Kommentar

Bidens Krebs ist kein Verbrechen

Donald Trump nutzt Joe Bidens Krebserkrankung für seine Zwecke. Das ist niederträchtig – hat aber leider Tradition.
Von Anna Lutz
Joe Biden, US Präsident

Franklin D. Roosevelt zählt zu den bedeutendsten US-Präsidenten. Er ist Begründer des New Deal, also eines Mindestlohns und Sozialversicherungen, als es seinen Landsleuten wirtschaftlich am schlechtesten ging. Er erlebte den Angriff auf Pearl Harbour und half beim Aufbau einer weltweiten Anti-Hitler-Koalition. Er half, die Vereinten Nationen ins Leben zu rufen. 

Und er saß im Rollstuhl. 

Letzteres wissen bis heute nicht alle. Denn Roosevelt tat sein Möglichstes, um seinen Zustand zu verbergen. Fotos zeigen ihn sitzend, oder angelehnt. Niemand sollte etwas ahnen. 

Warum der Staatsmann sich so entschied, ist nicht bekannt. Doch man darf spekulieren. Besonders mit Blick auf heutige politische Ereignisse. Vielleicht, so darf man mutmaßen, wollte Roosevelt nicht, dass seine körperliche Einschränkung ihm zum politischen Nachteil werden könnte. Mindestens in den USA unter Donald Trump wäre das wahrscheinlich. 

Zwei Tage ist es nun her, seit ein anderer ehemaliger US-Präsident eine schwere Erkrankung öffentlich machte. Joe Biden hat Krebs. Genauer: metastasierten aggressiven Prostatakrebs. Er steckt bereits in seinen Knochen. Man muss kein Arzt sein, um zu wissen, dass diese Diagnose für einen 82-Jährigen dramatisch ist. 

Von Anteilnahme zu Hohn in Sekundenschnelle

Fast war man überrascht, als kurz nach Öffentlich-werden dieser Nachrichten Worte der Anteilnahme aus dem Weißen Haus von Donald Trump kamen. Jenem Donald Trump, der Biden im Wahlkampf abfällig als „Sleepy Joe“, schläfrigen Joe, oder als Staatsfeind bezeichnet hatte. Am Montag ließ Trump auf „X“ verlauten: „Melania und ich sind traurig, von Joe Bidens jüngster medizinischer Diagnose zu hören. Wir senden unsere wärmsten und besten Wünsche an Jill und die Familie und wir wünschen Joe eine schnelle und erfolgreiche Genesung.“

Wen wunderts, der Frieden währte nicht lange. Ein weiteres Video vom selben Tag zeigt Trump vor Pressevertretern im Weißen Haus. Er mutmaßt darin über Vertuschungen der Krebserkrankung seines Vorgängers während seiner Amts- und Kandidatenzeit. Dann prahlt er damit, wie er selbst seine medizinischen Tests mit Bravour bestanden habe. Wenn es nicht so traurig wäre, es wäre zum Lachen. Der Präsident nutzt die Krankheit seines Vorgängers, um ihn noch jetzt, im Moment seiner größten Tragödie, verächtlich zu machen.

Natürlich kann das nicht überraschen. Bereits im Wahlkampf gegen Hillary Clinton wurde Trump in dieser Art übergriffig. Immer wieder insinuierte er öffentlich, sie sei – im Gegensatz zu ihm –körperlich zu schwach für das Amt der Präsidentin. Als Clinton bei einer Gedenkfeier zum 11. September einen Schwächeanfall erlitt, kochte das Netz und sprang auf die bereits von der Trump-Campaign angelegten Gerüchte und Vorurteile auf. 

Das Netz kocht

Nun ist es Bidens Krankheit, die Trump und seinen verschwörungstheoriefreudigen Freunden in die Karten spielt. Auch jetzt kocht das Netz. Ein Krebs wie dieser komme nicht von heute auf morgen, undenkbar sei es, dass Biden nicht schon während seiner Amtszeit krank gewesen sei, alle hätten es wohl gewusst, nicht zuletzt die Medien. So in etwa lässt sich der digitale Buschfunk der Trump-Fans zusammenfassen. Das meiste davon ist Unsinn, der leicht zu widerlegen ist, wie diverse Faktenchecks zeigen. 

Doch in der Tat fällt das Bekanntwerden der Krebserkrankung in eine Zeit dramatischer Offenbarungen. Erst vor wenigen Tagen ist das Buch „Original Sin“ (Erbsünde) von CNN-Moderator Jake Tapper erschienen. Darin legt er dar, wie Bidens mentaler Zustand während seiner Kampagne gegen Trump und auch schon in der US-Präsidentenzeit systematisch verschleiert wurde, um ihn an der Macht zu halten. Eine glaubhafte Lektüre. Wer hat wohl nicht mehr die populär gewordenen Aussetzer Bidens vor Augen, allen voran das desaströse TV-Duell gegen Trump, das ihn letztlich doch zum Rückzug zwang? Ach, wie gut passen in diese Zeit Spekulationen über eine ebenfalls verschwiegene Krebserkrankung. 

Und doch sind sie ungehörig. So wie es grundsätzlich ungehörig ist, eine vielleicht todbringende Erkrankung eines Menschen als Mittel gegen ihn zu verwenden. Zumal dann, wenn er nicht mehr als politischer Gegner agiert. Und so, wie es grundsätzlich ungehörig ist, Menschen ihre körperlichen Benachteiligungen aufs Brot zu schmieren, als seien sie Sünden. 

Christen sollten beten und nicht nachtreten

Trump sorgt dieser Tage dafür, dass Bidens Krankheit seiner ganzen Partei zum Verhängnis wird. Er deutet sie um zu einer verleumderischen Tat gegen das amerikanische Volk. Dabei ist sie viel schlichter eine Tragödie für eine Familie, die eigentlich schon genug Elend mit sich trägt (Bidens Sohn Beau starb an einem Hirntumor, sein zweiter Sohn, Hunter, wurde des Waffenbesitzes und der Steuerhinterziehung schuldig gesprochen). Christen sollten für Biden und dessen Familie beten, anstatt auf sie einzutreten. Und wer nicht beten mag, sollte zumindest etwas Mitgefühl aufbringen. 

Immer wieder wird, auch in Deutschland, der Ruf nach mehr Authentizität in der Politik laut. Volksnah sollen sie sein, die Volksvertreter. Ehrlich und eben wie von nebenan. Und auf keinen Fall, sollen sie sprechen wie Politiker. Auf keinen Fall irgendetwas verschleiern, vertuschen, unaufrichtig mit ihren Schwächen umgehen. Doch je mehr die Öffentlichkeit – Medien, die Politik, Leser und Hörer, Nutzer Sozialer Medien, Bürger – es goutieren, wenn körperliche und auch persönliche Schwächen ebenjener Politiker als Waffe gegen sie verwendet werden, desto seltener werden Verantwortungsträger sich in die Karten schauen lassen. Sie werden sich wie Franklin D. Roosevelt sitzend ablichten lassen, um nicht zu zeigen, dass sie humpeln. Selbst dann, wenn das Humpeln sie keineswegs davon abhält, großartige Staatsmänner und -frauen zu sein. 

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