Ägypten: Wenn Christen stolz auf ihre Märtyrer sind

Martin Mosebach hat in Ägypten die Familien der koptischen Männer besucht, die 2015 von IS-Terroristen ermordet wurden. Nun hat der Autor einen bewegenden Reisebericht abgeliefert. Im Gespräch mit pro erklärt er, warum Christen in Europa die Kopten zum Vorbild nehmen sollten. Die Fragen stellte Norbert Schäfer
Von PRO
Martin Mosebach beim Interview in der Katholischen Akademie Berlin. Der Autor ist in seinem Buch „Die 21 – Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer" literarisch in die Welt der koptischen Christen eingetaucht.

Im Frühjahr 2017 ist der mehrfach ausgezeichnete Literat Martin Mosebach nach Ägypten gereist, um im Dorf El-Or die Familien der 21 koptischen Männer zu besuchen, die zwei Jahre zuvor von IS-Terroristen medienwirksam inszeniert an einem Strand in Libyen ermordet worden waren. In seinem Buch „Die 21 – Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer“ schildert der Autor, wie die Angehörigen der Opfer immer wieder das grausame Propagandavideo des IS vorführen, jedoch statt von Hass oder Rache vom Stolz, einen Märtyrer in der Familie zu haben, sprechen. In seinem eindrücklichen Reisebericht schildert Mosebach, wie die koptische Kirche – die sich selbst „Kirche der Märtyrer“ nennt – den Glauben und die Liturgie der frühen Christenheit bewahrt hat. Mit seinem Buch schafft der Autor eine Ikone für die 21 jungen Männer, die bereit waren, wegen ihres Glaubens an Jesus Christus ihr Leben zu lassen.

pro: Herr Mosebach, Sie sind dem Mord an 21 jungen Männern nachgegangen, die aufgrund ihres christlichen Glaubens vom IS am 15. Februar 2015 geköpft wurden. Sie haben mit den Familien und den Angehörigen geredet und alles in einem Reisebericht niedergeschrieben. Wie kam es dazu?

Martin Mosebach: Ich stieß auf das Buch-Motiv, als ich das Bild eines der abgeschnittenen Köpfe auf dem Titel eines Magazins gesehen habe. Zunächst war für mich nicht erkennbar, dass es sich bei dem Bild um das Opfer einer Bluttat handelte. Ich hatte einen Roman abgeschlossen und wollte einmal etwas vollkommen anderes machen. Einmal keine Literatur produzieren, sondern ein Stück, das vor allem aus seinem Stoff lebt. Das Buch ist eine Aufgabe, die ich mir gestellt habe. Und diese Aufgabe stellte sich mir, als ich das Video der Hinrichtung dieser 21 Menschen sah. Ich staunte über die Standhaftigkeit dieser Menschen. Für die orientalischen Kirchen habe ich mich ohnehin seit langem, seit Jahrzehnten schon interessiert. So wurde mir das Video zum Anlass, die koptische Kirche endlich besser kennen zu lernen.

Was war Ihr stärkster Eindruck?

Die Frage , die mich in Ägypten leitete, war: Wie haben diese Menschen gelebt? Und so habe ich endlich die koptische Liturgie besser kennengelernt. Diese 21 jungen Männer haben ein liturgisches Leben geführt. Viele von ihnen waren vom Bischof bestellte Hymnensänger. Die koptische Liturgie gehört zum ältesten Besitz der Christenheit; sie ist ungebrochen bewahrt seit den Frühzeiten des Christentums. Sie ist sehr lang, etwa drei Stunden. In dieser Liturgie geht es nicht um Katechese und Predigt, sondern zuerst um Anbetung. Sie will die Gegenwart Gottes erlebbar machen. Die Gläubigen, die daran gewöhnt sind, diese göttliche Gegenwart immer wieder aufs Neue zu erfahren, gewinnen ein anderes Verhältnis zur Religion als Menschen, bei denen Religion eine Sache des Intellekts ist.

Was hat Sie beeindruckt bei den Gesprächen mit den Angehörigen?

Das Faszinierende war die großartige Haltung dieser Angehörigen der Stolz auf die eigenen Söhne, die Brüder, die Vettern, die nun Heilige geworden sind. Es gab kein Wort des Hasses, nicht einmal den Ruf nach Gerechtigkeit oder nach Bestrafung – nach Rache schon überhaupt nicht. Die Täter interessierten überhaupt gar nicht. Man sah mit Bewunderung, gar mit einer Art Freude auf die eigenen Verwandten, die nun im Himmel mit Kronen – so wurden sie auch abgebildet – wirklich Christus ähnlich geworden waren.

Sie sind Jurist. Hat Sie das Verhalten nicht irritiert?

Ich habe mich natürlich gefragt: War das eine große Selbstüberwindung, oder kommt das womöglich aus der Erfahrung, dass koptische Leiden noch niemals gerächt worden sind? Es wird auch davon vielleicht etwas dabei sein. Ganz wichtig ist: Der Blick dieser Menschen ging nicht auf die Erde, sondern ins Jenseits. Da sahen sie die Martyrer – ihre Verwandten – in der Glorie. Die koptische Welt ist sehr stark von Wundern erfüllt und von der Bereitschaft, Wunder überall zu sehen. Eine Wolke von wunderbaren Ereignissen schon während und gleich nach dem Massaker gab diesen Menschen die Sicherheit, wie sie den Tod ihrer Nächsten zu bewerten hätten. Nämlich: Wie eine große Erfüllung.

Im Buch beschreiben Sie dokumentarisch die Hinrichtung der 21 Opfer. Darf man das Menschen zumuten?

Ich finde schon. Es gibt gegenwärtig in Frankreich ein Verfahren gegen eine Politikerin, weil sie Fotos von Hinrichtungen des IS verbreitet hat. Die französische Gesellschaft möchte das Verbreiten von Bildern solcher Brutalitäten – auch wenn sie tatsächlich stattgefunden haben – unter Strafe stellen. Es gibt sicher Menschen, die darauf verletzt und verstört reagieren. Ich habe ein anderes Verhältnis dazu. Ich finde, was geschehen ist, das muss auch angeschaut werden können. Wir haben in unseren Zimmern, in unseren Kirchen, an vielen Orten, Kruzifixe. Das ist doch eigentlich etwas Grauenvolles, ein solches Kruzifix. Der Kreuzestod ist ein Foltertod. Das haben wir überall hängen. Wir haben wahrscheinlich vergessen, was das bedeutet. Ich bin manchmal geradezu froh, wenn Menschen sich von einem nichtchristlichen Standpunkt aus über Kreuze beschweren, weil sie die Gegenwart eines solchen Folterinstrumentes an einem öffentlichen Ort als Zumutung empfinden. Das ist zunächst doch richtig gesehen. Christen wissen über das Kreuz allerdings mehr: Am Kreuz hat das Heil der Welt gehangen, darum sollen wir es auch betrachten. Aber wenn wir das Kreuz betrachten, dann können wir auch anschauen, wie ein Mensch, der für Jesus stirbt, den Kopf abgeschnitten bekommt. Da sollten wir nicht prüde sein dürfen.

Was bedeutet das Märtyrertum für die Ökumene?

Katholiken und die Protestanten haben ja dieselbe Bibel, wenn auch mit gelegentlichen Unterschieden der Übersetzung. Und wir müssen uns klar machen, dass das Neue Testament das Werk von Märtyrern ist und dass es Märtyrer schon vor dem Neuen Testament gegeben hat: Petrus, Paulus, Jakobus, Andreas, Stephanus – sie haben alle nicht das Neue Testament gelesen, aber sie wussten, woran sie glaubten. Die Evangelisten haben diesen Glauben aufgeschrieben, die ersten Konzilien haben ihn kodifiziert. Ich denke, dass wir, was unseren modernen Umgang mit der Bibel, Exegese und Bibelkritik angeht, immer messen müssen an diesem Glauben der Märtyrer. Bei jedem philologischen und textkritischen Ergebnis, zu dem wir kommen, müssen wir fragen: Wären dafür Menschen in den Tod gegangen, oder nicht? Die Märtyrer sind die Garanten und der Maßstab einer angemessenen Bibellektüre.

Die 21 Menschen wurden umgebracht, weil sie unverrückbar zu ihrer christlichen Glaubensüberzeugung standen. Wir leben in einer pluralen, postmodernen Gesellschaft, in der unterschiedliche Weltanschauungen gleichwertig nebeneinander ihre Berechtigung haben. Sind Märtyrer automatisch Fundamentalisten?

Ja, wenn Sie es fundamentalistisch nennen wollen, dass man eine breite Debatte, einen großen Kampf der Meinungen zurückführt auf ein „Ja“ oder ein „Nein“, dann sind sie fundamentalistisch. Das Martyrium entsteht in einer Situation des „Ja“ oder „Nein“ – nicht der Zwischentöne, nicht des „Ja, aber …“ – hier geht es um die Unbedingtheit. Ein Tertium gibt es nicht. Das ist uns Heutigen unheimlich. Wir lieben abgewogene Standpunkte, wir lieben das „sowohl als auch“, und „man muss auch die andere Seite sehen“ … Dafür spricht ja auch viel. Bis eben der Augenblick da ist, wo das Bekenntnis nicht mehr aufgeschoben werden kann. Dann geht es unter Umständen um das Leben.

Können aus Ihrer Sicht verschiedene Wahrheiten nebeneinander bestehen?

Angesichts der Widersprüchlichkeit des Wirklichen scheint es zwingend, von dem Nebeneinander verschiedener Wahrheiten auszugehen. Ich vermute aber, dass die Situation des Martyriums dies Nebeneinander zu etwas Unwirklichem werden lässt und die Eindeutigkeit sich offenbart. Dann gibt es sie plötzlich nicht mehr, die verschiedenen, nebeneinander bestehenden Wahrheiten.

Was kann die westliche Christenheit von den Kopten lernen?

Sie könnte zum Beispiel eines lernen: Wie man als Minderheit überlebt in einer religiös indifferenten Welt, die allmählich auch feindselig werden könnte. Die Kopten haben darin Übung seit 1.400 Jahren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Mosebach, Martin: „Die 21 – Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer Foto: Rowohlt
Mosebach, Martin: „Die 21 – Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer“, 2018, Rowohlt, 272 Seiten, ISBN: 978-3498045401

Martin Mosebach wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren, wo er noch heute lebt. Für seine Romane Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.

Von: Norbert Schäfer

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