Wer Kritik an der Evolutionstheorie äußert – und sei sie noch so sachlich und stichhaltig – wird von den Medien gerne sofort in eine Ecke gestellt: die Angst vor „Kreationismus“ ist nicht weit wie die Sorge, dass die Kritiker als nächstes die Bibel zücken und ein Kreuz in den Schulen aufstellen wollen. Dabei gibt es seriöse Kritik an der Theorie Darwins. Die „Welt“ listetet zehn Fragen auf, die schlichtweg aus naturwissenschaftlicher Sicht interessant sind. Mit Religion hat das nichts zu tun.
Sex und Liebe sind biologisch gesehen ineffektiv
„Warum gibt es Sex? Warum gibt es Liebe?“, mit diesen Fragen beginnt die Reihe. Denn laut dem Biologen Graham Bell steckt dahinter „die Königin der ungelösten Fragen“. Der Aufwand, den die Entstehung eines zweiten Geschlechtes für die Evolution bedeutete, sei im Grunde nicht zu rechtfertigen, denn der biologische Nutzen dadurch sei gering. „Die Evolutionsbiologen können es drehen und wenden, wie sie wollen“, so die „Welt“: ohne Sex verliefe die Vermehrung jedenfalls effektiver.
Woher kommen die Blumen? Erstaunlicherweise gibt es keine Hinweise auf „Vorfahren“ der heute bekannten Blumen. „Die größte aller Pflanzengruppen ist plötzlich einfach da.“ Darwin selbst war über diese Frage so bekümmert, dass er sie als „the abominable mystery“, das abscheuliche Geheimnis, zu den Akten legte. Dort liegt sie noch heute.
Entstehung des Lebens liegt im Dunkeln
Wie soll das Leben selbst eigentlich entstanden sein? Eine Zelle ist ein so komplexer Mechanismus, dass es umso schwerer fällt, sich vorzustellen, sie sei aus Zufall entstanden, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. In der „Welt“ wird der Professor für Biologie an der Universität von Kalifornien (San Diego), Chris Wills, zitiert: „Die größte Lücke der Evolutionstheorie bleibt der Ursprung des Lebens an sich.“ Auch der danach folgende Schritt vom Einzeller zum Mehrzeller bleibt ungeklärt. Um das Problem zu lösen, bedienen sich Evolutionsbiologen eines Tricks: eine sehr lange Zeitspanne soll dem Zufall auf die Sprünge geholfen haben. Wissenschaftlich befriedigend ist diese Annahme freilich nicht.
„Wer war der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Affe?“, geht es in der Liste der „Welt“ weiter. „Wie sah der letzte unserer Blutsbrüder aus, wie lebte er?“ Der Paläontologe vom Natural History Museum in London, Chris Stringer, fragte im „New Scientist“: „Welche evolutiven Prozesse haben uns dazu gebracht, uns zu trennen?“ Auch Fossilien halfen da bisher nicht weiter.
Nicht ganz so bedeutsam wie die bisherigen, aber dennoch nicht minder interessant, ist Frage Nr. 5: „Warum erröten Menschen?“ Unter allen Primaten sei der Mensch der einzige, der in emotional entsprechenden Momenten Röte im Gesicht zeige. „Wo liegt da der Überlebensvorteil?“, fragt Frans de Waal, Professor für Verhaltensbiologie von Primaten an der Emory Universität in Atlanta, Georgia.
Was Evolutionsbiologen ebenfalls noch Kopfzerbrechen bereitet, ist die Frage, warum sich die Evolution oft nicht in den Genen abzeichnet. Beim Affen haben sich 233 Gene perfektioniert. Beim Menschen sind es nur 154. Der Schimpanse trägt viel weniger „Erbgut-Müll“ mit sich als der Mensch. So sterben etwa auch nur wenige Menschenaffen an Krebs – beim Menschen hingegen jeder Fünfte.
Verblüffend sind „Unfälle“ der Evolution. Unerklärlich etwa ist das Verhalten der Strumpfbandnatter: sie könnte unterschiedliche Tiere essen, Fische, Schnecken, Würmer, Ratten, Vögel. Doch sie bevorzugt einen Molch, der das Nervengift Tetrodotoxin produziert. Hat sie wieder einmal von dieser Giftbombe gekostet, ist die Natter vom Gift so zugedröhnt, dass sie eine leichte Beute für Vögel ist. „Survival of the fittest? In diesem Fall ist das für Evolutionsbiologen ein Rätsel“, so die „Welt“.
Selbst Evolutionsbiologen skeptisch
„Warum denken Männer anders als Frauen?“ führt zu der Erkenntnis, dass Evolutionsbiologen viele Eigenarten der menschlichen Psyche nicht erklären können. „Viele Details sind erschreckend unklar“, gibt auch der Paläontologe Niles Eldredge vom American Museum of Natural History, New York, zu. Das Gehirn des Menschen ist so komplex, dass die Frage gestellt werden muss: Wie konnte es durch natürliche Selektion entstehen? Es sei „schwer vorstellbar“, dass es durch Mutationen, Vervielfältigungen und Selektionen geschah, schreibt Eörs Szathmáry. Dabei ist er kein verrückter Kreationist mit einer Bibel in der Hand, wie Medien nüchterne Evolutionskritiker gerne karikieren, Szathmáry ist Evolutionsbiologe und Professor für Biologie an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest.
Die letzte Frage betrifft die Gene des Menschen: „Gene sind nicht alles“, zu dieser Erkenntnis kommen immer mehr Evolutionsbiologen. Der britische Genetiker Steve Jones etwa stellte durch eine U-Bahn-Fahrt durch London fest, dass der Wohnort und die Lebenserwartung von Menschen zusammenhängen. „Mit jedem Bahnhof Richtung Osten, also Richtung Armut, leben Männer wie Frauen ein Jahr kürzer“, schrieb er. Das Erbgut allein könne das nicht erklären. Der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins jedoch, der stets die „Schönheit“ und offensichtliche Wahrheit der Evolutionstheorie kundgibt und Kritiker gerne als „Ignoranten“ abtut, stellte die Behauptung auf: „Als einziges Wesen können wir uns gegen die Tyrannei der Gene auflehnen.“ Die „Welt“ fragt: „Wie aber konnte die Auslese der durchsetzungsfähigsten Gene eine entgegengesetzte Fähigkeit hervorbringen – einen ungehorsamen Organismus?“
Es lohnt sich offenbar, bei der Evolutionstheorie genauer hinzusehen. Zum Glück ist es Naturwissenschaftlern erlaubt, seriöse Fragen an eine Theorie zu stellen, die nicht unantastbar ist und die keine unumstößliche Wahrheit ist – auch wenn sie im Zusammenhang mit einem britischen Forscher immer wieder als solche dargestellt wird. (PRO)