Aggressive Unwissenschaftlichkeit
Das bekannteste Beispiel eines aggressiv auftretenden und einflussreichen Naturalisten ist wohl der Brite Richard Dawkins. Widenmeyer schreibt: „Dawkins bezeichnete insbesondere Vertreter nicht-naturalistischer Konzepte in der Biologie sinngemäß als hoffnungslos rückständig, dumm, verrückt oder gar böswillig. Letztlich ist eine solche pauschale Diskreditierung des Gegners ein Schachzug, um eine sachbezogene, begrifflich klare argumentative Auseinandersetzung zu vermeiden.“ Laut Widenmeyer hatten die beiden großen totalitären Systeme der Zeitgeschichte, der Nationalsozialismus und der Marxismus, eine naturalistische Grundlage. Nicht eine Transzendenz, nicht Gott sollte im Mittelpunkt stehen, sondern der Mensch. Gott ließe sich aber nur dann abschaffen, wenn alles Leben aus toter Materie entstand. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809-1882) schuf eine Grundlage für den Naturalismus, der sich schnell auf gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Ebene ausbreitete. Das von Widenmeyer mehrfach zitierte Buch „From Darwin to Hitler“ von Richard Weikart zeichnet diesen Zusammenhang auf. Darwin etwa war dagegen, dass Kranke und geistig Behinderte in Heimen betreut werden. Denn dadurch vermehrten sie sich und schadeten der „Rasse“. Gedanken, die Hitler auf schreckliche Weise in Politik umsetzte. Doch das Dogma des Naturalismus, das immer wieder von den „Neuen Atheisten“ wie Dawkins dazu verwendet wird, nicht-naturalistische Erklärungsversuche als rückständig und unwissenschaftlich zu diffamieren, bekommt immer mehr Risse. Bereits der amerikanische Philosoph Thomas Nagel, der sich selbst als Atheist bezeichnet, schrieb in seinem vielbeachteten Buch „Geist und Kosmos“ vor einem Jahr seine Zweifel auf. Den Sieg des Naturalismus beschreibt er darin als „Triumph einer Ideologie über den gesunden Menschenverstand“. Widenmeyer weiß zahlreiche Denker zu zitieren, die ihrer eigenen Zunft ins Gewissen reden und auf Probleme des Naturalismus hinweisen.Der Naturalismus hebt sich selbst auf
Widenmeyer erklärt, dass es ohne Geist keine wirklich gut begründete Moral geben könne. Für jeden einzelnen Menschen wäre der Maßstab des eigenen Handelns nur noch seine eigene körperliche und emotionale Befindlichkeit, und seine Triebe der einzige Zweck seines Daseins. „Von einem Nutzenkalkül abgesehen gäbe es keinen Grund, beliebigen persönlichen Neigungen wie Hass, Macht- und Habgier, Grausamkeit oder sexuellen Entgleisungen zu widerstehen.“ Naturalismus bedeute in letzter Konsequenz, dass eigentlich nichts wirklich Sinn im Universum habe, der Mensch sei dann total verlassen und sinnlos. Denn das Universum sei das Ergebnis eines „blinden Uhrmachers“ (so der Titel eines Buches von Richard Dawkins), ohne Sinn, Zweck und Ziel. Auch die individuelle Freiheit jedes Menschen wäre im naturalistischen Verständnis eine reine Illusion. Gemäß dieser Weltanschauung denken Menschen nicht gemäß ihrem eigenen Willen, sondern weil sie einem universellen Programm folgen. Wenn all unser Denken von nichtgeistiger Materie abhängt, hätten wir keine Erkenntnisfähigkeit, so Widenmeyer. Schlussfolgern verlöre seinen Sinn. Aber damit wäre auch die Annahme des Naturalismus selbst eine unbegründete Illusion. Der Naturalismus entzieht sich so seine eigene Grundlage. Heute gebe es einflussreiche naturalistisch gesinnte Gruppierungen, die das Ziel haben, die kulturelle Vorherrschaft des Naturalismus weiter auszubauen, schreibt Widenmeyer. Zu nennen sind hier etwa die „Brights“, die sich mit dieser Bezeichnung selbst als die „hellen Köpfe“ oder die „Erleuchteten“ bezeichnen, oder die Mitglieder der Giordano-Bruno-Stiftung. Wer nicht naturalistisch denkt, soll als rückständig, unaufgeklärt und unwissenschaftlich gebrandmarkt werden, lautet das Ziel. Dabei sprechen eben zahlreiche wissenschaftliche Argumente gegen den Naturalismus, zeigt Widenmeyer auf. Das Buch „Welt ohne Gott“ ist daher gerade für Christen eine wertvolle Hilfe dabei, die Angriffe der „Neuen Atheisten“ einzuordnen und fair auf sie zu reagieren, aber auch die Naturwissenschaft zu verstehen, die ideologiefrei funktionieren kann und sollte. Die Naturwissenschaft, welche die Natur beobachtet, um Regelmäßigkeiten festzustellen, vermag schließlich nichts über den Sinn der Natur zu sagen, geschweige denn über den Sinn des (menschlichen) Lebens. Sie kann nicht erklären, warum es überhaupt Dinge gibt. Dennoch überschreiten selbsternannte „Brights“ regelmäßig Grenzen der Naturwissenschaft – und geben sich gleichzeitig als besonders wissenschaftskonform aus. Erst im letzten Kapitel geht der Autor auf seinen eigenen Lösungsansatz ein, der – es war zu erwarten – auf Gott gründet. Der Theismus sei die „folgerichtige Alternative“ zum Naturalismus, folgert der Philosoph und Chemiker angesichts der Erklärungsnöte des Naturalismus, die Widenmeyer über sieben Kapitel erläutert hat. Gottes Existenz sei schlicht wahrscheinlicher als seine Nichtexistenz. Beweisen kann selbstverständlich auch ein schlauer Mensch wie Markus Widenmeyer die Existenz Gottes nicht. Dennoch ist seine „kritische Analyse des Naturalismus“, die im Grunde einen Verriss darstellt, faszinierend. Denn in kleinen, logischen Schritten entlarvt er den Naturalismus als Versuch, Gott abzuschaffen, allerdings auf Kosten der wissenschaftlichen Methode, die zu ehren seine Anhänger selbst ständig vorgeben. Dabei behandelt er Fragen, die Christen wie Nichtchristen interessieren sollten, etwa, ob offensichtliche Ordnung im Universum durch Zufall zu erklären ist, wie und ob das Leben aus toter Materie entstanden sein kann, und ob das Gehirn mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein Buch, bei dem sich die – zugegeben notwendige – Konzentration lohnt. (pro) Markus Widenmeyer: „Welt ohne Gott? Eine kritische Analyse des Naturalismus“, SCM Hänssler, 238 Seiten, 19,95 EUR- ISBN: 978-3-7751-5619-6
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