Arche-Sprecher: „Ich schäme mich für mein Land“

Das Bürgergeld ist nicht mal ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wenn wir jetzt nicht Geld in die Hand nehmen, werden wir Hunderttausende bedürftige Kinder verlieren. Ein Zwischenruf von Wolfgang Büscher, Sprecher der „Arche Stiftung“.
Von PRO
Stephanie Kiefer leitet die Arche in Frankfurt-Griesheim

5,3 Millionen Erwachsene und Kinder werden wohl ab Januar des kommenden Jahres das neue Bürgergeld beziehen. Es löst nach 18 Jahren Hartz IV ab. In Berlin würde man sagen: „Das ist auch gut so.“ Hartz IV bedeutet Stigmatisierung. „Hartzen“ ist ein schreckliches Wort, das wir in den 30 deutschen Archen immer wieder hören mussten. „Hartzen Deine Eltern auch?“, ein gängiger Satz in den unzähligen sozialen Einrichtungen, wie auch in der Arche. Doch wird jetzt vieles anders oder sogar besser, oder ist das Ganze nur Kosmetik, gar eine geschickte PR-Kampagne unserer Bundesregierung? 

Zuerst einmal: Es ist natürlich nicht alles schlecht. Wenn ein Erwachsener seinen Job verliert und über Jahre mühsam ein kleines Vermögen angespart hat, darf er 40.000 Euro für ein Jahr behalten, für jede weitere Person einer Bedarfsgemeinschaft sind es weitere 15.000 Euro. Das ist ja schon mal etwas. Doch wohin mit dem Geld nach einem Jahr Arbeitslosigkeit? Wenn also eine vierköpfige Familie oder – nennen wir es mal wie die Bundesregierung – „Bedarfsgemeinschaft“, 85.000 Euro angespart hat, muss das Geld nach einem Jahr entweder ausgegeben sein oder einem Treuhänder anvertraut werden.

Mütter müssen aufs Mittagessen verzichten

Das hat natürlich ein Geschmäckle. Letztendlich muss man das Geld in einem Jahr also ausgeben, sonst wird das Ganze mit dem neuen Bürgergeld verrechnet und man geht, solange das Geld auf dem Konto ist, leer aus. Zwar muss man nicht gleich jeden Job annehmen, der einem durch die Arbeitsagentur angeboten wird. Aber da hört es dann auch schon langsam auf mit den kleinen Annehmlichkeiten. Ein alleinstehender Erwachsener erhält in Zukunft 53 Euro mehr, Kinder von sechs bis 13 Jahren 37 Euro. Damit ist nicht einmal die Inflation ausgeglichen. 

Und wie sieht es bei den Hunderttausenden Familien aus, vor allem bei den alleinerziehenden Müttern und Vätern? Hier sind es überwiegend die Mütter, die mit den Schwierigkeiten des Alltags zu kämpfen haben. Unzählige von ihnen, die wir über unsere Einrichtungen kennen, essen nichts mehr zu Mittag, damit mehr Geld für die Kinder übrigbleibt. Ein kleines Mädchen aus der Arche in Rostock sagte zu der dortigen Einrichtungsleiterin: „Wenn ich wenig esse, dann haben wir auch morgen noch was auf dem Teller.“ Hallo, wir leben in Deutschland!

Wir haben in unserem Land nur eine Ressource, und das sind Kinder. Und die vergessen wir. Wir sollten die Kinder stärker fördern, sowie die Mütter, die oft auf sich allein gestellt sind. Kinder und auch ihre Mütter, Eltern, müssen teilnehmen können am gesellschaftlichen Leben. In die Archen kommen Kinder und Jugendliche, die noch nie in ihrem Leben in einem Kino waren, noch nie im Theater, im Restaurant oder gar im Urlaub. Und das darf nicht sein. Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist überlebenswichtig, sonst verlieren wir diese Kinder. 

Wir müssen die Kids stark machen und fördern, damit sie später ein selbstbestimmtes Leben führen können. Jedes Jahr gehen bis zu 50.000 Jugendliche ohne einen Abschluss von der Schule und leben dann von Transferleistungen. Da stimmt doch was nicht. Was wir brauchen, ist eine Kindergrundsicherung von bis zu 600 Euro im Monat. Die Hälfte von diesem Geld muss in die Kitas und Schulen fließen, die andere Hälfte als Guthaben für soziale Teilhabe direkt an die Kinder, und nicht wie beim Kindergeld auf das Konto der Eltern.

Die Arche verteilt Lebensmittelpakete

Ja, das neue Bürgergeld ist reine Kosmetik. Wir fördern „Arbeitssuchende“, die nicht wirklich Interesse an einem guten Job haben, genauso wie diejenigen, die alles tun, um ihre Kinder vernünftig großzuziehen. Die rund 50 Euro mehr für die zum Beispiel alleinerziehende Mutter ist noch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein, denn das Mehr an Geld wird durch die Inflation zu einer Nullnummer. Diese Familien zahlen sogar noch drauf.

Foto: Paul Höltge
Wolfgang Büscher ist Sprecher der „Arche Kinderstiftung

Wir haben in der Arche einen Nothilfefonds auflegen müssen. Zweimal im Monat erhalten Familien ein Lebensmittelpaket über je 80 Euro. Und das mitten in Deutschland. Doch was machen die Familien, die keine Sozialeinrichtungen aufsuchen können? Müssen die hungern? Müssen deren Kinder hungern? Ich schäme mich für mein Land. Ein Land, das seine Kinder vergisst und von Teilhabe ausschließt, ist nicht mehr mein Land. Geld ist genügend vorhanden. Wenn wir es nicht jetzt und heute in unsere Kinder investieren, werden wir diese Kinder verlieren. 

Die geburtenstarken Jahrgänge werden in naher Zeit in Rente gehen. Wir brauchen dann jährlich bis zu 400.000 Arbeitnehmer aus dem Ausland, um unsere Wirtschaft am Laufen zu halten. Die finanzieren dann mit ihren Steuern genauso die Arbeitsunwilligen mit, wie diejenigen, die es wirklich nötig haben, wie unsere sozial benachteiligten Kinder mit deren Eltern. Doch was ist das für eine Rechnung? Wir müssen Kinder stark machen, so wie wir das in unseren Einrichtungen tun. Dafür müssen wir Geld in die Hand nehmen. Zurzeit werfen wir Hunderttausende von Kindern auf den sozialpolitischen Müllhaufen. Das darf nicht sein. Lassen wir sie teilhaben.

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6 Antworten

  1. zu „Ein alleinstehender Erwachsener erhält in Zukunft 53 Euro mehr, Kinder von sechs bis 13 Jahren 37 Euro. Damit ist nicht einmal die Inflation ausgeglichen.“

    Wer kann mir erklaeren, wie Wolfgang Büscher hier rechnet?
    Satz 2022: 449€
    Satz 2023: 502€
    Erhoehung von ’22 auf ’23 betraegt also 11,8%

    Die allgem. Inflation betraegt momentan 10% auf ein Jahr gesehen (fuer ganz 2022 wird sie wohl bei 7-8% landen). Einen erheblichen Anteil machen dabei Energiekosten aus (Heizung, Benzin/Diesel). Sozialhilfeempfaenger bekommen aber weitgehend eine warme Wohnung on Top und haben selten Autos.
    D.h. ihre pers. Inflation wird wohl deutlich geringer sein (v.a. Nahrungsmittel?).

    Wo liegt mein Fehler? Ansonsten:

    Ich finde es schade, dass mit womoeglich unwahren Behauptungen („damit ist nicht einmal die Inflation ausgeglichen“), die wertvolle Arbeit der Arche diskreditiert wird.

    LG Joerg

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    1. Gerade die preiswerten Lebensmittel sind massiv teurer geworden, sie haben sich teilweise verdoppelt.
      Unsere Familien sind gezwungen, teuer einzukaufen. Wenn Menschen hungern, und davon haben wir in unseren Einrichtungen unzählige Mütter, kann man nicht von einer unwahren Behauptung sprechen. Wir bräuchten ansonsten keine Lebensmittelpakete zu verteilen.
      Wolfgang Büscher

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      1. Vielen Dank fuer Ihre Antwort Herr Büscher,

        Gott segne Ihre Arbeit! Sie haben damit recht, dass Lebensmittel mehr als 10% auf Jahressicht gestiegen sind.

        Insgesamt vertraue ich auf die bewaehrte Systematik beim BMAS, die Regelsaetze ausgewogen berechnet zu haben:
        Nahrungsmittel machen im Budget 1/3 aus: bmas.de/DE/Soziales/Sozialhilfe/faq-sozialhilfe-regelbedarfsermittlung.html
        (gehe zu „Welche Beträge wurden f. d. einzelnen Verbrauchsausg. d. Einpersonenhaush. berücksichtigt?)

        Die Zweidrittel anderen Gueter im Budget sind zT weniger gestiegen als Nahrungsmittel:
        de.statista.com/statistik/daten/studie/1048/umfrage/preissteigerung-fuer-ausgewaehlte-waren-und-dienstleistungen/
        FreizeitUnterhaltungKultur(9,8% am Haushalt) 6,4% Preissteigerung Okt’21-Okt’22
        BekleidungSchuhe(8,3% a.H.) 5,5%
        AndereWarenDienstleistungen(8% a.H.) 4%
        PostTelekommunikation(8,9% a.H.) -0,3%

        Ich verstehe, dass es Ihre Aufgabe ist, mehr Geld und mehr Unterstuetzung zu fordern. Ihre Zielgruppe alleinerziehende Menschen m. Ki. sind besonders schutzwuerdig. Ihr Engagement u. das Werk finde ich toll. Verrallgemeinerungen fuehren aber ggfs zu mangelnder Motivation zu geben/spenden/unterstuetzen? Evtl sollte die Situation von Alleinerziehenden hervorgehoben werden in Abgrenzung zu Harzer-Familien?

        In manchen Situationen (zB bei Kindern) muss man helfen, auch wenn die Umstaende so sind, dass Erwachsene im Umfeld der Kinder einen grossen Anteil an der Misere haben/Situationen verschaerfen. Hier anzusetzen ist fast unmoeglich. Deshalb Danke an die wertvolle Arbeit der Arche.

        LG Joerg

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  2. „Wenn ein Erwachsener seinen Job verliert und über Jahre mühsam ein kleines Vermögen angespart hat, darf er 40.000 Euro für ein Jahr behalten, ..“

    Wenn man seinen Job verliert, bekommt man doch zuerst ein Jahr lang Arbeitslosengeld 1. Die 40000 gelten dann für das erste Jahr Bürgergeld danach. Davon abgesehen ist die Bezeichnung „Bürgergeld“ natürlich irreführend. Es ist und bleibt eine Sicherung des Existenzminimus.
    Aber mal ehrlich, wer arbeiten will sollte in spätestens zwei Jahren auch etwas gefunden haben. Es gibt immerhin aktuell 850.000 offene Stellen in Deutschland.

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  3. Kinder aus Harz IV -, demnächst Bürgergeldfamilien, gehören zu den Verlierern unserer Gesellschaft. Es ist müßig, immer wieder die Frage nach der Schuld zu stellen. Manchmal hätten Eltern einen besseren Weg gehen können, aber auch das haben nicht die Kinder zu verantworten. Wenn Eltern es nicht schaffen, sich aus ihrer prekären Situation zu befreien, liegt es oft nicht am Wollen sondern am Können. Dinge, die anderen selbstverständlich sind wurden nicht gelernt. Hier gilt es, die Kinder abzuholen. Kinder aus prekären Familien brauchen Bildung. Das geht nur, wenn eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit geboten werden kann. Wie kleinlich wirkt da die Prozenterechnerei, ob die Infaltion ausgeglichen wurde oder nicht oder sogar übertroffen wird. Wenn das Geld nicht reicht, interessiert diese Rechnung die Betroffenen sehr wenig. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, allen Kindern möglichst gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen. Das kostet Geld, aber vor allem Engagement und Phantasie, um den Kreislauf der Armut mit ihren verheerenden Folgen für die Kinder zu durchbrechen. Daran mitzuwirken ist auch Christenpflicht.

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  4. Für mich liegt der Knackpunkt in diesem Satz: „Was wir brauchen, ist eine Kindergrundsicherung von bis zu 600 Euro im Monat. Die Hälfte von diesem Geld muss in die Kitas und Schulen fließen, die andere Hälfte als Guthaben für soziale Teilhabe direkt an die Kinder, und nicht wie beim Kindergeld auf das Konto der Eltern.“ Ich habe in meinem Umfeld so manche Eltern erlebt, die das Kindergeld in alles Mögliche gesteckt haben, nur nicht in das Wohl ihrer Kinder. Die Frage bleibt: Wenn es eine Grundsicherung der Kinder von 600.- Euro gibt, wer verwaltet die dann? Schulen oder Kitas die Hälfte, klar! Aber der Rest? Doch vermutlich wieder die Eltern. Wie kann man sicher stellen, dass auch dieses Geld bei den Kindern ankommt? Danke, Herr Büscher für Ihren aufrüttelden Artikel!

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