PRO: Herr Rachel, Sie haben als erste Auslandsreise als Beauftragter der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit Israel besucht. Das war kurz bevor das Friedensabkommen zwischen Israel und der Hamas unterzeichnet wurde.
Thomas Rachel: Leider muss man zunächst klarstellen, dass wir von einem dauerhaften Frieden noch weit entfernt sind. Ich hatte selbst in Tel Aviv auf dem „Platz der Geiseln“ mit Angehörigen gesprochen und das Leid unmittelbar gespürt. Umso größer ist jetzt die Erleichterung, dass die noch lebenden Geiseln mittlerweile freigekommen sind. Zugleich habe ich bei meinem Besuch eine tiefe Spaltung wahrgenommen. Menschen, die ich getroffen habe und die unterschiedlichen Religionen angehören, werfen sich gegenseitig mangelnde Empathie vor. Die einen mit Blick auf die israelischen Opfer und Geiseln, die anderen mit Blick auf die vielen Toten Palästinenser im Gazastreifen.
Auf Ihrem „X“-Account gibt es auch ein Bild, auf dem Sie gemeinsam mit christlichen, jüdischen und muslimischen Vertretern zu sehen sind.
Das war in Akko. Seit dem 7. Oktober 2023 sind dort sämtliche interreligiösen Aktivitäten eingestellt worden. Nur weil ich als Beauftragter zu diesem gemeinsamen Gespräch eingeladen hatte – das wurde mir so gespiegelt –, haben sich Vertreter der drei Religionen wieder an einen Tisch gesetzt. Das Gespräch war dann sehr emotional. Es wurde die empfundene gegenseitige Empathielosigkeit angesprochen. Und dann ist etwas Bemerkenswertes passiert. Der christliche Vertreter sagte zu seinem jüdischen Gegenüber: „Ich widerspreche, aber mit Respekt und Liebe.“ Dies hat mich zutiefst beeindruckt. So etwas kenne ich weder aus dem deutschen Bundestag noch von innerkirchlichen Debatten.
Religiöse Akteure können eine wichtige Rolle bei der Lösung von Konflikten spielen. Wenn Menschen nicht miteinander reden, werden Vorurteile kultiviert. Aus Vorurteilen erwächst Ablehnung, aus Ablehnung dann Hass und aus Hass anschließend Gewalt. Diese Mechanismen erleben wir im Nahen Osten, aber auch in unserer Gesellschaft.
Ist das Ihre Kernaufgabe? Menschen oder religiöse Gruppen an einen Tisch zu bringen?
Als Beauftragter will ich die Aufmerksamkeit mithilfe der Botschaften auf die Verstöße gegen Religionsfreiheit in den verschiedenen Ländern richten. Einen entsprechenden Bericht werde ich alle zwei Jahre ans Parlament übergeben und in die parlamentarische Debatte einbringen. Natürlich möchte ich auch weiterhin unterschiedliche Menschen, wie in Akko, zusammenbringen.
Eines meiner Ziele ist darüber hinaus, das Bewusstsein über die Dimension von Religion in der Außenpolitik stärken, damit diese mitgedacht wird. Denn für 80 Prozent der Weltbevölkerung ist Religion ein zentrales Thema.
Seit dieser Legislatur ist die Stelle des Beauftragten für Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht mehr im Entwicklungsministerium, sondern im Auswärtigen Amt angesiedelt, einem viel größeren Ministerium. Wie können Sie es gewährleisten, dass alle Mitarbeiter ab jetzt diese Dimension mitdenken? Geht Ihr Thema im größten Ministerium nicht unter?
Eindeutig nein, denn es war eine bewusste Entscheidung des Bundeskanzlers, das Thema im Außenministerium zu unterstellen, eben weil es so große Relevanz hat. Ich werbe sehr bei unserem diplomatischen Nachwuchs, dass er sich für dieses Thema interessiert. Mein Ziel ist, dass der Faktor Religion eine Selbstverständlichkeit in der deutschen Außenpolitik wird. Die Praxis zeigt, dass es Länder gibt, in denen staatliche Strukturen längst an Einfluss verloren haben. Dort haben religiöse Akteure eine hohe Glaubwürdigkeit und Autorität. Mit ihnen müssen wir in Austausch kommen.
Hat die Ampelregierung diese religiöse Dimension unterschätzt?
Ja, vollkommen. Das gilt nicht nur für das Außenministerium, sondern auch im Entwicklungsministerium wurde der Faktor Religion bei Projekten zunehmend ausgespart. Das war ein Riesenfehler.
Zurück nach Israel: In Donald Trumps 20-Punkte-Friedensplan findet sich auch der Aspekt der Religion wieder. Dort ist die Rede von einem interreligiösen Dialogprozess. Ist das ein Punkt, den Deutschland maßgeblich mitgestalten kann?
Es ist bemerkenswert, dass dieser Punkt in den Prozess des ersten Waffenstillstandes hineingekommen ist. Das begrüße ich ausdrücklich. Wir sollten darauf hinwirken, dass dieser Punkt nicht beiseitegelegt wird. Wie das am Ende konkret umgesetzt werden kann, wird sich noch zeigen. Der Theologe Hans Küng hat gesagt: „Es gibt keinen Frieden ohne Frieden unter den Religionen.“ Das ist natürlich eine große Herausforderung, die uns die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird. Aber zu erkennen, dass nicht nur machtpolitische, ideologische oder territoriale Fragen entscheidend sind, sondern auch religiöse, ist ein wichtiger Schritt.
Bei Ihrem Besuch in Israel haben Sie sich mit Vertretern verschiedener christlicher Denominationen getroffen. Wie geht es den Christen in Israel und den palästinensischen Gebieten?
Christliche Gemeinden sind massiv unter Druck, beispielsweise durch radikale Siedler im Westjordanland. Autos werden angezündet, es kommt täglich zu Angriffen auf Christen. Das ist untragbar. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass alle Religionen in Israel und den Palästinensischen Gebieten eine Zukunft haben und dort in Frieden miteinander leben.
Trägt die israelische Regierung eine Mitschuld an dieser Entwicklung?
Christliche Palästinenser und auch Christen in Jerusalem haben mir von ihren Eindrücken berichtet, dass Betroffene nicht ausreichend von den Vertretern des israelischen Staates geschützt und die Täter unzureichend verfolgt werden. Ich nehme das sehr ernst und habe das Thema auch bei meinem Besuch in der Knesset gegenüber verschiedenen Abgeordneten angesprochen. Es darf nicht sein, dass Christen auf der Straße bespuckt oder bedrängt werden.
Ist es nicht schwierig, diese Kritik angesichts der deutschen Geschichte als Deutscher in Israel vorzutragen?
Natürlich sollte dies in den Gesprächen bedacht werden. In Gesprächen habe ich auch selbstkritisch die Situation in unserem Land angesprochen und bekannt, dass wir auch Herausforderungen haben im Umgang der Religionen miteinander. Etwa mit Blick auf den erschreckenden Antisemitismus in Deutschland.
Sie sprechen es an: Markus Grübel, einer Ihrer Vorgänger, erklärte in einem Interview mit PRO bereits im Jahr 2017, die Bundesregierung müsse dafür sorgen, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland besser geschützt werden. Tatsächlich ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle seitdem massiv angestiegen. Hat die deutsche Politik versagt?
Wir haben als Gesellschaft in Deutschland insgesamt versagt, die Politik auch. Das Klima ist rauer geworden, bis hin zu inakzeptablem Hass. Das müssen wir ganz klar ansprechen. Jeder muss die Möglichkeit haben, seine religiöse Überzeugung und Weltanschauung zu leben.
Was ist konkret zu tun, um Juden in Deutschland zu schützen?
Natürlich muss der Rechtsstaat im Sinne der inneren Sicherheit handeln. Wo Gewalt stattfindet, müssen Urteile schnellstmöglich gefällt werden. Ein anderer Punkt ist, wie wir über Religion informieren. Als Bundestagsabgeordneter besuchen mich viele Schülergruppen, mit denen ich über Religionsfreiheit diskutiere. Wir müssen offen und ehrlich darüber sprechen, was Menschenwürde bedeutet und ob uns das Zusammenleben gelingt.
Sie persönlich, aber auch die Bundesregierung haben in der Vergangenheit auch auf die Lage der Drusen in Syrien aufmerksam gemacht und die neue syrische Regierung aufgefordert, diese Minderheit zu schützen. Was tun Sie eigentlich, wenn dort niemand auf Sie hört?
Ich tue alles dafür, dass sie auf uns hören. Ich habe jüngst in Israel mit dem drusischen Scheich Muwafaq Tarif gesprochen. Es war ein sehr hartes Gespräch, denn er hat uns Handyaufnahmen gezeigt von dem, was in Suweida passiert ist…
Im Juli wurden in der syrischen Stadt 46 Drusen, Männer und Frauen durch Regierungstruppen und verbündete Milizen getötet. Menschenrechtler warnen vor einer Islamisierung der Region.
Diese Bilder waren kaum auszuhalten. Menschen wurden drangsaliert und brutal ermordet. Es gab dann nicht ausreichend Hilfslieferungen, die in das Gebiet hineingekommen sind, die Zivilbevölkerung war nicht geschützt. Das anzusprechen, auch gegenüber den beteiligten Regierungen, das ist Aufgabe der Bundesregierung.
Ansprechen heißt in dem Fall, Kritik üben. Ist das angesichts der diplomatischen Verflechtungen mit vielen Ländern überhaupt offen und ehrlich möglich?
Dass der Beauftragte für die weltweite Religions- und Weltanschauungsfreiheit jetzt im Außenministerium sitzt, gibt uns die Chance, viel genauer auf die Situation in verschiedenen Ländern zu schauen und auch darauf zu reagieren. Erst vor wenigen Tagen habe ich öffentlich Kritik an China geübt, weil dort Pastoren inhaftiert wurden. Ich werde auch künftig weltweit auf Missstände bei der Religions- und Weltanschauungsfreiheit hinweisen.
Viele Beauftragtenstellen wurden gestrichen, Ihre blieb erhalten.
Die Koalition hat sich ausdrücklich auf den Religionsfreiheitsbeauftragten verständigt.
Gab es in den Verhandlungen Streit darüber?
Solche Debatten gibt es meistens. Ich persönlich habe mich deutlich für das Fortbestehen des Amtes ausgesprochen.
Also war die SPD nicht überzeugt?
Wir haben das in Ruhe diskutiert und da gab es solche und solche Stimmen. Ich zumindest war immer überzeugt davon. Ebenso wie mein Vorgänger und SPD-Kollege Frank Schwabe.
Dass Sie überzeugt waren, verwundert nicht. Das Thema Religion prägt Ihr politisches Leben und auch in der Evangelischen Kirche in Deutschland sind Sie engagiert. Was bedeutet Ihnen der Glaube persönlich?
Er prägt mein Leben, das stimmt. Ich glaube und ich zweifle, ich bin ein Suchender. Ich gehe in den Gottesdienst, wenn es zeitlich möglich ist. Noch am heutigen Morgen habe ich eine Andacht im Andachtsraum des Deutschen Bundestages gehalten. Mein Amt hat mich aber auch demütiger gemacht. Ich habe erkannt: Uns geht es so verdammt gut hier. Wir können glauben, wir können unbehelligt zur Kirche gehen, wir können es lassen, wir können uns über die Kirche ärgern und das auch sagen. Im Normalfall werden wir deshalb nicht angegriffen. Ich habe jetzt überwiegend mit Leuten zu tun, die ihren Glauben nicht frei ausleben können. Und wenn man hört, was das mit ihnen macht, was es für die Familien heißt, wie existenziell manche Menschen gefährdet sind – dann bin ich dankbar für unser freiheitliches Leben und die Situation der anderen Menschen macht mich traurig. Die Welt entwickelt sich in eine ungute Richtung, das ist mein Eindruck. Autoritäre und aggressive Staatslenker nehmen zu, Menschen werden unterdrückt, Menschenrechte missachtet und dazu gehört eben auch das zentrale Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Da sind wir als Menschen, als Menschenrechtspolitiker, als Christen gefragt. Wir müssen uns kümmern.
Wie tun Sie das jenseits des Amtes?
Ich bitte Gott um Hilfe. Ich bitte ihn, Bedrängten und Verfolgten in ihrer Not zu helfen, sie zu stärken und ihnen Rückhalt und Glauben zu geben.
Herr Rachel, herzlichen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellten Martin Schlorke und Anna Lutz