Selbsterklärend, dass in einem Buch mit dem Titel „Sternstunden der Gospelmusik“ der Leser etwas über die Entstehung vieler bekannter Gospel-Songs erfährt. Diese Geschichten um Hits wie „Amazing Grace“, „Nobody Knows the Trouble I’ve seen“ und „When the Saints Go Marching in“ sind in der Tat sehr erzählenswert, wie sich herausstellt. Der Fernsehjournalist Matthias Huff bietet mit seinem Buch eine lesenswerte Reise durch vier Jahrhunderte Gospelgeschichte. Denn ja, über so eine lange Zeit erstreckt sich die Entstehung dieser Musikrichtung.
Der Titel des Buches trägt aber noch einen Zusatz, nämlich: „Feel the Spirit!“. Dass es hier nicht um den Aufruf zum Mitschunkeln und -Klatschen der bekannten Melodien geht, wird schnell klar. Gospelmusik ist untrennbar vom christlichen Glauben und der Bibel. Denn sie verkörperte über Jahrhunderte die einzige verbliebene Hoffnung vieler Menschen, die ihrer Heimat beraubt wurden, auf einen anderen Kontinent verfrachtet und für den Rest ihres Lebens als Sklaven für den Wohlstand anderer arbeiten mussten und dabei viel Leid erfuhren. Der Glaube an das Jenseits, in dem sich die Verhältnisse umkehren, in denen Gott die Seelen der Geschundenen tröstet, manifestierte sich so sehr in diesen Liedern, dass sie noch heute geradezu davon triefen.
Huff arbeitete viele Jahre für das ZDF in Berlin, wechselte 2000 als Redaktionsleiter zum Kika nach Erfurt. Mit Programmen zum Christentum gewann er den „Sonderpreis Kultur/Grimme“ und den christlichen Medienpreis „Goldener Kompass“ und berichtete über Gospelmusik aus den USA. 2023 veröffentlicht er im adeo-Verlag ein Sachbuch über Johnny Cash. In seinem neuen Buch schaut er sich den Gospel genauer an und erzählt etwa von der Buße des Sklavenhändlers, die „Amazing Grace“ hervorbrachte, bis hin zu Harriet Tubmans Freiheitskampf mit „Go Down Moses“ und den Einfluss auf den modernen Pop. Seit diesem Jahr ist er Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro, die PRO herausgibt.
Aber was ist Gospelmusik eigentlich? Diese Frage beantwortet Huff weniger musikwissenschaftlich (manch ein Leser könnte hier vielleicht etwas vermissen), als vielmehr inhaltlich. „Viel spannender als Definitionen oder das Allgemeine ist jeder einzelne Song, deswegen möchte ich von der Gospelmusik in Geschichten erzählen“, so Huff. Elvis Presley soll einmal gesagt haben: „Gospelmusik ist wie gesungener Bibeltext“, und die Gospelsängerin CeCe Winans: „Gospel ist vom Heiligen Geist gelenktes Singen.“
„Sklaven singen am meisten, wenn sie unglücklich sind“
Huff erklärt zum Beispiel, was wirklich hinter diesem „Trouble“ in „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“ steckt. Den Begriff einfach mit „Ärger“ oder „Schwierigkeiten“ zu übersetzen, sei viel zu milde. Hier gehe es um Todesangst, um ein Leben voller Leid und kaum Hoffnung auf Befreiung im Diesseits. Frederick Douglass, der als Sklave geboren wurde und dem 1838 die Flucht gelang, räumte mit einem Missverständnis auf. Viele dächten: Wenn die Sklaven so viel singen, könne es ihnen ja nicht so schlecht gehen. Das Gegenteil sei der Fall. „Sklaven singen am meisten, wenn sie unglücklich sind.“ Douglass weiter: „Die Lieder der Sklaven verkörpern den Kummer des Herzens, und er wird durch sie nur so erleichtert, wie ein schmerzendes Herz durch seine Tränen erleichtert wird.“
Es folgen viele weitere Erzählungen und Hintergründe zu einigen der wichtigsten Gospel-Lieder. Etwa zum vielleicht bekanntesten, „Amazing Grace“, dem Huff verständlicherweise den meisten Platz einräumt. Denn diese göttliche Gnade, von der hier die Rede ist, rettete ausgerechnet einem ehemaligen Sklavenhändler, John Newton, die Seele. „Über ‚Amazing Grace‘ kann man ganze Bücher schreiben“, weiß Huff. Er hat dann noch einige „christliche Fun Facts“ dazu parat, wie: „Die vierte Strophe wurde bekannt durch den Antisklaverei-Roman ‚Onkel Toms Hütte‘. In einer bewegenden Szene hat Onkel Tom, nach schweren Prügeln neben einem langsam erlöschenden Feuer liegend, eine Vision des leidenden Jesus und singt diese Strophe, die in ‚Amazing Grace‘ einfließen wird. Genau diese Szene beeindruckt Heinrich Heine einige Jahre nach dem Erscheinen des Romans tief und besiegelt seine Rückkehr zum christlichen Glauben.“
Dann ist da noch die erstaunliche Harriet Tubman, die als Sklavin aufwuchs, fliehen konnte und vielen anderen Sklaven zur Freiheit verhalf. Die berühmte „Schaffnerin“ der Underground Railroad hatte ein Erkennungszeichen, das Lied „Go Down Moses“. Wer von ihren Häschern hätte wohl geahnt, dass dieser Moses eine junge, schwarze, aber furchtlose Frau ist? (Manche vermuten, das Lied stamme sogar von ihr selbst, aber das ist unbekannt, so Huff.) Es tauchen viele weitere Evergreens des Gospel auf, und ihre Geschichten dahinter, etwa die von „Glory Glory Halleluja“ und dass bereits der Zwölfjährige Louis Armstrong 1913 „When the Saints Go Marching in“ spielte.
» Ganz in Schwarz, aber voller Heilsgewissheit
» „Nichts, was Kika gezeigt hat, war schädlich“
» „Triff Paulus“: Der Völkerapostel für Kinder – und Erwachsene
Der Baptistenprediger und Gospel-Kenner Howard Thurman, den Huff häufig zitiert, entdeckte in den Spirituals etwas, das man heute als „Resilienz“ beschreiben würde. „Irgendetwas hatte es dem von all seinen Wurzeln abgeschnittenen Sklaven ermöglicht, zu überleben und sich eine gewisse Immunität gegen die Gewalt seiner Umgebung zu bewahren“, so Thurman. Das sei die Kraft der Spirituals. Durch ihren Glauben an Gott ertrugen die Menschen die Schmerzen des Lebens. Nicht zufällig vermischen sich bei Spirituals die Welt der schwarzen Sklaven und die Geschichten aus dem Alten Testament. Das Gelobte Land als Erlösung, der Pharao als der unbarmherzige Sklavenhalter und so weiter.
Der Kirchenmusikhistoriker Johann Hinrich Claussen schrieb laut Huff dem Gospel eine faszinierende Sonderrolle in der Geschichte der Kirchenmusik zu. So wie die „Religion von Jesus“ einen Neustart des christlichen Glaubens darstellt, stehe Gospel für einen kirchenmusikalischen Neuanfang. Huff: „Das trägt zur Kraft der Gospelsongs bei. Sie stehen mit den Füßen auf der Erde, mit dem Geist im Himmel. Sie entstehen außerhalb von Klostermauern, oft geschrieben von Gläubigen, die weniger in sich ruhen als einen zwischen Erde und Himmel zerrissenen Eindruck machen.“
Matthias Huff: „Feel the Spirit!: Sternstunden der Gospelmusik“, adeo-Verlag, 224 Seiten, 22 Euro, ISBN-13: 978-3863344016