Meinung

500 Tage Krieg: Die Welt ist eine andere

500 Tage sind vergangen, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. Die Welt hat sich fundamental verändert.
Von Nicolai Franz
Waffenlieferungen für die Ukraine werden immer wieder kontrovers diskutiert

Ukraine

Seit 500 Tagen kämpfen die Ukrainer erbittert ums Überleben. Anfänglich drohte die russische Übermacht das riesige Land im Handstreich zu nehmen. Doch dazu kam es nicht. Es war nicht nur die russische Inkompetenz, das durch Korruption mangelhafte militärische Gerät und die mangelnde Moral auf russischer Seite, die das verhindert haben. Sondern auch der Wille des ukrainischen Volkes, jeden Quadratzentimeter des eigenen Territoriums zu verteidigen.

Als die russischen Truppen einige ukrainische Gebiete im Osten „befreiten“, rechneten sie mit Blumen und Jubelrufen. Stattdessen trafen sie auf Ukrainerinnen mit Molotowcocktails. Die größte russische Kriegslüge, nämlich, dass die Ukraine eigentlich gar nicht existiere und dass deren Bewohner in Wahrheit froh wären, endlich wieder zu Russland zu gehören, war damit schon in den ersten Kriegstagen verpufft.

Statt die Ukraine, das „Brudervolk“, in ein neues Großrussland zu integrieren, hat der russische Expansionswahn zum genauen Gegenteil geführt: Die Ukrainer fühlen sich wie nie zuvor als ein Volk mit nationaler Identität. Die ukrainische Kultur, die der russische Präsident Wladimir Putin auslöschen will, erlebt einen Höhenflug.

Die ukrainische Sprache wird von mehr, nicht von weniger Menschen gesprochen als vor dem Krieg. Aus den einstigen Brüdern im Osten – immer noch gibt es viele verwandtschaftliche Verbindungen – sind Erzfeinde geworden.

Die Verteidigung ihrer Heimat bezahlen die Ukrainer mit einem hohen Blutzoll. Offizielle Stellen halten sich mit Opferzahlen zurück, doch sie gehen auf ukrainischer Seite vermutlich in die Hunderttausende. Niemand weiß, wie lange der Krieg noch dauern wird.

Seit Beginn des Krieges ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im medialen Dauereinsatz. „Der Kampf ist hier. Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“, soll der Politiker gesagt haben. In unzähligen Videoschalten sprach er vor nationalen Parlamenten, in den USA, Europa und weit darüber hinaus, vor den Vereinten Nationen und der Nato.

Mit Beginn der Invasion tauschte er den dunklen Anzug mit Krawatte gegen militärisch braune Pullover und T-Shirts. Er weiß, dass die Zukunft der Ukraine von der Unterstützung des Westens abhängt. Und welche Rolle die Kommunikation dabei spielt. Ausfälle hatte er nur wenige – stattdessen hat sich der politische Quereinsteiger international den Ruf eines vorbildlichen Staatenführers erarbeitet. Ob er nicht nur ein guter Präsident zu Kriegs-, sondern auch zu Friedenszeiten ist, wird sich hoffentlich bald zeigen.

Russland

Alexey Moskaljow will sterben. Vor einem Gericht in der russischen Stadt Tula bittet er darum, das Todesurteil gegen ihn zu verhängen und dies möglichst schnell umzusetzen. Moskaljow ist Vater eines 13-jährigen Mädchens, sie heißt Mascha. Mascha hatte in der Schule ein Bild gemalt, das den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hatte.

Die Schulleiterin rief die Polizei, schnell geriet Maschas Vater in den Fokus der Ermittler. Sie fanden kriegskritische Posts, die Moskaljow in sozialen Medien veröffentlicht haben soll. Dafür muss er zwei Jahre in Haft. Sein Verbrechen: „Diskreditierung der Armee“. Die Trennung von seiner Tochter belastet ihn so sehr, dass er lieber sterben will.

Jewgeni Prigoschin will leben. In den 1980er Jahren saß er neun Jahre im Gefängnis wegen eines Raubüberfalls und anderer Delikte, wurde als Caterer „Putins Koch“, gründete die nach russischem Recht illegale Söldnergruppe „Wagner“, die in verschiedenen Ländern Kriegsverbrechen beging. Ganz offen und im Widerspruch zum Gesetz setzte Russland Wagner in der Ukraine ein. Prigoschin wurde offenbar zu stark, weswegen die politische Führung seine Söldnergruppe einhegen wollte.

Der Wagner-Chef weigerte sich und setzte zum „Marsch der Gerechtigkeit“ gen Moskau an. Eine Meuterei, ein Putschversuch. Doch Prigoschin drehte auf halber Strecke um, angeblich wegen eines Deals, der ihm Straffreiheit ermöglicht. Offenbar hält er sich aktuell in St. Petersburg auf und denkt nicht daran, sich dem Verteidigungsministerium zu unterstellen. Kremlsprecher Dimitri Peskov quittierte das mit einem Achselzucken. Man könne sich darum nicht kümmern. Ein Kriegsverbrecher und Putschist kann unbehelligt in Russland leben.

Perücken und Verkleidungen: Diese Fotos wurden angeblich von Behörden bei Prigoschin gefunden.

Beide Geschichten zeigen: Putins Machtsystem wankt, mehrfach wird deutlich, wie er die Kontrolle verloren hat. Das ist bedrohlich für ein Land, in dem Machtpolitik, Korruption und mafiöse Zwangsloyalität die Machtbasis bilden. Putin, der starke Führer – spätestens seit Prigoschin hat dieses Bild tiefe Kratzer bekommen.

Schlimmer: 500 Tage nach Kriegsbeginn ist offenkundig, dass Russland natürlich keine Demokratie ist, auch keine „gelenkte Demokratie“ – sondern zur knallharten Diktatur geworden ist. Menschen, die sich mit einem weißen Blatt vor den Kreml stellen, werden verhaftet, während Duma-Abgeordnete amüsiert mit einem Vorschlaghammer posieren, dem Werkzeug, mit dem die eigenen Leute einem russischen Dissidenten vor laufender Kamera den Kopf zertrümmerten. Russland ist moralisch bankrott.

Deutschland

Der 24. Februar 2022 war der Tag, an dem Deutschland aus dem Dornröschenschlaf erwachte. Das Lebensgefühl nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war geprägt von geopolitischer Hoffnung auf eine Friedensordnung mit Russland. Handel, Zusammenarbeit, gemeinsame Projekte: Politiker hofften darauf, durch solche Maßnahmen Russland zum Partner zu machen. Und neben schicken Autos auch gleich ein paar freiheitliche Werte nach Moskau zu schicken. Dieser Traum ist ausgeträumt.

Kurz nach Beginn der Invasion verkündete Kanzler Olaf Scholz (SPD) eine „Zeitenwende“, stellte der über Jahre vernachlässigten Bundeswehr ein „Sondervermögen“, gemeint sind Sonderschulden, in Höhe von 100 Milliarden Euro zur Verfügung. Wochen vor dem Angriffskrieg hielt es die damalige Verteidigungsministerin Lambrecht (SPD) noch für eine gute Idee, 5.000 Helme in die Ukraine zu senden.

Eineinhalb Jahre später rollen deutsche Leopard-2-Kampfpanzer, der Flugabwehrpanzer Gepard, die Panzerhaubitze 2000, der Schützenpanzer Marder und anderes schweres Gerät aus deutschen Beständen durch die Ukraine. Deutschland ist nach den USA zum zweitgrößten Lieferanten militärischer Unterstützung für die Ukraine geworden, wenn auch mit gehörigem Abstand.

Vor der russischen Invasion hatte in Deutschland ein Quasi-Pazifismus geherrscht. Alles, was mit Bundeswehr zu tun hatte, galt in vielen Kreisen als militaristisch, „kriegstreiberisch“ oder gar als politisch rechts. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Ausnahme ist die Linkspartei, die sich zudem immer wieder im Sinne des Kreml äußert. Flankiert wird sie dabei von der AfD. Links- und Rechtsradikale sind offenbar doch nicht so verschieden, wie man meinen könnte.

Die Kirchen

Der Ukraine-Krieg hat auch Auswirkungen auf die Ökumene. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. steht voll hinter Putin. Er liefert zuverlässig pseudo-religiöse Begründungen, warum es Gottes Wille sei, dass Russland die Ukraine bekämpft. Im Zentrum stehen westliche Werte wie Toleranz in sexualethischen Fragen. Die Haltung der russisch-orthodoxen Kirche hat nicht dazu geführt, dass alle Verbindungen zu anderen Kirchen im ökumenischen Dialog abgebrochen sind, aber sie sind schwer belastet.

Margot Käßmann und Nicolai Franz sprechen im PRO-Podcast über christlichen Pazifismus Foto: PRO
Glaube. Macht. Politik.
(12) Christlicher Pazifismus und der Ukraine-Krieg (mit Margot Käßmann)
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In Deutschland tat sich vor allem die Evangelische Kirche schwer, mit der Frage nach Waffenlieferungen umzugehen. Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus rang sich zum Statement durch, dass ein Ja zu Waffenlieferungen aus christlicher Sicht in Ordnung sei, auch wenn sie sich als im Herzen pazifistisch bezeichnet. Doch es gibt auch andere Stimmen: Kritischer hatte sich der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer geäußert, und die bekannte Theologin Margot Käßmann steht nach wie vor zu ihrer pazifistischen Grundhaltung.

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