80 Jahre ist der Zweite Weltkrieg vorbei. Ein Datum, an dem sich gemischte Gefühle kristallisieren. Da ist zuerst Dankbarkeit: dafür, dass diese Menschheitskatastrophe, deren überwältigende Dimension aus der zeitlichen Entfernung kaum noch zu erfassen ist, ein Ende fand. Dass die menschen- und gottverachtende Herrschaft der Nationalsozialisten unterworfen wurde. Dass Deutschland, von dem der Krieg ausging, seitdem im Frieden mit seinen Nachbarn lebt. Dass Versöhnung zwischen einstigen Feinden möglich wurde. Dass so vieles, was zerstört war, neu aufgebaut wurde.
Das Datum macht aber auch sehr nachdenklich. Weil im Osten Europas wieder Krieg herrscht, der auch Deutschland politisch herausfordert. Weil von der Generation derer, die den Krieg und den Holocaust erlebt haben, nicht mehr viele leben, um davon zu berichten. Weil forcierte nationale Interessen das Friedensprojekt Europäische Union infrage stellen. Weil zwei Drittel der Deutschen die Demokratie gefährdet sehen. Weil immer mehr Menschen in unserem Land müde werden, sich mit dem Nationalsozialismus und der Schuld des deutschen Volkes auseinanderzusetzen.
Laut einer aktuellen Studie stimmte im vorigen Herbst erstmals eine relative Mehrheit von 38 Prozent der deutschen Bevölkerung der Aussage zu, es sei Zeit für einen Schlussstrich unter der Zeit des Nationalsozialismus. Um ein Prozentpunkt weniger Menschen sahen das nicht so. In einer anderen Umfrage fand ein gutes Drittel und damit ebenfalls eine Mehrheit, dass zu viel über Deutschlands Rolle im Zweiten Weltkrieg gesprochen werde. Die Hälfte der Befragten meinte, es dürfe nie einen Schlussstrich zu diesem Thema geben.
Nüchtern die Geister unterscheiden
Aus christlicher Perspektive gäbe es vieles zu diesem Datum zu sagen. Ein Aspekt erscheint mir dafür besonders bedeutsam. Jesus sollte einmal über eine Frau urteilen, die beim Ehebruch ertappt wurde. Sie hätte gesteinigt werden müssen. Am Ende der Begegnung verurteilt Jesus sie nicht, aber fordert sie auf: Sündige nicht mehr.
Die Voraussetzung dafür, nicht mehr zu sündigen, ist, dass man weiß, was Sünde ist, und sich eingesteht, dafür anfällig zu sein. Ja, auch viele Christen haben sich von der Ideologie des Nationalsozialismus anstecken lassen, obwohl sie so grundlegend dem widerspricht, was Jesus lehrte. Eine Ideologie, die das Eigene – indem Fall die eigene Nation – über alles stellt; die Menschen in unterschiedliche Klassen einteilt; die festlegt, welches Leben lebenswert ist und welches nicht; die sich das Recht nimmt, zu herrschen und zu vernichten.
Der Grund allen Übels ist der menschliche Hochmut, der keine Ehrfurcht vor Gott hat. Der Nationalsozialismus wollte das sogenannte dritte, ein tausendjähriges Reich errichten, aber hat stattdessen einen zweiten Turm von Babel gebaut. Einen Turm, der bis zum Himmel reichen sollte – nicht um Gott näher zu sein, sondern um seinen Platz einzunehmen.
Es ist wichtig, heute und auch in Zukunft daran zu erinnern. Damit wir nüchtern bleiben und die Geister unterscheiden können, wenn Ideologen verschiedenster Strömungen Menschen in ihren Bann ziehen.
Ein zweiter Aspekt an der Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin ist ebenfalls interessant: Jesus ist der Frau gnädig. Mit Blick auf die vergangenen 80 Jahre unserer Geschichte empfinde ich es als Gnade Gottes mit unserem Volk, dass wir heute ein wirtschaftlich starkes und international geachtetes Land sind. Das sollte uns dankbar machen. Und demütig.