Zum Tod Hans-Dietrich Genschers: Diplomat und Friedensstifter in bewegten Zeiten

Mehr als 18 Jahre lang war Hans-Dietrich Genscher deutscher Außenminister. Als FDP-Chef sorgte er 1982 für einen Wechsel im Kanzleramt. Als Spitzen-Diplomat wurde er zum Architekten der Deutschen Einheit. Im Alter von 89 Jahren ist Genscher am Freitag gestorben. Ein Nachruf von Christoph Irion
Von PRO
Hans-Dietrich Genscher (FDP) hat die deutsche Außenpolitik maßgeblich geprägt
Sein Markenzeichen war der gelbe Pullunder. Und in aller Welt wurde Hans-Dietrich Genscher geschätzt für seine unaufgeregte, verlässliche und verbindliche Außenpolitik. Von 1974 bis 1992 stand Genscher an der Spitze des Auswärtigen Amtes, zunächst in Bonn, dann in Berlin. Kein deutscher Außenminister war länger im Amt. Niemand hat die bundesdeutsche Diplomatie in bewegten Zeiten derart geprägt. Und auch wenn manche mit dem damals eingeführten Begriff „Genscherismus“ zunächst den polemischen Unterton „Unentschlossenheit“ oder „Zögerlichkeit“ assoziierten, so wurde Genscher damals wie heute doch vor allem geachtet für die hohe Kunst der ausgleichenden Vermittlung in der Spätphase des Kalten Krieges. Mit seinem Namen verbunden ist ein Image Deutschlands, das heute in aller Welt wieder mit Friedfertigkeit, Interessenausgleich und Fairness verbunden wird – was für ein Kontrast zu dem Menschenverachtenden und Schrecklichen, das die Nationalsozialisten in die Welt brachten, als der 1927 geborene Genscher in Halle/Saale zur Schule ging. Als „Sternstunde der Diplomatie“ bezeichnete die amerikanische Politikprofessorin und spätere Außenministerin Condoleezza Rice den deutschen Einigungsprozess 1989/90. Bei den sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen lieferte Genscher sein Meisterstück ab: In den Gesprächen der beiden deutschen Außenminister (Bundesrepublik und DDR) mit den Vertretern der Weltkriegs-Siegermächte USA, Russland, Großbritannien, Frankreich wurde die völkerrechtliche Souveränität des vereinigten Deutschlands hergestellt. Es war wahrscheinlich nicht übertrieben, als der frühere israelische Botschafter Avi Primor Genscher später als „einen der größten Diplomaten des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete und feststellte, er habe das Schicksal Deutschlands und Europas und „sogar das Schicksal der Welt entscheidend beeinflusst“.

Keine Angst vor dem Tod

Wer Hans-Dietrich Genscher im Interview gegenübersaß, erlebte einen Gesprächspartner, der bewusst sehr diplomatisch und förmlich korrekt formulierte. Die „Uno“ hieß bei ihm immer „Vereinte Nationen“. Und später, vor der Freigabe des Manuskripts, ließ er diese Passagen pingelig verbessern. Unbedachte oder überflüssige Aussagen vermied Genscher im offiziellen Teil des Gesprächs. Er sprach druckreif, wenn es um Außenpolitik oder die Deutsche Einheit, um seine politischen Überzeugungen als Liberaler und als Demokrat ging. Im inoffiziellen Begleitgespräch stellte er auch seinem Gegenüber schon mal freundlich persönliche Fragen. Er selbst hielt sich aber in der Öffentlichkeit mit Äußerungen zum eigenen Privatleben zurück. Knapp vier Monate vor seinem Tod äußerte sich Hans-Dietrich Genscher aber auch zu den Grenzfragen des eigenen Lebens. Und zwar ganz gelassen. Im Dezember 2015 sagte der damals 88-Jährige gegenüber der Illustrierten Bunte auf die Frage, ob er keine Angst vor dem Tod habe: „Nein, ich bin Christ.“ In seinem Alter beschäftige „man sich zwangsläufig damit – und eher mehr als weniger“. Er habe zuletzt mit einer Lungenentzündung auf der Intensivstation gelegen: „Es war knapp.“ Die Vorkehrungen fürs Sterben seien getroffen. Dennoch sehe er zusammen mit seiner Frau Barbara „mit unverändertem Lebensmut in die Zukunft“, auch wenn es in dieser Lebensphase mal zwei Schritte vorwärts und eineinhalb Schritte zurück gehe.

Mehr Zustimmung bekam keiner

1952 war Hans-Dietrich Genscher in den Westen gekommen, dort trat er gleich in die FDP ein und wurde Rechtsanwalt. 1965 ging er in den Bundestag, schon vier Jahre später wurde er unter dem ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt Innenminister. 1974, als Helmut Schmidt auf Brandt folgte, übernahm Genscher das Amt des Außenministers und wurde zudem Vizekanzler. Beide Positionen behielt er auch nach dem politischen Wechsel als Partner von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bei. Genscher selbst hatte im Herbst 1982 die historische „Wende“ von sozial-liberal zu liberal-konservativ aktiv betrieben und das „konstruktive Misstrauensvotum“ gegen seinen früheren Regierungspartner Schmidt unterstützt. Fast 30 Jahre lang blieb die kleine liberale Partei auf diese Weise ununterbrochen in der Regierungsverantwortung. Für ihre allzu geschmeidige politische Anpassungsfähigkeit mussten Genscher und seine FDP aber auch viel politische Prügel einstecken. Der persönlichen Beliebtheit Genschers im Wählervolk tat dies keinen Abbruch: Kein Politiker, noch dazu aus der kleinen FDP, hat jemals dauerhaft derart hohe Zustimmungswerte in Umfragen erhalten. In den 90er Jahren beförderte ihn das Satiremagazin Titanic zeitweilig in den Kultstatus: In Anlehnung an den amerikanischen Batman kreierten die Blattmacher die Comic-Figur „Genschman“ – mit gelbem Körper und schwarzer Maske.

Historische Momente

Zwei historische Momente sahen Genscher als „Macher“ zwischen den tiefsten Abgründen und den höchsten Höhen der Politik, zwischen Macht und Ohnmacht: Es ist der 5. September 1972, als der damals 45-jährige Bundesinnenminister in München mit palästinensischen Terroristen verhandelt, die im Olympischen Dorf israelische Sportler ermordet und gekidnappt haben. Genscher bietet sich selbst vor den Augen der Welt als Austauschgeisel an – aber das Fiasko kann er nicht verhindern. Am Ende sind alle neun israelischen Sportler und ein Polizist tot. Genscher bietet seinen Rücktritt an. Auch Jahrzehnte danach wird er wiederholt sagen: Dies sei „der Tiefpunkt“ gewesen, er spüre auch eine persönliche Verantwortung. Am 30. September 1989 entscheidet sich Genscher spontan für eine nicht geplante Reise nach Prag. Am Abend des selben Tages wird er auf dem Balkon der deutschen Botschaft einen Halbsatz rufen, der in die Geschichte eingeht: „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht Ihre Ausreise …“ Das Satzende geht im Jubel Tausender DDR-Flüchtlinge unter, keine sechs Wochen später wird die Berliner Mauer fallen. Genscher hat diesen Augenblick im Rückblick als den „Höhepunkt“ seines Politikerlebens bezeichnet. Im persönlichen Gespräch lieferte er später noch ein paar spannende Zusatzinformationen. Denn für ihn selbst stand an diesem Tag alles auf Messers Schneide: Nach eigener Auskunft hatte ihm sein Arzt verboten zu reisen, wegen akuter Herzinfarkt-Gefahr: „Ich musste natürlich trotzdem dahin“, sagte Genscher. Bemerkenswert verlief Genschers Rückzug aus der Politik: Am 17. Mai 1992 gab er sein Regierungsamt auf. Mitten im persönlichen Umfragehoch hatte der Dauer-Außenminister unerwartet seinen Ausstieg aus der Bundesregierung mit 65 Jahren angekündigt. Nicht nur das ist beispielhaft. Mit seinem ganzen Politikstil, als prägender Liberaler, bedeutender Diplomat, überzeugter Demokrat und auch als Christ war Genscher ein Vorbild. (pro)
https://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/zum-tod-von-guido-westerwelle-die-liebe-bleibt-95419/
https://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/lieber-vernunftmensch-als-visionaer-94018/
https://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/hans-jochen-vogel-wird-90-94885/
Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen