Die offizielle Beauftrage Israels im Kampf gegen den Antisemitismus Michal Cotler-Wunsh ist seit dem 7. Oktober 2023 weltweit unterwegs. Jenen Tag, an dem die Hamas Israel attackierte und mehr als 1.200 Menschen ermordete, bezeichnet sie als „Kristallnacht-Moment unserer Zeit“. Am Rande einer Veranstaltung des „Campus Tivoli“ im österreichischen Parlament im Mai traf PRO sie zum Interview.
PRO: Wie hat sich der weltweite Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 entwickelt?
Michal Cotler-Wunsh: Seit dem 7. Oktober gibt es einen Tsunami an weltweitem Antisemitismus. Egal, ob Deutschland, Österreich, Kanada, die USA oder Australien. Es waren Anstiege im dreistelligen Prozentbereich. Zudem gibt es zahlreiche nicht gemeldete Vorfälle. In jedem Land, in dem wir Antisemitismus dokumentieren, kam es zu einem Anstieg. Die Anti-Defamation-League hat ein knappes Jahr nach dem 7. Oktober mehr als 10.000 antisemitische Vorfälle in den USA dokumentiert.
Hinzu kommt: Viele Menschen vergessen oft, dass in den vergangenen 19 Monaten, seit dem 7. Oktober 2023, in Israel jeden Tag Sirenen ertönten und israelische Zivilisten mit Raketen und Flugkörpern beschossen wurden. Nicht nur von der Hamas, auch aus dem Jemen, dem Libanon und dem Iran.
Welche Formen des Antisemitismus sind besonders bemerkbar?
Nach wie vor gibt es den „traditionellen Antisemitismus“, der den Juden vorwirft, die Welt zu beherrschen, oder den Holocaust leugnet. Wir sehen Antisemitismus aber auch durch eine Dämonisierung und Delegitimierung des Staates Israel, des einzigen jüdischen Staates, und durch die Anwendung von Doppelstandards. Heute Morgen war ich an der Technischen Universität in Wien. Dort stand an den Wänden gesprüht: „Intifada Aufstand“, „Free Gaza“ und „Nakba 1948“. Wir sehen hier tatsächlich Erscheinungsformen, die oft gar nicht mehr als Antisemitismus dokumentiert werden.
Dieser mittlerweile legitimierte Antisemitismus zeigt sich insbesondere in seiner modernen Mainstream-fähigen Form des Antizionismus, der Leugnung des Existenzrechtes Israels vom Fluss bis zum Meer („from the river to the sea“; Anm. d. Red.). Überall, wo ich auftrete, um über Antisemitismus zu sprechen, wird deutlich, dass der moderne, mutierte, akzeptable Mainstream-Antisemitismus – Antizionismus, der das Recht auf Israels Existenz in allen Grenzen bestreitet – sich inzwischen normalisiert hat.
„Antisemitismus hat nicht 1933 begonnen, er ist nicht in Auschwitz gestorben, er ist nur mutiert und hat neue Form angenommen.“
Manche Menschen haben Angst davor, dass sie sofort als „Antisemiten“ abstempelt werden, wenn sie Israel kritisieren. Wie soll man Israel Ihrer Meinung nach richtig kritisieren?
Das ist eigentlich ganz klar definiert in der Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance; d. Red.). In einem der ersten Sätze heißt es, dass Kritik am Staat Israel und seinen Richtlinien, so wie man auch jedes andere Land kritisieren kann, kein Antisemitismus ist. Israel ist eine Demokratie und als solche ist Kritik nicht nur legitim, sondern notwendig zur Verbesserung. Was Antisemitismus ist, ist Delegitimierung: die Leugnung des Existenzrechts Israels.
Bei keinem anderen Land wird das Existenzrecht infrage gestellt. Es geht um die Tatsache, dass wir es für legitim halten, Juden unter den Völkern herauszugreifen und zu dämonisieren. Juden sind nach Tausenden von Jahren des Exils und der Verfolgung in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt und haben sich zur Gleichheit verpflichtet, wie es in der Unabhängigkeitserklärung Israels eindeutig festgelegt ist. Antisemitismus hat nicht 1933 begonnen, er ist nicht in Auschwitz gestorben, er ist nur mutiert und hat diese neue Form angenommen.
Die Partei „Die Linke“ hat auf ihrem Parteitag Mitte Mai in Chemnitz entschieden, dass man in Zukunft Antisemitismus nicht mehr nach der IHRA-Definition von 2016 bewerten will, sondern nach der Jerusalemer Erklärung für Antisemitismus (JDA) von 2021. Mehr als 48 Prozent stimmten dafür, knapp 41 Prozent sprachen sich dagegen aus. Begründet wurde das auch damit, dass man sich hinter die Forderung von hunderten Wissenschaftler und Antisemitismusexperten stelle. Wie bewerten Sie das?
Lassen Sie mich so starten: Die Arbeitsdefinition der IHRA ist das Ergebnis eines langen demokratischen Prozesses der International Holocaust Remembrance Alliance. Dieser hat insgesamt 15 Jahre gedauert und wird von mehr als 40 Ländern und 1.200 Entitäten international anerkannt. Sie und ich, wir können auch sagen, dass uns die Definition von diesem und jenen nicht gefällt und dann mache ich einfach mal eine neue Definition. Schon deshalb hat die Jerusalemer Erklärung eine gewisse Anmaßung.
Problematisch ist, dass die Erklärung die moderne Form des Antisemitismus, die den Staat Israel dämonisiert, delegitimiert und mit zweierlei Maß misst, bequemerweise außen vorlässt und nur die „traditionelleren“ Formen des Antisemitismus nennt. Eine Auslöschung des Staates Israel oder die Parole „From the river to the Sea“ wird dann nicht als antisemitisch angesehen. Ebenso der Aufruf von völkermordenden Terrorvertretern wie dem islamischen Regime Iran.
Antisemitismus-Definitionen
Die IHRA welche 2016 die „Arbeitsdefinition von Antisemitismus“ durch ein Plenum in Budapest entschied, wird von insgesamt 35 Ländern vollständig und acht weiteren teilweise getragen. Für Länder wie Deutschland, Österreich, aber auch die USA gilt sie als Grundlage, um klar zu beurteilen, was Antisemitismus ist.
Ulrike Eifler aus dem Parteivorstand „Die Linke“ hat vor dem Parteitag auf X eine Grafik geteilt, mit der Aufschrift „All United for Free Palestine“. Zu sehen ist nur ein palästinensischer Staat, der die gesamte Fläche von Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen enthält, gefüllt mit Handflächen in den Farben der palästinensischen Flagge. Im Falle der IHRA klarer Antisemitismus, da Israel auf dem Bild nicht mehr existiert und das Bild als Auslöschungsforderung verstanden werden kann. Laut Michal Cotler-Wunsh würde das nach der Jerusalemer Definition (JDA) „nicht als Antisemitismus anerkannt werden“. So heißt es z. B. in den Leitlinien zur JDA: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind … im Falle Israels sind nicht per se antisemitisch.“ Die JDA wurde 2021 von Wissenschaftlern vor allem aus den Feldern der Geschichte des Holocausts, der Judaistik und Studien des Mittleren Ostens entwickelt. Mittlerweile hat sie 370 Unterzeichner.
Eifler argumentierte zudem in einem weiteren Post auf X, dass die „israelische Linke“ den Plan der deutschen Linkspartei, auf die Jerusalemer Erklärung zu setzen, unterstütze. Das stimmt so allerdings nicht, denn sie teilte ein Statement der Partei Hadash, die mit vier Sitzen von insgesamt 120 nur eine Kleinpartei in der Knesset in Jerusalem darstellt. Laut Colter-Wunsh ist Hadash „linksextrem und kommunistisch“.
Wie bewerten Sie den Umgang namhafter Universitäten mit dem 7. Oktober und dem Gaza-Krieg?
Wenn man die völkermörderischen Gräueltaten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des 7. Oktober nicht eindeutig verurteilen kann, ist das nicht fortschrittlich. Man sieht das an den Universitäten Columbia, Harvard und Yale. Ich habe mich mit vielen der Präsidenten getroffen, die nicht in der Lage waren, das Massaker vom 7. Oktober eindeutig zu verurteilen, ohne ein „aber“ am Ende des Satzes.
Dieser Zusammenbruch der Moral, sollte alle, denen das Leben und die Freiheit am Herzen liegt, beunruhigen. Die Universitäten sollten sich die Frage stellen: Was ist unsere Mission? Ist es Menschen zu zeigen, wie sie denken sollen – wie ich es damals in meinem Rechtsstudium gelernt habe –, oder ist es, Menschen beizubringen, was sie denken sollen? Aus der Geschichte wissen wir, dass das sehr gefährlich ist. Ich denke, dass viele akademische Einrichtungen bereits an diesem Punkt sind. Hinzu kommt: Milliarden Dollar aus Katar sind in den USA an die Ivy-League-Universitäten (acht private Elite-Unis im Nordosten der USA, zu denen die drei genannten ebenfalls gehören; d. Rd.) geflossen. Damit wird die freie Meinungsäußerung und die akademische Freiheit beeinträchtigt.
Was denken Sie über die Reaktionen und die Kritik, welche Yuval Raphael, die israelische Teilnehmerin des Eurovision Song Contest, abbekommen hat?
Das Verständnis, dass eine Überlebende des „Nova“-Festivals vom 7. Oktober 2023, die sich unter den Leichen ihrer Freunde versteckte, um den schlimmsten Angriff auf Juden seit dem Holocaust zu überleben, eine Zielscheibe von tödlichem Hass wird, bringt mich zum Weinen. Es ist so, als würde man sagen, dass ein Überlebender einer Gräueltat zum legitimen Ziel des Hasses wird. Das zeigt die orwellsche Umkehrung, eine völlige Umkehrung der Realität dessen, was am 7. Oktober geschehen ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
Von: Matthis Kattnig