Seit dem Terrormassaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist ein massiver Anstieg von Antisemitismus in Deutschland zu verzeichnen. Dagegen will ein Bündnis nun mit einem Fünf-Punkte-Plan vorgehen. Initiator ist Professor Guy Katz, der in München internationale Unternehmensführung lehrt. Eine dazugehörige Petition wurde von mehr als 40.000 Menschen unterzeichnet. Schirmherren sind die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, der Beauftragte der Bundesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, und Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. Mehr als 200 Organisationen, darunter die Freikirche ICF München, der Arbeitskreis Israel/Nahost der Evangelischen Allianz in Deutschland sowie die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern, unterstützen die Initiative.
PRO: Herr Katz, Mitte September haben Sie einen Fünf-Punkte-Plan gegen Antisemitismus inklusive einer entsprechenden Petition vorgestellt. Die Politik ist Adressat Ihrer Forderungen. Wie war deren Resonanz?
Guy Katz: Mit Liberalen und Konservativen ist es beim Thema Antisemitismus immer einfacher. Aber auch andere Parteien tragen unsere Anliegen mit. Nun liegt es jedoch an der Bundesregierung, unsere Forderungen umzusetzen. Allerdings werden nicht alle Forderungen auf Bundesebene gelöst werden können. Einige betreffen beispielsweise auch Hausordnungen, etwa dass antisemitischen Veranstaltungen kein Raum geboten werden soll. Ich persönlich bin mit der politischen Unterstützung aber zufrieden.
Wie sieht es mit der gesellschaftlichen Unterstützung aus?
Mehr als 40.000 Menschen haben unsere Petition unterschrieben. Ich weiß aber, dass 1,5 Millionen Menschen sich die Petition angeschaut haben. Warum haben davon nur so wenige unterzeichnet?
Was ist Ihre Erklärung?
Die Allgemeinbevölkerung ist das Problem. Es gibt eine große schweigende Mehrheit – wie während des Nationalsozialismus – die der Meinung ist, sie gehe das Thema nichts an.
Wie kann man diese Mehrheit erreichen?
Ich weiß es nicht. Ich bin selbst Jude und für mich ist ziemlich klar, wie man sich diesbezüglich verhalten sollte. Die Politik muss sicherlich als Vorbild vorangehen. Vor allem ist es aber eine Aufgabe unserer Bildungsinstitutionen.
Warum passiert dahingehend nicht schon längst etwas an Schulen und Universitäten?
Viele sind der Meinung, das sei ein politischer Kampf, und vermeiden deswegen das Thema. Das nervt mich. Denn der Einsatz gegen Antisemitismus ist kein politischer, sondern ein demokratischer Kampf. Er ist ein Kampf für Religionsfreiheit, für unsere gemeinsamen Werte und unsere Zukunft.
Israelbezogener Antisemitismus
Der israelbezogene Antisemitismus überträgt antisemitische Stereotype auf den Staat Israel. Er ist von der Kritik an der israelischen Regierungspolitik zu unterscheiden.
Der israelbezogene Antisemitismus wird wie folgt charakterisiert:
- Aberkennung des Existenz- und Selbstbestimmungsrechts Israels
- Vergleich bzw. Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus
- Anlegen anderer Maßstäbe an Israel als an andere Länder
- Verantwortlichmachen von Juden aus aller Welt für das Regierungshandeln Israels
- Bezugnahme auf Israel oder Israelis mit antisemitischen Bildern, Symbolen oder Floskeln
Viele Ihrer Forderungen sind nicht neu und eine Selbstverständlichkeit. Was stimmt Sie optimistisch, dass Sie nun etwas bewegen?
Sie haben absolut Recht, viele Punkte sind klar. Aber das heißt leider nicht automatisch, dass sie umgesetzt wurden. Seit dem Frühjahr gibt es eine neue Regierung, das heißt, wir müssen einiges einfach wieder neu anschieben. Andere Themen sind aber komplexer. Wie kann es gelingen, dass irgendwo auf dem Land keine Räume für antisemitische Veranstaltungen bereitgestellt werden?
Vielleicht ist diese Komplexität auch ursächlich dafür, dass so wenige diese Petition unterschrieben haben. Vielen ist nicht klar, dass zum Beispiel ein von uns gefordertes Verbot von Boykottaufrufen gegen Israel an Hochschulen kein Eingriff in die Demokratie, sondern notwendig ist.
Schwierig zu erklären ist vermutlich genau dieser israelbezogene Antisemitismus.
Absolut. Spätestens seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 tritt diese Form des Antisemitismus häufiger auf. Der Krieg im Gazastreifen ist das eine, aber Israel als Land ist doch viel mehr. Ich selbst bin stolzer Israeli und würde Netanjahu (Anm. d. Red. Premierminister) niemals wählen. Diese Differenzierung zwischen der israelischen Regierung, der Kriegsführung und dem Land allgemein, scheint vielen zu komplex.
Fünf-Punkte-Plan gegen Antisemitismus
Diese Punkte sollen helfen, gegen Antisemitismus vorzugehen:
- Bildung und Begegnung stärken
- Recht und Schutz jüdischen Lebens sichern
- Jüdisches Leben sichtbar und sicher verankern
- Partnerschaften und jüdische Kultur fördern
- Monitoring ausbauen – grenzüberschreitend handeln
Eine ausführliche Beschreibung der fünf Forderungen, sowie die Petition finden Sie hier.
Es gibt einen Antisemitismusbeauftragten des Bundes, auch in einigen Behörden gibt es Beauftragte. Jüngst wurden solche Stellen für große Medienhäuser gefordert. Wo sehen Sie zudem Bedarf?
In unserem Fünf-Punkte-Plan fordern wir flächendeckend Beauftragte für Polizei, Justiz, Verwaltung und Hochschulen. An manchen Orten gibt es die bereits, dann aber auch häufig in Doppelfunktion als Antidiskriminierungsbeauftragte.
Das klingt nach einem großen Personalaufwand.
In der Tat ist es eine Herausforderung, ausreichend qualifizierte Leute zu finden. Die zukünftigen Beauftragten müssen zudem geschult werden. Das lernt man nicht, indem man Youtube-Videos schaut. Und die meisten Beauftragten sind zudem nicht jüdisch, ihnen fehlt also die Betroffenheitssicht. Aber grundsätzlich gilt: Wer einen Antisemitismusbeauftragten installiert, setzt allein dadurch bereits ein Zeichen.
Also ist es besser, wenn Juden solche Stellen besetzen?
Wir müssen pragmatisch denken. Es ist schlicht unrealistisch, all diese Stellen mit Juden und Jüdinnen zu besetzten. Nicht-jüdische Antisemitismusbeauftragte gehen Herausforderungen vielleicht sachlicher an. Dennoch kann es natürlich hilfreich sein, jemanden als Ansprechpartner zu haben, der eine Betroffenheitssicht hat. Aber dafür sind wir jüdischen Hochschullehrer oder auch die Jüdische Studierenden Union ohnehin da.
Sie haben bei der Vorstellung der Petition gesagt, wenn sie nicht 100.000 Unterschriften erreicht, verlassen Sie Deutschland. 40.000 Menschen haben sie unterzeichnet…
Als ich das sagte, wusste ich, dass wir wahrscheinlich die 100.000 nicht erreichen werden. Aus meiner Sicht ist das ein absolutes Armutszeugnis. Dennoch bin ich auch stolz auf die 40.000 Menschen, die die Petition unterzeichnet haben. Aktuell liegt die Petition im gleichnamigen Ausschuss des Bundestages. Zudem haben die Schirmherren Wolfram Weimer (Kulturstaatsminister, Anm. d. Red.) und Felix Klein (Beauftragter des Bundes für jüdischen Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Anm. d. Red.) ihre Unterstützung zugesagt. Jetzt bleibt abzuwarten, wie der Bundestag damit umgehen wird.
Sie erhalten Todesdrohungen, Hassnachrichten und werden wegen Ihres Engagements angefeindet. Sind das Gründe, Deutschland zu verlassen?
Nein, aktuell nicht. Aber was ich abbekomme, ist richtig hart und schon lange kein Spaß mehr. Gegen mich werden mittlerweile auch Kampagnen gefahren. Für mich ist das allerdings auch ein Zeichen dafür, dass wir Wirkung zeigen. Es triggert Leute, mich auf Bildern mit hochrangigen Politikern zu sehen. Deswegen ist es auch gewissermaßen ein Lob.
Aktuell herrscht in Israel eine sehr brüchige Waffenruhe. Wird sich diese positiv auf die Lage von Juden in Deutschland auswirken, sollte sie weiterhin Bestand haben?
Antisemitismus ist wie eine Grippe. Sie geht und kommt, ist aber immer im Körper. Aktuell ist es mit Blick auf Antisemitismus etwas ruhiger geworden im Vergleich zu den vergangenen Monaten. Das kann sich aber auch wieder ändern. Dass trotz dieser Vereinbarung weiter demonstriert wird, zeigt aber doch, dass es den Menschen nicht um Palästina, sondern um die Auslöschung Israels und aller Juden geht. Hauptträger dieser Proteste ist und war diese toxische Mischung aus Linksradikalen und Islamisten. Aber diese Leute werden immer vorgeschobene Gründe für ihren Antisemitismus finden. Und zur Waffenruhe: Die Hamas hat die Waffen nicht wirklich niedergelegt, das zeigt sich täglich. Gut ist aber, dass durch das Abkommen alle lebenden Geiseln freigekommen sind.
In einem Gastbeitrag schrieben Sie mit Blick auf die Geiseln: „Ich bin Professor, kein Rabbiner. Ich glaube an Vernunft, nicht an Wunder, aber in diesen Tagen bete ich.“ Haben Sie die Hoffnung, dass irgendwann jüdische Einrichtungen in Deutschland keinen Polizeischutz mehr brauchen?
Leider nein. Denn Juden waren schon immer der Sündenbock von allen – völlig egal ob von Islamisten, extremen Christen, extremen Linken, extremen Rechten. Dass es diesen Polizeischutz bei uns gibt, hat sein Gutes, denn wir werden beschützt – auch weil es in der Politik ein Bewusstsein dafür gibt. Das sieht in anderen europäischen Ländern ganz anders aus. Dort sind Synagogen völlig ungeschützt. In Manchester kam es erst kürzlich zu einem Angriff – zwei Menschen wurden ermordet. Ein Wunder, dass nicht noch mehr Menschen getötet wurden. In Irland oder Spanien ist die Situation von politischer Seite dramatisch. Dort agieren die Regierungen in Teilen antisemitisch.
Ist es dann nicht sinnvoll, den Kampf gegen Antisemitismus europäisch zu denken?
Das ist genau die Idee mit unserer Initiative „DACH gegen Hass“. Wenngleich das allein schon in den drei deutschsprachigen Ländern mit unserer Petition herausfordernd war: Die Koordination mit den verschiedenen jüdischen Dachverbänden, unterschiedliche politische Strukturen und vieles andere muss da bedacht werden. Am Ende ist es übrigens gar nicht meine Aufgabe oder die der Juden, uns Juden zu schützen. Es ist die Aufgabe der Mehrheit, die Minderheiten zu beschützen.
Das Christentum ist die größte religiöse Gemeinschaft in Deutschland. Was erwarten Sie von den Kirchen?
In der Vergangenheit ging von den Kirchen viel Böses, aber auch Gutes aus. Wir sollten uns auf Gemeinsamkeiten konzentrieren. Nächstenliebe spielt beispielsweise im Christentum eine ebenso bedeutende Rolle wie bei uns im Judentum. Wir teilen gleiche Schriften. Aber am Ende zählt der einzelne Mensch, unabhängig einer möglichen Kirchenzugehörigkeit. Keiner darf schweigen, wenn ihm im Alltag Antisemitismus begegnet. Ich wünsche mir, dass man seine Stimme erhebt und Antisemitismus nicht unwidersprochen bleibt.
Herr Katz, vielen Dank für das Gespräch.