Der Dschungelflieger

Jan Klassen fliegt im Auftrag Gottes und rettet als Buschpilot Menschen in Not. PRO hat ihn 2019 beim Training im hessischen Marburg begleitet. Seit drei Jahren ist der 28-jährige Deutsche nun als Missionspilot in Südostasien im Einsatz.
Von PRO
Jan Klassen, Buschpilot, MAF

Beten gehört vor jedem Start zum Routine-Check des ­Missionspiloten Jan Klassen. Der 28-Jährige fliegt für MAF (Mission Aviation Fellowship). Er ist einer der Piloten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Menschen in armen und abgelegenen Ländern der Welt durch Flugeinsätze zu helfen – wie hier in Timor-Leste zwischen Australien und Indonesien. Dabei muss es meistens schnell gehen, da stehen Leben auf dem Spiel.

So wie jetzt: Das Leben einer schwangeren Frau und das ihres Kindes sind in Gefahr. Sie muss in die einzige funktionierende Klinik des Landes, in die Hauptstadt Dili gebracht werden. Auf dem schlecht ausgebauten, holprigen Landweg würde die Fahrt mit dem Auto vier bis fünf Stunden dauern. Das kann die werdende Mutter nicht überstehen. Also schnell Koordinaten, Flugzeit, Gewicht, Balance und Treibstoff berechnen und Wetterinformationen einholen.

Der Flug mit einer Krankenschwester an Bord von Dili nach Baucau, um die Frau abzuholen, dauert eine halbe Stunde. Er führt die atemberaubend schöne Küste entlang. Berglandschaft, weiße Strände, tiefblaues Meer, türkisfarbene Korallenriffe. Manchmal sieht man auch Blauwale, Delphine und Orcas an der Küste entlangziehen. Klassen bietet sich diese traumhafte Kulisse bei seinen Flugeinsätzen im Inselreich, doch viel Zeit für Sightseeing bleibt ihm nicht.

Tiere auf der Landebahn

„Einmal überquerte eine Herde Büffel während des Startlaufs vor mir die Piste“, erzählt Klassen. „Da heißt es dann Nerven behalten und schnell entscheiden, ob ich rechtzeitig abheben kann oder den Startlauf abbrechen muss mit dem Risiko, nicht vor der Herde zum Stillstand kommen zu können.“

Es komme regelmäßig vor, dass Büffel, Ziegen oder Menschen den Piloten dazu zwingen, den Landeanflug abzubrechen und durchzustarten – „meistens vertreibt der dabei entstehende Lärm dann die Hindernisse“, erzählt Klassen. Heute fährt nur ein Mopedfahrer auf der Piste, der ist aber schnell verschwunden, als er das herankommende Flugzeug hört.

Die Landung ist in diesem Falle recht unkompliziert. Das ist nicht immer so hier auf der teilweise recht unwegsamen Insel. Meist muss Klassen irgendwelche Buschpisten anfliegen.

Wenn er Patienten transportiert, dann häufig wegen Krankheiten wie Lepra, Tuberkulose, Denguefieber oder auch aufgrund von Verkehrsunfällen oder Krokodilangriffen. Meistens sind es aber werdende Mütter, die Probleme bei der Geburt ihres Kindes haben und schnell in eine Klinik gebracht werden müssen.

So wie heute. Ein Krankenwagen hat die hochschwangere Frau hierher gebracht. Es sieht nicht gut aus. Man kann der Frau ihr Leid ansehen. „Wahrscheinlich ist das Kind in ihrem Leib schon tot“, vermutet die Krankenschwester. Jetzt ist schnelles Handeln erforderlich. Klassen hilft mit und gibt Anweisungen in der Landessprache Tetum.

Die Frau muss liegend transportiert werden. Dafür wurden schon vor dem Start drei Sitze aus dem Flugzeug ausgebaut. Auch Tropf und Sauerstoff sind im Flieger vorhanden. Die drei restlichen Sitze nehmen die Krankenschwester und zwei Verwandte der Patientin ein. „Wir nehmen immer Familienmitglieder mit, weil sie die Patienten betreuen. Sie nehmen ihnen ein wenig die Angst vorm Fliegen und versorgen sie während des Klinikaufenthaltes, da sie alleine in der Hauptstadt aufgeschmissen wären“, erklärt Klassen.

Timor-Leste

Timor-Leste oder Osttimor ist eine frühere portugiesische Kolonie. 1975 rief das Land seine Unabhängigkeit aus, wurde jedoch wenige Tage später vom benachbarten Indonesien besetzt. 1999 entsandten die Vereinten ­Nationen Friedenstruppen und übernahmen vorübergehend die Verwaltung. Seit 2002 ist Timor-Leste unabhängig. Präsident José Manuel Ramos-Horta, der das Amt schon einmal inne hatte, erhielt 1996 den Friedensnobelpreis für sein Bemühen um eine friedliche Lösung im Konflikt mit der Besatzungsmacht. Der Inselstaat zwischen Australien und Sulawesi ist etwas kleiner als Schleswig-Holstein und hat ca. 1,3 Millionen Einwohner. 97 Prozent der Bevölkerung sind katholisch.

Die medizinische Versorgung im Land ist schlecht, die hygienischen Zustände im Krankenhaus sind katastrophal. Oft teilen sich zwei Patienten ein Bett, ihre Angehörigen schlafen neben dem Bett auf dem Boden.

In der Zwischenzeit haben sich viele Schaulustige um das Flugzeug versammelt. Für sie sind Flugzeug und Pilot interessanter als die Patientin. Auch für die mitfliegenden Angehörigen wird dieser für sie wohl erste Flug ein Erlebnis. Selbst beim Anschnallen muss Klassen ihnen helfen, da viele noch nie einen Gurt genutzt haben.

Für einen Moment vergessen sie ihre eigentliche Betreuungsaufgabe und zücken das Handy, um ihr Flugerlebnis in Bildern festzuhalten. Noch ein Gebet für Mutter, Kind und für einen behüteten Flug. Das Flugzeug gleitet in niedriger Höhe, um die Patientin nicht zusätzlich zu belasten.

Immer bereit für den Notfall

Im Landeanflug auf Dili ist die 27 Meter hohe Statue Christo Rei gut zu erkennen, die der Christusfigur von Rio gleicht und 1988 von der damaligen Besatzungsmacht Indonesien errichtet wurde. Vor dem Hangar steht schon ein Ambulanzfahrzeug für den Weitertransport bereit. Schnell drücken MAF-Mitarbeiter den Angehörigen noch ein Carepaket in die Hand.

„Die Menschen sind arm, sie haben nichts. Wir geben ihnen immer die notwendigsten Utensilien für den Krankenhausaufenthalt mit auf den Weg: Seife, Zahnbürste, Wasser, Nahrungsmittel, Handtuch und so weiter“, erklärt Lobitos, ­einer von acht MAF-Mitarbeitern hier vor Ort. Das Bodenpersonal sorgt für die Abwicklung der Aufträge und die Pflege des Hangars. Sie kümmern sich aber auch um die Belange der Menschen, die transportiert werden.

Jan Klassen, MAF, Krankentransport Foto: Heike Knauff-Oliver
Eine Patientin wird für den Transport ins Krankenhaus vorbereitet

„Wir sind quasi 365 Tage im Jahr im Einsatz und immer bereit, im Notfall zu helfen“, sagt Klassen, der 2022 auch an Weihnachten und Silvester in der Luft war. Für ihn ist an diesem Wochenende Standby angesagt. Um nicht unter Zeitdruck zu geraten, muss er für den Notfall gerüstet sein.

Als erstes holt er sich via Airservices Australia Wetterinformationen ein. Es sind keine Unwetter gemeldet, stellt er beruhigt fest: „Unwetter kommen hier in den Tropen schnell und heftig. Besonders in der Regenzeit machen tief hängende Wolken oder tropische Gewitter uns Piloten das Leben schwer. Wenn ich mich dann im Hochland durch die Täler kämpfe, steigt auch der Adrenalinpegel. Gerade vor dem Hintergrund medizinischer Notfälle ist es nicht immer einfach, die richtigen Entscheidungen zu treffen und keine unnötigen Risiken einzugehen“, erklärt er.

Bei der täglichen Vorflugkontrolle ist sein besonderes Augenmerk auf den Propeller gerichtet, da Steinschläge auf den unbefestigten Pisten ein erhöhtes Risiko darstellen. Auch Erdwespen bauen ihr Nest gerne über Nacht an verschiedenen Stellen des Flugzeuges.

Wichtig ist auch die Überprüfung des medizinischen Equipments: Ist genügend medizinischer Sauerstoff in der Flasche? Ist die Trage korrekt installiert? „Manchmal ist die Trage mit Blut oder anderen Körperflüssigkeiten kontaminiert, weil Verletzte stark bluten oder die Wehen bei einer Schwangeren eingesetzt haben“, berichtet Klassen aus Erfahrung. Für die regelmäßige Säuberung und Desinfektion der Flugzeuge und der medizinischen Geräte ist die Bodencrew zuständig.

Buschpilot als Wetterexperte

Wenn Klassen an einem Samstag allein auf dem Flugplatz ist, erledigt er auch die administrativen Aufgaben, die so anfallen. Eine Anruferin bucht für Dienstag einen Charterflug für Angehörige der Vereinten Nationen. Mit Charterflügen erwirtschaftet MAF Einnahmen, die in Form von Preisnachlässen an die lokale Bevölkerung weitergegeben werden. Auch medizinische Einsätze werden dadurch mitfinanziert, das meiste jedoch durch Spenden.

Klassen ist nicht nur Pilot, sondern auch noch zuständig für die Sicherheit am Standort. Da kommt ihm seine umfangreiche Ausbildung zugute. Der gelernte Kaufmann für Spedition und Logistik ist auch Fluglehrer und Sicherheitsexperte. Seit Oktober 2021 ist er in Timor-Leste stationiert, zuvor war er im pazifischen Inselstaat Palau im Einsatz.

Für den überzeugten Christen ist sein Beruf auch Berufung: „Die Organisation MAF ist für mich der ­ideale Arbeitgeber, weil ich hier meine christlichen Überzeugungen mit meinen fliegerischen und technischen Fähigkeiten kombinieren kann“, bekennt Klassen. Im vergangenen Jahr hat er seine australische Berufspilotenlizenz in Mareeba (Australien) erlangt, nachdem er das Flugtraining bei der MAF durchlaufen hatte, die ihn auf die Herausforderungen der Buschfliegerei vorbereitete.

Was es dafür braucht?

„Ein guter Buschpilot muss natürlich sein Flugzeug in jeder Lage beherrschen“, erklärt Klassen. „Außerdem halte ich es für enorm wichtig, die Wetterphänomene in der entsprechenden Region gut zu kennen und ein Stück weit auch vorhersagen zu können. Das kommt natürlich nur mit der Erfahrung. Gerade in den Tropen ändert sich das Wetter sehr schnell, was einem vor allem im Hochland leicht zum Verhängnis werden kann.“ Und: „Ein Buschpilot hat keine Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen und jeden Tag den Heimweg schweißgebadet anzutreten.“

Auch für den Rückflug ist gesorgt

Rund 80 Prozent der Aktivitäten von MAF in Timor-Leste sind medizinische Evakuierungen. Jedes Jahr werden um die 260 Menschen aus den abgelegenen Bezirken zur Versorgung in die Hauptstadt Dili gebracht. Doch im Namen Christi tut MAF mehr, sowohl während des Krankenhausaufenthalts der Menschen als auch bei ihrer Rückkehr in ihre Heimatdörfer: Besuche, Seelsorge und Bereitstellung von Nahrungsmitteln und frischem Wasser sind Teil der praktischen Nächstenliebe.

Der geplante Besuch der hochschwangeren Frau aus Baucau, die vor vier Tagen hierher in die Klinik gebracht wurde, beschränkt sich jedoch auf „suchen“. In dem hoffnungslos überfüllten Krankenhaus herrscht wenig System. Es ist nicht nachvollziehbar, was aus der Frau geworden ist. Ob sie und das Kind in ihrem Bauch überlebt haben, bleibt ungewiss.

Timor-Leste, Dili Foto: Heike Knauff-Oliver
Anflug auf Dili, die Hauptstadt von Timor-Leste

Viele der Patienten, die aus medizinischen Gründen von den Regionen in die Stadt gebracht werden, werden aus dem Krankenhaus auf die Straße entlassen – mit wenig oder gar keinem Geld, ohne Vorräte, und wenn keine Angehörigen dabei sind, allein und weit weg von ihrem Zuhause.

Um den Kreis der Nächstenliebe zu schließen, sorgt MAF deshalb auch für eine schnelle, bequeme Rückkehr nach Hause. Am besten in demselben Flugzeug, das die Patienten nach Dili gebracht hat.

So wie bei Manuela und ihren Eltern. Das zwölfjährige Mädchen wurde gerade von der Enklave Oecussi hierher gebracht. Wegen einer simplen Schnittwunde, die sich entzündet hat und nicht entsprechend behandelt wurde, musste ihr linkes Bein bis zum Knie amputiert werden.

Gerne würde sie Lehrerin werden, erzählt sie schüchtern. Doch ihre Zukunft in einem Land wie Osttimor ist eher düster. Orthopädische Versorgung gibt es fast nicht. Ohne die Hilfe der MAF-Missionare hätte sie keine Aussicht auf Behandlung und die Möglichkeit auf eine Prothese und damit Hoffnung auf ein Leben mit Ausbildung.

Klassens Vertrag als Pilot und Safety Manager für MAF Timor-Leste läuft bis 2025. Weitere Entscheidungen werden der familiären Situation entsprechend gefällt. Seine Frau Rebecca trägt den Einsatz mit und ist selbst engagiert: Sie kümmert sich um die Versorgung von Frauen und Kindern und packt Versorgungspakete. Die beiden Kinder Aleah (3) und Dan (2) genießen eine zweisprachige Erziehung, Englisch und Deutsch. Auch Tetun, die Sprache der Timoresen, lernen sie so ganz nebenbei. Das dritte Kind der Familie soll in diesem Sommer geboren werden – aber in einer deutschen Klinik.

Von: Heike Knauff-Oliver

Der Beitrag ist in der Ausgabe 2/2023 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Hier können Sie das Heft kostenlos bestellen oder digital anschauen.

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