Meinung

Arte beleuchtet Evangelikalismus in den USA

Arte geht dem Evangelikalismus und seinem Verhältnis zur Politik kritisch auf den Grund. Weil sich die dreiteilige Dokumentation vor allem an Billy Graham und Evangelikalen in den USA orientiert, bleibt sie lückenhaft, ist aber sehenswert.
Von Norbert Schäfer
arte, "Evangelikale – Mit Gott an die Macht"


Der Fernsehsender Arte widmet sich in einer Dokumentation dem Evangelikalismus. Unter dem Titel „Evangelikale – Mit Gott an die Macht“ schildern drei jeweils etwa 50-minütigen Folgen in erster Linie am Leben und Wirken des US-amerikanischen Baptistenpredigers Billy Graham die Entwicklung in den USA von den Anfängen bis heute.

Graham habe dem Evangelikalismus in den USA, aber auch in Korea, Europa und Brasilien den Weg bereitet. Dank dieser Strömung sei das Christentum eine von „wenigen Religionen, die noch wachsen“, stellt die Sendung fest. Rund 660 Millionen Menschen gehören demnach der evangelikalen Glaubensausprägung an.

Die Dokumentation von Thomas Johnson und Philippe Gonzalez nennt als gemeinsame „Prinzipien“ der Evangelikalen „individuelle Bekehrung“, die „Unfehlbarkeit der Bibel“, den „Sühnetod Jesu“ und „missionarischen Eifer“. Demnach verfolgen Evangelikale weltweit die Mission, die moralischen Maßstäbe der Bibel zu verteidigen und die Botschaft Christi in die Welt zu tragen.

Von der Reformation bis ins 21. Jahrhundert

Radikale Evangelikale forderten eine Gesellschaft, in der alle sozialen, kulturellen und politischen Regeln „der absoluten Wahrheit der Bibel unterworfen sind“. Mit Donald Trump seien die Evangelikalen in den USA mit ins Weiße Haus eingezogen und hätten den Präsidenten während dessen ganzer Amtszeit begleitet. Auch in Australien sei mit Scott Morris ein evangelikaler Christ „an die Macht gekommen“. Ebenso sei in Brasilien Jair Bolsonaro mit den Stimmen der Evangelikalen Präsident des Landes geworden. Alle drei sind übrigens nicht mehr im Amt.

Die Sendung stellt die Frage: „Was sind die Strategien dieser bibeltreuen Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg alle fünf Kontinente eroberte?“

Um Antworten zu finden, schildert die Doku-Serie die Entwicklung des Evangelikalismus und die damit einhergehende, zunehmende Annäherung von Kirche und Staat in den USA. Detaillierter wird die Darstellung ab dem Jahr 1941 und der Gründung der National Association of Evangelicals (NAE), deren Wortführer Billy Graham wurde.

Im Fokus der Sendung stehen über weite Strecken Grahams weltweite Bemühungen, in den sogenannten „Crusades“ (Kreuzzügen) Menschen für Jesus zu gewinnen. Auch schildert die Dokumentation, wie die Bewegung unter Graham zunächst immer politischer und kommerzieller wurde, aber auch, wie sich Graham unter US-Präsident Richard Nixon und der Watergate-Affäre von der Politik distanzierte und sich letztlich weigerte, die zunehmende Politisierung der Bewegung zu unterstützen.

Die Dokumentation beschreibt zudem die wachsende Kluft innerhalb der Bewegung zwischen der Betonung von sozialen Frage einerseits, und dem drohenden Verlust christlicher Werte durch den Liberalismus andererseits. Beim Lausanner Kongresses für Weltevangelisation habe sich der konservative, fundamentale Zweig der Bewegung gegen die progressiven Kräfte durchgesetzt.

Keine Polemik, aber Lücken

Die Darstellung von den Anfängen des Evangelikalismus bis aktuell zur konservativen Rechten in den USA – die Donald Trump unterstützt oder den Sturm auf das Capitol billigte, die die historisch-kritische Exegese strikt ablehnt und versucht, mit konservativ-christlichen Vorstellungen politischen Einfluss zu erlagen – ist plausibel, aber auch bisweilen holzschnittartig.

Auf fragwürdige Auswüchse in der Bewegung stürzt sich die Dokumentation nicht – etwa evangelikale Organisationen und deren Leiter, die Millionen-Vermögen angehäuft haben, skurrile Formen der Glaubensäußerung oder theologische Sonderlehren wie das Wohlstandsevangelium. Stattdessen stellt sie wohltuend nüchtern dar, was ist.

Der historische Abriss der Bewegung, seiner Hauptfigur Billy Graham, Zusammenhänge, Prägungen und Auswüchse, werden sachlich, ohne Polemik oder der Absicht, etwas ins Lächerliche zu ziehen, geschildert.

Insgesamt widmet sich die Dokumentation durchaus differenziert auch den strittigen Themen wie Abtreibung, Lebensrecht, Homosexualität oder Kreationismus, auch wenn diese oft nur angerissen werden. Dabei kommen jeweils Befürworter und Kritiker – sowohl von außerhalb als auch von innerhalb der Bewegung – zu Wort.

In der Dokumentation äußern sich unter anderem Robert Jeffress, Pastor der „First Baptist Dallas“ und glühender Trump-Anhänger, Paula White, Trumps geistliche Beraterin, Franklin Graham, der Sohn von Billy Graham und Trump-Befürworter, der renommierte Religionshistoriker Randall Balmer, sowie verschiedene Wissenschaftler und Evangelikale, darunter Shane Claiborn, der Mitbegründer der „Red Letter Christians“ und Linksevangelikaler.

Leider mit Schlagseite

Kritik übt die Doku daran, dass Graham sich nicht stärker für das Ende der Rassentrennung in den USA eingesetzt hat. Auch wird kritisiert, dass sich Evangelikale im Sommer 2020 nicht konsequent und geschlossen hinter die „Black Lives Matter“-Bewegung gestellt hätten, obwohl „das Leben Hauptanliegen“ der Bewegung sei.

Im Kern bemängelt die Serie die schwindende Trennung von Staat und Religion in den USA. Wenn der Glaube mit einer politischen Bewegung gleichgesetzt werde, laufe er Gefahr, in einen religiösen – hier speziell „christlichen“ – Nationalismus zu führen und damit die Demokratie zu gefährden. Das ist eine wichtige Mahnung.

Leider stellt die Dokumentation jedoch in dem Zusammenhang und ohne nähere Differenzierung Evangelikale in eine Reihe mit dem aufgewiegelten Mob, der 2021 das US-Capitol stürmte. Dass Evangelikale die Beteiligung von Christen bei der unsäglichen Aktion auf das Schärfste verurteilt haben, und sich auch vorher von US-Präsident Donald Trump in aller Deutlichkeit distanziert haben, wird nicht ausgeführt.

Hier bekommt die Dokumentation eine deutliche Schlagseite. Zum Handwerk der Macher hätte an der Stelle gehört, auch die Gegenpositionen derer evangelikalen Leiter einzuarbeiten, die den Sturm auf das Capitol verurteilten und auch US-Präsident Trump ablehnten.

„Religionen müssen sich viel deutlicher dagegen verwahren, dass sie missbraucht werden“, erklärt Thomas Schirrmacher, der Generalsekretär der Weltweiten Evangelischen Allianz (WEA). Schade, dass Schirrmacher andere strittige Themen, die der Film anspricht, nicht einordnen darf. Denn der Theologe kann evangelikale Positionen pointiert erklären.

Soziales Engagement von Evangelikalen ist kein Thema

Leider kommen Stimmen evangelikaler Christen in den USA kaum vor, die sich vehement gegen Donald Trump und dessen Vereinnahmung christlicher Werte ausgesprochen haben. Mag die Kritik an Grahams Zurückhaltung bei der Frage der Rassentrennung in den USA und der zögerlichen Beteiligung Evangelikaler an der „Black Lives Matter“-Bewegung auch berechtigt sein: Die Dokumentation übersieht, dass die Abschaffung der Sklaverei von England aus und von Evangelikalen mit vorangetrieben wurde.

Die Dokumentation gibt vor allem Anlass zur kritischen Betrachtung über evangelikales Christentum in den USA und in Brasilien – und dies mit Blick auf ihr Verhältnis zur Politik. Mit diesem inhaltlichen Schwerpunkt kommen die vielen an sozialer Veränderung interessierten Evangelikalen nicht ins Sichtfeld: das Engagement der unzähligen Kirchen, Werke und Projekte evangelikaler Christen weltweit, die gegen Armut, Ungerechtigkeit, Not und Ausbeutung von Menschen kämpfen – unabhängig von deren Weltanschauung, Ethnie oder Religion.

Auch dass evangelikale Christen keine homogene Gruppe sind, sondern sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Glaubensausprägungen ausdifferenzieren, hätte eine Erläuterung verdient. Das alles mag dem gewählten Fokus der Dokumentation geschuldet sein. Dennoch bleibt sie in Teilen lückenhaft in ihrem Anspruch, „die Evangelikalen“ zu zeigen.

Für viele Evangelikale – auch hierzulande – ist Billy Graham bis heute eine Lichtgestalt. Daran rüttelt auch die Serie nicht. Im Gegenteil. Dass Graham sich letztlich von der Politik distanzierte und weigerte, die zunehmende Politisierung der Bewegung zu akzeptieren, möge evangelikale Christen heute wachrütteln, die einer Vereinnahmung christlicher Ideale durch die eine oder andere Partei auf den Leim zu gehen drohen.

„Evangelikale – Mit Gott an die Macht“, Arte, 4. April, 20:15 Uhr, sowie 19. April, 9 Uhr, abrufbar in der Arte-Mediathek bis 9. Juni

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