Der Hass auf dem Handy: TikTok als Gefahr

Es gibt kaum einen Jugendlichen, der nicht TikTok als Informationsquelle benutzt. Israel-Hass und Hetze gegen Juden werden hier massenhaft verbreitet. Die „Bildungsstätte Anne Frank“ klärt auf und informiert in einem aktuellen Bericht.
Von Jörn Schumacher
Handy mit dem TikTok-Logo

TikTok ist nicht einfach nur eine kostenlose App mit lustigen Videos. TikTok ist für junge Leute heutzutage das Medium schlechthin: Es ist Chat-Tool, Suchmaschine, Musik-App und privates Tagebuch. Etwa 1,7 Milliarden Nutzer hatte die Plattform Ende 2023 weltweit. Für Deutschland verzeichnete das Unternehmen 20,9 Millionen aktive User, für Österreich 2,1 Millionen – das ist fast jede vierte Person in Deutschland und in Österreich. Knapp 70 Prozent sind zwischen 16 und 24 Jahre alt.

Die „Bildungsstätte Anne Frank“ in Frankfurt am Main hat sich die Israel-Hetze speziell nach dem Angriff der Hamas auf Israel angesehen und kommt zu einem alarmierenden Ergebnis. Kein anderes soziales Medium trage zur Radikalisierung junger Menschen bei wie TikTok, lautet ein Fazit des Berichts mit dem Titel „Der 7. Oktober & die Folgen im Netz“.

„Weitgehend ohne Aufsicht“ würden hier junge und damit verletzliche Menschen verstörenden Inhalten ausgesetzt. Von einer „TikTok-Intifada“ sprechen die Autoren. Der Verein „Bildungsstätte Anne Frank“ will Menschen zu den Themen Antisemitismus, Rassismus und anderen Formen der Menschenfeindlichkeit sensibilisieren. Die Autoren veröffentlichten ihren Text anlässlich des internationalen Safer Internet Day am 6. Februar, der jährlich um mehr Sicherheit im Internet und verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien insbesondere unter Kindern und Jugendlichen wirbt.

Die Autorinnen betonen: „TikTok ist für viele User*innen der Gen Z nicht nur ein ‚Fun-Kanal‘, sondern ein Sprungbrett, um tiefer in die Themen einzutauchen, die sie bewegen.“ Dabei nutze etwa keine andere deutsche Partei die Plattform mehr als die AfD, „mit großer Kenntnis insbesondere der Bedürfnisse ihres jugendlichen Zielpublikums“, wie es im Bericht heißt. Rechtsradikale riefen via TikTok zum „Kreuzzug“ oder zu einer „weißen Vorherrschaft“ auf. Aber auch islamistische Influencer richteten hier ihre Botschaften an ein Millionenpublikum.

Nazi-Parolen versteckt in Emojis

Neu sei das Phänomen der Desinformationskampagnen, Verschwörungserzählungen und antisemitischen Narrative in Verbindung mit dem Nahost-Konflikt nicht. Doch der 7. Oktober 2023 habe als Brandbeschleuniger gewirkt, finden die Autoren. Häufig anzutreffen seien in den TikTok-Kommentaren Emojis, die antisemitische Botschaften wiedergeben, etwa die Verbindung der israelischen Flagge mit einem Schuh oder einer Toilette; ein Blitz-Emoji gilt als Code für die SS. Unter Videos von Juden hinterlassen antisemitische Nutzer Emojis von Geldbündeln oder Geldsäcken, die die antisemitische Legende einer besonderen Geldgier verbreiten sollen.

Eine Zeit lang beliebt war ein Filter, der die Nase des Nutzers länger und breiter machte, den Mund in eine Fratze verzog. Der Filter wurde zusammen mit einem Lied aus einem jüdischen Musical „The Fiddler on the Roof“ zum Trend. Israel werde in Postings immer wieder mit dem Südafrika der Apartheid gleichgesetzt und als „weiße Siedlerkolonie“ imaginiert. Die historische Verwurzelung von Juden mit Israel werde ausgeblendet, ebenso die Shoah und die Pogrome in Osteuropa, die zur Staatsgründung führten, oder die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung, die mit „weiß“ unzureichend charakterisiert ist. Besonders besorgniserregend seien Videos gewesen, die körperliche Angriffe auf Juden in Israel oder woanders zeigten.

Nach dem 7. Oktober seien Beiträge viral gegangen, in denen in Zweifel gezogen wird, ob das Hamas-Massaker auf das Musik-Festival überhaupt stattgefunden hat oder in denen die Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung als „Inside-Job“ der israelischen Regierung dargestellt werden. Es würden von Künstlicher Intelligenz hergestellte Bilder getöteter palästinensischer Kinder in Umlauf gebracht, um das antisemitische Motiv des „Kindermörders Israel“ zu bedienen. Hinzu komme „eine Flut an offen die Shoah relativierenden Memes und Clips, die Israel mit dem NS-Regime gleichsetzen oder Gaza mit Auschwitz“, sagte Eva Berendsen, Leitung Kommunikation/Politische Bildung im Netz.

Der Bericht gibt auch Aussagen von Schülern wieder, die Lehrer ratlos machten. Ein Drittklässler einer Frankfurter Schule sagte: „Die Israelis töten die Kinder in Gaza. Sie halten die Palästinenser gefangen und haben ihnen das Land geklaut.“ Ein Schüler fragte: „Was haben Juden eigentlich gemacht, dass alle sie nicht mögen?“ Eine 14-jährige Schülerin sagte: „Es ist OK, israelische Kinder zu töten, was meinen Sie, wie viele palästinensische Kinder schon gestorben sind.“ Ein 16-jähriger Schüler sagte anlässlich eines Besuches einer NS-Ausstellung: „An den Nazis war ja nicht alles schlecht, die waren auch gegen Juden.“

„Justin Bieber ist bei den Illuminaten“

Die libanesische Food-Bloggerin Abir el Saghir mit fast 25 Millionen Followern auf TikTok lud direkt nach den Angriffen am 7. Oktober ein Video hoch, das sie dabei zeigt, wie sie zur Feier der Hamas-Massaker Süßigkeiten an Passanten verteilte. Ein Foto, das auf TikTok, Instagram und X geteilt wurde, zeigte einen Mann in Trümmern, der fünf Kinder trägt. Allerdings haben sie seltsame Proportionen, zu wenig oder zu viele Zehen; ein Faktencheck enttarnte das Foto als Fälschung mittels einer KI.

Einer der in Deutschland erfolgreichsten TikToker, Barello (300.000 Follower) ließ sich über den Popstar Justin Bieber aus: Der hatte auf Instagram eine Solidaritätsbekundung für Israel mit einem Bild aus Gaza unterlegt. Barello sagte, der Sänger sei bei den Illuminaten, und er müsse das posten, sonst würde er gecancelt. Die Autoren warnen: Eine Generation junger Menschen, die sich ihr Weltbild aus Videoschnipseln und Fetzen von Demagogie zusammengesetzt hat, werde bald in die Gesellschaft nachrücken, Einfluss nehmen, durch Wahlen und Abstimmungen Entscheidungen treffen.

Lehrkräfte würden besonders mit Bezug auf den Nahost-Konflikt mit radikal verkürzten und aggressiven Positionierungen konfrontiert. Die digitale „Community” sei größer als eine Schulklasse. Die Autoren fügen hinzu: „So lächerlich manches erscheint, was auf TikTok passiert: Es hat handfeste Konsequenzen, bringt Menschen in Gefahr.“

Im letzten Teil ihres Berichtes stellen die Autorinnen mögliche Handlungsoptionen auf, um der Entwicklung zu begegnen. Medienkompetenz müsse Schulfach werden, fordern sie etwa – im Sinne eines „Internetführerscheins” oder „als konsequente, kontinuierliche Auseinandersetzung mit Manipulationstechniken und Fake-News-Trends“. Demokratiebildung könne nicht mehr getrennt von Medienbildung behandelt werden. „Es hilft nichts, wenn im Deutschunterricht teilweise noch der kritische Umgang mit Boulevardzeitungen eingeübt wird, einem Medium, das die meisten Schüler*innen längst nicht mehr nutzen.“ Außerdem sollte die Zivilgesellschaft Influencer nicht mehr belächeln, sondern als das ansehen, was sie sind: als Vertrauenspersonen von Jugendlichen, oft erste und einzige Quelle von Nachrichten und politischen Einordnungen.

Jugendsozialarbeiter müssten auf TikTok eine mindestens gleichrangige Präsenz wie im realen Leben aufbauen, müssen ansprechbar sein, aber auch aufsuchend tätig werden. Ebenso müssten sich die Tech-Konzerne scharfe Kontrollen und Auflagen gefallen lassen. TikTok etwa verlasse sich derzeit weitgehend auf AI-Zensur, doch die könne „mit einfachsten Mitteln ausgetrickst“ werden.

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