dass manchmal die Schwachen die Starken trösten. „Ich kann es nicht machen. Aber Gott kann“, sagt sie und reibt sich die Augen.

„Ich kann es nicht machen“, das denkt sie auch 2013, als die Kirchenredaktion des Erzbistums Berlin bei ihr anfragt. Der rbb sei auf der Suche nach einer katholischen Sprecherin. Da ist die Auswahl übersichtlich. In Berlin, so schätzt Eichert, gebe es in ihrer Position etwa zwei Dutzend Frauen. „Viele, die ich im Laufe meines Lebens getroffen haben, sind an der Struktur ihrer Kirche irre geworden“, sagt sie. Doch obwohl sie die Rolle der Frau in der Katholischen Kirche stärken will, sieht Eichert sich zunächst nicht in der Position der TV-Predigerin. Sie schlägt andere vor, doch alle sagen ab. Eines Tages sitzt sie am Küchentisch und liest Psalm 40. „Du wirst verkündigen vor großer Gemeinde“, heißt es dort. Sie nimmt es persönlich, geht zum Casting und bekommt den Job. Seitdem legt sie das Thema ihrer Worte zum Sonntag gemeinsam mit der Kirchenredaktion fest. Kurzfristige Änderungen wegen aktueller Anlässe sind möglich und in Eicherts Augen gelegentlich auch notwendig.

So geschehen ist es etwa, als im Spätsommer die katholische Missbrauchsstudie offenbarte, dass Tausende Opfer von Geistlichen geworden sind. An einem Dienstag erscheint die Erhebung, am Freitag spricht sie ihr Wort zum Sonntag dazu ein. Darin wirkt sie nicht wie sonst beseelt vom Glauben, fröhlich und ermutigend. Man sieht ihr den Schock an. Doch wie hätte sie vor einem Millionenpublikum als Katholikin glaubhaft bleiben sollen, ohne über die Opfer zu sprechen? „Ich versuche halt, mit dem lieben Gott unterwegs zu sein“, sagt Eichert, wenn sie wahlweise für zu fromm oder für zu links gehalten wird. Der Sender habe eine Frau, die im sozialen Brennpunkt verwurzelt ist, erfreut willkommen geheißen. Eichert ist eine Verfechterin des Kirchenasyls. Auch in ihrer Gemeinde finden nach Bedarf Abschiebepflichtige Zuflucht. Sie sieht das klerikale Männer­system kritisch, will Hierarchien abbauen und Frauen wie Männer in der Kirche fördern. Was die Wort-zum-Sonntag-Redaktion überrascht haben dürfte, war jene fromme Lissy Eichert, die von sich sagt: „Ich fühle mich zuerst Jesus Christus verpflichtet, nicht einfach nur meinem Bischof.“

Fünf Jahre nach der Anfrage des rbb ist sie angekommen in ihrer neuen Berufung. Nach dem siebten Versuch ist ihr „Wort zum Sonntag“ aufgenommen und sendebereit, es geht um Armut in Berlin und Jesus Christus. „Natürlich ist es ein Skandal, wenn Menschen nicht von ihrer Hände Arbeit leben können“, sagt sie da, und zitiert Gott in der Bibel: „Was ihr für einen meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan.“ Das ist ihr Thema. Sie könne nur über das sprechen, was sie persönlich bewege, sagt sie beim Kaffee nach der Aufnahme. Mit jedem Schritt, den sie tut, betont Eichert, wie sehr Christus in jedem Einzelnen lebt, wie wichtig Laien für die Kirche sind und wie unnütz materieller und geistlicher Prunk. Warum ist eine Frau wie sie eigentlich nicht evangelisch? „Es hängt an der Eucharistie“, erklärt Eichert, nachdem sie erst laut lachen und dann kurz nachdenken muss, um eine Antwort auf die Frage zu finden. „Ich lebe daraus, dass Jesus Christus mir im Abendmahl auch physisch begegnet“, sagt sie. Dann zieht sie ihren Mantel an und macht sich auf den Weg zurück nach Neukölln. Es gibt noch so viel zu tun.

Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 6/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen sie pro kostenlos hier.

Von: Anna Lutz

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2 Antworten

  1. Das heutige Wort zum Sonntag hat mich sehr bewegt, da Lissy Eichert die ganze Lebensgeschichte von Hiob in kurzer anschaulicher Form schilderte. So genau kannte ich die Geschichte Hiobs bis jetzt nicht. Aber ich kenne den Begriff in franzöischer. Sprache „Pauvre comme Job“ (gemeint ist Hiob). Auch wusste ich als ev. Mensch bis jetzt nichts über Vinzenz Palotti, Diesen Namen trägt ein Krankenhaus in Bergisch Gladbach bei Köln. Er war offensichtlich ebenfalls sehr sozial eingestellt und ist ein Vorbild für Lissy Eichert.

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