Der Theologe Notger Slenczka will das Alte Testament aus dem christlichen Kanon verbindlicher Schriften verbannen. Seine Gegner werfen ihm Antijudaismus vor. Besser wäre eine ernsthafte Diskussion, an deren Ende das Vertrauen in die Bibel sogar wachsen könnte. Ein Kommentar von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
30. April 2015
Foto: Merlin / Wikipedia
Ist das Alte Testament noch für Christen verbindlich?
Soll die Kirche das Alte Testament aus dem biblischen Kanon entfernen? Der im 1. und 2. Jahrhundert lebende Marcion fand: Ja – und ging als einer der größten Ketzer in die Geschichte ein. Für ihn gab es einen guten, liebevollen Gott, der im Neuen Testament zu Hause war. Und einen bösen, kaltherzigen Gott – den des Alten Testaments nämlich. Seit Marcion hat es immer wieder theologische Debatten darum gegeben, ob das Alte Testament denn überhaupt noch zum biblischen Kanon gehören darf.
In den vergangenen Tagen ist erneut ein erbitterter Streit darum entbrannt. Ausgangspunkt ist ein Aufsatz des Theologie-Professors Notger Slenczka von der Humboldt-Universität Berlin aus dem Jahr 2013. Darin fordert er, das Alte Testament künftig nicht mehr als verbindlich für Leben und Lehre der Kirche zu behandeln, sondern den Apokryphen gleichzustellen: Schon nützlich, aber nicht auf derselben Stufe wie das Neue Testament.
Slenczka argumentiert, kanonisch dürfe eine Schrift nur sein, wenn sie das Evangelium verkündet. Diese Annahme ziehe sich durch die gesamte Kirchengeschichte. „Historisch gesprochen verkündigt das Alte Testament aber nicht Jesus“, sagte Slenczka im Interview von Christ und Welt. Das Alte Testament sei vielmehr die „Vorgeschichte“ des christlichen Glaubens, schreibt er in seinem Aufsatz. Mit dem Ketzer Marcion hat Slenczka also wenig gemein.
„Handfester theologischer Skandal“
Dennoch: Die „Universalität des Liebeswillens Gottes“ und das bedingungslose Angenommensein des Menschen fehle dem Alten Testament „eklatant“. Nach dem Theologen soll das Alte Testament weiter gepredigt und nicht etwa abgeschafft werden. Aber es dürfe nicht wie das Neue Testament als „Richtschnur für das Leben und die Lehre der Kirche gelten“. Damit schließt sich Slenczka dreien der einflussreichsten Theologen der vergangenen zwei Jahrhunderte an: Friedrich Schleiermacher, Adolf von Harnack und Rudolf Bultmann.
Slenczka erhielt zwar Widerspruch, doch die große öffentliche Empörung blieb aus. Das änderte sich, als Friedhelm Pieper vom Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) Slenczkas Äußerungen einen „handfesten theologischen Skandal“ nannte und ein „merkwürdiges Schweigen“ im deutschen Protestantismus feststellte. Piepers Vorwurf hat es in sich: Die Abkehr vom Alten Testament sei nichts anderes als eine „Neuauflage des protestantischen Antijudaismus“.
Vergiftete Atmosphäre
Der Berliner Landesbischof Markus Dröge und fünf Theologieprofessoren der Humboldt-Universität distanzierten sich in einer öffentlichen Stellungnahme von Slenczka. Federführend war Christoph Markschies, immerhin Vorsitzender der Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Dieser habe Slenczkas Position „in der ihm eigenen subtilen Art“ in die Nähe des antisemitischen Alttestamentlers Johannes Hempel gestellt. Keine Frage: In der Berliner Fakultät ist die Atmosphäre vergiftet.
Ist der renommierte Dogmatiker also ein Antijudaist – oder gar ein Antisemit? Mit Sicherheit nicht. Wer Slenczkas Aufsatz aufmerksam liest, stellt fest: Er will das Alte Testament viel eher davor schützen, dass Christen ihm ihre Lesart überstülpen. Er ist auch nicht der Meinung wie manch anderer, die neutestamentliche Gemeinde habe Israel als Gottes Volk abgelöst. Jedoch richte sich das Alte Testament in erster Linie an die Juden, nicht an Christen. „Der Respekt gebietet, vor dem Selbstverständnis dieses Volkes zurückzutreten und zu sagen: Es ist unsere religionsgeschichtliche Voraussetzung, aber es ist nicht Verkündigung von Jesus“, sagt Slenczka.
Vertrauen in die Bibel muss nicht abnehmen
Genau damit steht und fällt Slenczkas Argumentation: Kanonisch seien nur die Stellen, die Jesus verkündigen. Das heute so verstandene und weit verbreitete Kriterium Luthers „was Christum treibet“ lässt durchaus den Schluss zu, dass Teile des heutigen Bibelkanons daraus entfernt werden könnten – wenn sie eben nicht Jesus verkündigen. Daher stellte Luther auch den Jakobusbrief, den Hebräerbrief und die Offenbarung an das Ende der Bibel.
In der Tat „fremdeln“ manche Christen mit vielen Stellen aus dem Alten Testament, wie Slenczka es nennt. Mit seinem Vorstoß werde „lediglich die Art und Weise ratifiziert, in der wir mit den Texten im kirchlichen Gebrauch faktisch umgehen“. Damit hat Slenczka nicht Unrecht, und seine Argumentation ist konsequent. Dennoch lässt sich seine Position widerlegen, etwa wenn ernsthaft hinterfragt würde, ob „was Christum treibet“ in dieser Konsequenz wirklich das richtige Kriterium dafür ist, um zu bestimmen, was zum Wort Gottes gehört und was nicht.
Slenczkas Kollegen wären jedenfalls gut beraten, wenn sie dessen Position theologisch und nicht politisch diskutieren würden. Im besten Falle würde dadurch das Vertrauen in die Bibel nicht abnehmen, sondern wachsen. (pro)
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