„Brisanten Positionen theologisch entgegengetreten“

Am 31. Mai vor 90 Jahren wurde die Barmer Theologische Erklärung beschlossen. PRO hat den Theologen Jürgen Kampmann gefragt, wie gefährlich der Beschluss war und welche Lehren die Kirche heute im Umgang mit rechten Positionen daraus ziehen kann.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Tübinger Theologe Jürgen Kampmann hat intensiv zur Barmer Theologischen Erklärung geforscht

PRO: Warum zählt die Barmer Theologische Erklärung zu den wichtigsten christlichen Bekenntnissen?
Die sechs Thesen der Barmer Theologischen Erklärung (BTE) besitzen ohne Frage Bekenntnischarakter. Das zeigt sich schon an deren innerem Aufbau: einem grundlegenden Wort der Bibel folgt eine These – und dann eine Benennung solcher Überzeugungen, die im Widerspruch zu dem stehen, was in der These ausgeführt wird, also eine Verwerfung. Die Synodalen haben bewusst darauf verzichtet bei der Tagung der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Wuppertal-Barmen im Mai 1934, diese Thesen mit „Bekenntnis“ zu überschreiben. Sie haben sie nur als „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ bezeichnet. Das geschah vor dem Hintergrund, dass erstmals über die innerprotestantischen Konfessionsgrenzen zwischen lutherischen, unierten und reformierten Kirchen hinweg eine solche Erklärung angenommen wurde. Bis heute wird in den Landeskirchen mit der BTE unterschiedlich umgegangen. Im Rheinland und in Westfalen werden die Pfarrerinnen und Pfarrer bei der Ordination sogar darauf verpflichtet. Wichtig ist die Theologische Erklärung ungeachtet dessen, weil sie in der scharf geführten theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung der Jahre 1933 und 1934 aktuelle Fragen durchgeklärt hat, zu denen sich in den altkirchlichen Bekenntnissen und den Bekenntnissen aus der Zeit der Reformation noch keine unmittelbar anwendbaren Aussagen finden. Die BTE erhebt nicht den Anspruch, ein Text zu sein, in dem alle grundlegenden Überzeugungen des christlichen Glaubens formuliert werden, sondern sie bezieht nur – wie es ihr Titel auch umreißt – zu den im Jahr 1934 brisanten Debatten biblisch begründet Position. Die seitdem vergangenen 90 Jahre haben erwiesen, dass die erzielten theologischen Klärungen relevant geblieben sind. Und wohl auch in Zukunft bleiben werden.

Was genau macht den Text so prominent und so wirkungsvoll?
Das ist die griffige, knappe und präzise Formulierung – durch „These“ und „Verwerfung“ ist jeweils klar markiert, was bejaht und was abgelehnt wird.

Wieviel Kampfansage gegen Hitler steckte in dem Text, der die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat betonte?
Es gibt keine genauen Quellen, die es erlauben, im Einzelnen festzustellen, von welchem Maß an „Opposition gegen Hitler“ die an der Bekenntnissynode mitwirkenden 139 Synodalen je für ihre Person im Mai 1934 erfüllt gewesen sind. Eine Vielzahl von Indizien weist doch darauf hin, dass das leitende Motiv für das Zusammentreten der Bekenntnissynode kein politisches war, das sich gegen die nationalsozialistische Regierung und deren Vorgehen gerichtet hätte. Man wollte sich unverkennbar gegen das geltende kirchliche Recht brechende Agieren der (nach der geltenden Kirchenverfassung gar nicht mehr ordentlich zusammengesetzten) Reichskirchenregierung unter Leitung von Reichsbischof Ludwig Müller verwahren. Deshalb wurde in Barmen neben der BTE auch eine „Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ verabschiedet.

Was war deren Inhalt?
Dort kam genau das unmissverständlich zum Ausdruck kam: „Das derzeitige Reichskirchenregiment hat diese unantastbare Grundlage [das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt und in den Bekenntnissen der Reformation neu ans Licht getreten ist] verlassen und sich zahlreicher Rechts- und Verfassungsbrüche schuldig gemacht. Es hat dadurch den Anspruch verwirkt, rechtmäßige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche zu sein.“ Das war verbunden mit einer ausdrücklichen Absage an die Einführung des Führerprinzips nach nationalsozialistischem Muster im Bereich der Kirche – „der Geist des Herrn Christus und nicht der Geist weltlichen Herrschens“ müsse „in der Kirche unserer Väter bestimmend“ sein. Das ist aber nicht gleichzusetzen mit einer Absage an die Umsetzung des Führerprinzips im weltlichen Bereich – oder gar einer Ablehnung Hitlers persönlich bzw. in Wahrnehmung seiner Funktion als Reichskanzler. Hans Asmussen hat vor der Bekenntnissynode die BTE in einem großen Vortrag erläutert und dabei darauf hingewiesen, man weise den schon wiederholt geäußerten Verdacht von sich, eigentlich gegen das (nationalsozialistisch geführte) Staatswesen opponieren zu wollen: „Oft genug haben wir schon zum Ausdruck gebracht, daß man nur im Unrecht gegen Zeit und Ewigkeit uns als Rebellen verdächtigt, offenbar mit dem stillen Wunsche, uns dadurch auch kirchlich unmöglich zu machen.“ „Beide, Staat und Kirche, sind Gebundene, diese im Bereich des Evangeliums, jener im Bereich des Gesetzes. Ihre Bindung bezeichnet den Raum ihrer Freiheit. Jede Ueberschreitung der Bindung führt sowohl die Kirche wie auch den Staat in eine ihrem Wesen fremde Knechtung.“ Eine kirchliche, dem staatlichen Handeln bewusst entgegentretende Position ist in Barmen im Mai 1934 noch nicht formuliert worden.

Die Gedenktafel mit der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung Foto: Atamari
Die Gedenktafel mit der ersten These der Barmer Theologischen Erklärung (Foto: Atamari)

Wie gefährlich war die Textpassage „Heil gebührt nur Jesus Christus“ für die Synodalen? Immerhin war es ja ein Angriff auf die totalitäre Ideologie?
Das dezidierte Christusbekenntnis hat im Moment der Tagung der Barmer Bekenntnissynode keine unmittelbare Gefährdung für die Synodalen dargestellt. Die Reichsbekenntnissynode war nicht verboten, sondern behördlich angemeldet. Es ist über sie auch in der Presse berichtet worden, und hernach sind die Beschlüsse gleich im Juni 1934 im Wortlaut veröffentlicht und in großer Stückzahl gedruckt worden. Sie waren über jede Buchhandlung zu beziehen. Das heißt nicht, dass die Geheime Staatspolizei nicht sorgsam die Entwicklung des „Kirchenstreits“ zwischen Bekennender Kirche und deutschchristlicher Reichskirchenregierung verfolgt hätte. Einen dezidiert antikirchlichen Kurs hat Hitler aber erst ab Herbst 1934 eingeschlagen – mit dann zunehmenden Restriktionen, Repressalien und Strafmaßnahmen, denen sich Gemeindeglieder und Pfarrer, die sich zur Bekennenden Kirche hielten, aus den unterschiedlichsten Vorwänden und Anlässen ausgesetzt sahen. Zur Charakteristik der NS-Diktatur gehört, dass sie in manchen Phasen regional und lokal sehr unterschiedlich agiert hat und daher wegen der Willkür des Vorgehens auch Unsicherheit herrschte.

Viele Synodale waren NSDAP-Mitglieder: Warum gelang trotzdem der einmütige Beschluss?
Ja, nicht wenige Synodale der Reichsbekenntnissynode waren Mitglied der NSDAP. Unter anderem auch die einzige als Synodale mitwirkende Frau, Stephanie Mackensen von Astfeld. Für alle Beteiligten scheint klar gewesen zu sein, dass man sich mit der Gründung der Bekenntnissynode nicht gegen den Staat oder die Partei stelle – denn im Parteiprogramm der NSDAP war in Punkt 24 ausdrücklich formuliert, dass sie für ein „positives Christentum“ eintrete – und sich im Übrigen überkonfessionell verstehe.

Welche der sechs prägnant formulierten Thesen fasziniert sie am meisten?
Das ist schwer zu entscheiden. Die sechs Thesen sind ja bewusst als Einheit konzipiert und in eben dieser Zusammengehörigkeit als aufeinander bezogen von der Synode angenommen worden. These 1 steht also nicht zufällig den anderen voran. Darin ist die entscheidende Weichenstellung formuliert, dass für Christen nur das Maßstab gebend sein kann, was von Christus in der Heiligen Schrift bezeugt ist, und nicht etwa irgendwelche anderen Geschehnisse oder Personen, die als „Offenbarung Gottes“ gedeutet werden und darum mit dem Anspruch auftreten, dass man sich jetzt daran orientiert. Von dieser fatal irrigen Überzeugung ließen sich indes die „Deutschen Christen“ leiten. Sie meinten, in der „nationalen Erhebung“ nach der Machtübernahme Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 ein heilvolles Wirken Gottes am deutschen Volk erkennen zu können – und darum der nationalsozialistischen Ideologie den Weg im Staat wie auch in der Kirche bahnen zu müssen.

Viele evangelische Landeskirchen haben die Erklärung in ihre Grundordnung aufgenommen. Welche Bedeutung hat das Dokument für die Kirche heute?
Die Barmer Theologische Erklärung tut ihren Dienst heute und in Zukunft gut, wenn sie verstanden wird als bleibende An-Regung und im Ernstfall bohrende, kritische An-Frage an theologische und ideologische (Fehl-)Entwicklungen, die Raum und Geltung in der Kirche – in der Kirchenleitung wie in der kirchengemeindlichen Praxis – beanspruchen.

Was kann Kirche heute tun, wenn Nazi-Parolen in unserer Gesellschaft Raum greifen?
Sie kann auf jeden Fall ihrem Bildungsauftrag nachkommen und so dazu beitragen, dass in Erinnerung bleibt und neu wieder bewusst wird, in welche Schieflage nicht nur Einzelne, sondern auch eine Gesellschaft geraten kann, wenn sie sich ideologischen Träumen hingibt – in der Hoffnung auf gesteigertes irdisches Wohlergehen. Mit solch süßem „Zuckerbrot“ hat die NSDAP einst so große Zustimmung im Volk erreicht – mit der Hoffnung auf mehr Macht und mehr „Raum“, mit der Illusion, dass das vermeintliche Volkswohl es erlaubt, andere politisch, religiös und militärisch gewaltsam „aus dem Weg“ zu räumen, gar deren Leben einfach für lebensunwert zu deklarieren. Das Wissen um die bitter gemachten Erfahrungen in der NS-Zeit vererbt sich nicht einfach von Generation zu Generation, sondern bedarf immer wieder neuer Grundlegung und Auffrischung. Auch die Kirchen sind nicht glorreich durch die zwölf Jahre der NS-Diktatur hindurchgekommen und haben keinen Grund, sich moralisch zu er- oder zu überheben, sondern müssten diesen Dienst nüchtern und überzeugend leisten. Wenn andere Parolen proklamieren und damit Emotionen schüren, steht es den Kirchen gut an, den Boden zu präsentieren, auf dem sie gut gegründet stehen – um es mit der BTE zu formulieren: „durch ihn [Jesus Christus] widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“. Wozu? „Zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. Jürgen Kampmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Kirchenordnung und Neuere Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.

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