Zukunftsforscher: „Kirchen müssen in Streitkultur investieren“

CDU, CSU und SPD wollen im Koalitionsvertrag die Digitalisierung für mehr Wohlstand nutzbar machen. Zukunftsforscher Erik Händeler vertritt die These, dass der Wohlstand in der Wissensgesellschaft der Digitalisierung vom Sozialverhalten abhängt. Im Gespräch mit pro erklärt Händeler die Zukunft der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter – und die Chance des Evangeliums darin.
Von PRO
Zukunftsforscher Erik Händeler erkennt in der digitalen Arbeitswelt Chancen für das Evangelium und die Kirchen

Im aktuellen Koalitionsvertrag bezeichnen die potentiellen Koalitionspartner CDU, CSU und SPD die Digitalisierung an sich als „Chance für Wohlstand und sozialen Fortschritt“ und wollen Deutschland „in allen Bereichen zu einem starken Digitalland“ entwickeln. Der Zukunftsforscher Erik Händeler vertritt hingegen die These, dass der Wohlstand in der Wissensgesellschaft der Digitalisierung vor allem vom Sozialverhalten der Menschen abhängt. Für pro hat er sich den Koalitionsvertrag mit Blick auf das Themenfeld Digitalisierung angesehen und erklärt, wie die Zukunft der Arbeitswelt im digitalen Zeitalter und die Chance des Evangeliums und der Kirchen darin aussehen könnten.

pro: Wie bewerten Sie das Thema Digitalisierung im aktuellen Koalitionsvertrag?

Erik Händeler: Inhaltlich ist das alles gut und richtig. Andererseits sind es auch die Dinge, die sowieso gemacht werden müssen: Gigabit-Glasfaseranschluss garantieren, schnellere Leitungen bauen, in der Schule dafür sorgen, dass die Kinder damit umgehen. Es ist nichts erstaunlich Neues. Vieles ist schon längst überfällig.

Woran mangelt es?

Wohlstand hängt nicht von der Technik ab. Im Gegenteil: Je mehr Technik und Digitalisierung wir haben, desto mehr wird es auf die Menschen hinter der Technik ankommen. Die Maschinen haben uns die materielle Arbeit abgenommen. Der Computer hat uns die strukturierte Wissensarbeit abgenommen. Was jetzt an Arbeit bleibt, ist Arbeit mit und an Menschen sowie Arbeit mit Wissen.

Was sind die Hürden bei der Digitalisierung und der Wissensarbeit?

Die Dinge werden immer komplexer. Wir sind mehr denn je darauf angewiesen, was andere können oder wissen. Wenn zwei Führungskräfte nicht mehr miteinander reden, dann fehlen Informationen, um ein Problem zu lösen. Sie können überall auf der Welt einen Kredit aufnehmen, Maschinen einkaufen oder vom Wissen anderer profitieren. Das Einzige, was in Zukunft in der digitalen Wissenswelt den Unterschied macht, ist die Fähigkeit der Menschen, mit Wissen umzugehen. Wir ringen um Lösungen und wie wir Ressourcen verwenden, weil wir unterschiedliche Interessen und Wahrnehmungen haben. Christen wissen aus ihrem Glauben, dass sie in ihren Fähigkeiten beschränkt sind. Das zwingt dazu, sich mit anderen auseinanderzusetzen über deren Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Wie ist es denn bestellt um unsere Wissens- und Streitkultur?

Früher brauchten wir keine Streitkultur. Die Hierarchie war klar. Oben stand der Chef, unten der gehorsame, austauschbare Arbeiter. Mittlerweile kennen sich aber auch Sachbearbeiter und Facharbeiter aus. Das verändert die Strukturen. Die Informationen fließen mindestens zu 51 Prozent von unten nach oben. Der Chef braucht verlässliche Informationen und muss sich hinterfragen lassen. Jeder muss auch widersprechen, Seilschaften und Individualismus bekämpfen.

Was heißt das für eine Firma konkret?

Produktiv ist eine Firma in der Wissensgesellschaft nur, wenn der Einzelne sich mit seinen Fähigkeiten frei entfalten und sein Wissen und Können für das Gesamtwohl einsetzen kann. Dabei muss er auch den Nächsten respektieren. Der Maßstab lautet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Der weltweite Wettbewerb wird über Religion und Kultur entschieden. Dies gilt auch für eine säkularisierte Gesellschaft. Auch sie ist von religiösen Wurzeln geprägt. Wenn sich der Einzelne unterordnen oder sich nicht frei entfalten kann, ist dies kontraproduktiv. Für die Gesellschaft bedeutet das, effizienter mit Wissen umzugehen. Dazu müssen sie ihre Kultur ändern. Weil viele Gesellschaften das nicht möchten, werden sie rassistisch oder fanatisch. Der Islamismus ist eine pubertäre Form der Gesellschaft, induziert durch diesen Veränderungsdruck.

Welche Religion hat in der Wirtschaft die Nase vorn?

Weltweit sind alle Religionen vertreten. In den Managerbüros stehen überall Buddha-Statuen. Zu uns wandern Muslime ein. In Saudi-Arabien gibt es 800.000 Christen. Wir bekommen einen Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen. Er wird nicht entschieden durch Gewalt, Kalaschnikows oder Theologen, sondern mittelbar von den Religionen über die Wirtschaft. Dabei ist die entscheidende Frage, wer besser Sozialverhalten und Kooperationsfähigkeit herstellen kann.

Was zeichnet Christen in dem Kontext aus?

Damit sind wir beim anonymen Christentum. Durch mein Verhalten zeige ich meinen Bezugsrahmen. Ich zeige, ob ich egoistisch und feige bin oder ob ich andere im Blick habe. Mittelalterliche Bauern oder Arbeiter in der industriellen Revolution mussten nicht viel entscheiden. In der Wissensgesellschaft ist das anders. Wir müssen viel mehr unser Gewissen prüfen. Wir haben auch innerhalb unserer christlichen Landschaft sehr viele Gruppenethiken. Einzelne müssen sich unterordnen oder/und werden bekämpft.

… und was nicht?

Schauen Sie sich die Christen in der AfD-Thematik an. Die schlechteste Streitkultur von allen haben wir im kirchlichen Bereich. Das ist furchtbar. Das Evangelium oder die Benediktinerregel sind eigentlich ein Instrumentarium für eine gute Streitkultur. „Du hast etwas gegen deinen Bruder, gehe hin und trage es mit ihm aus.“ Wir kritisieren unser Gegenüber aber nicht, weil der sonst pampig wird oder uns auflaufen lässt. Wir müssen in die Streitkultur unserer Kirchen und Gemeinden investieren. Wenn wir das geschafft haben, können wir in die Gesellschaft hinein wirken.

Haben Unternehmen mit einer christlichen Unternehmenskultur einen Wettbewerbsvorteil?

Es kommt nicht auf das Etikett an, sondern auf den praktischen Vollzug. Ich kenne christliche Unternehmen, die unter Christentum Kadavergehorsam verstehen. Da kann sich der Einzelne nicht frei entfalten. Manche wähnen sich auch im Besitz der Rechtgläubigkeit oder sehen den anderen als ein Werkzeug des Teufels. Sie setzen sich aber nicht inhaltlich mit ihm auseinander. Andererseits gibt es viele Unternehmer, die nicht christlich sind, aber den Geist Gottes befolgen. Wir Christen sollten unseren Glauben viel mehr thematisieren. Es geht nicht darum, einen internen Vorteil zu haben, sondern dass die Menschen zu Gott kommen. Gott möchte, dass wir uns in Freiheit für das Gute entscheiden. Wenn Gott beweisbar wäre, würde uns das die Freiheit nehmen, sich für das Gute zu entscheiden. Deswegen darf Gott nicht beweisbar sein.

Hat Max Weber mit seiner „Protestantischen Ethik“ ausgedient?

Nach Max Weber sind die Menschen geprägt von ihren religiösen Wert- und Zielvorstellungen. Das wirkt sich darauf aus, wie sie ihr Leben organisieren und wie sie sich verhalten. Weber hat vor 100 Jahren festgestellt, dass die protestantischen Gebiete im Gegensatz zu den katholischen industrialisiert waren. Er hat sich das so erklärt: Für Katholiken gilt Beten und Arbeiten. An erster Stelle stand der Schatz im Himmel und dann kam die Arbeit. Für die Protestanten war Arbeit das Mitwirken an der Schöpfung Gottes. Für Puritaner ist der Reichtum ein Zeichen dafür, welche Gnade er vor Gott hat. Weil Konsum für ihn Sünde ist, investiert er das Geld wieder und sorgt für die Industrialisierung.

Und wie sieht es heute aus?

Heute sagt man eher, es war die Bildung, aber auch die hatte einen religiösen Hintergrund. Protestanten haben die Bibel selber lesen wollen, während der katholische Pfarrer sie seinen Gläubigen erklärt hat. Weil die Protestanten lesen konnten, hatten sie eine höhere Produktivität und waren reicher. Islamische Länder werden nicht produktiv sein, wenn sie nicht ihre Kultur ändern. Deshalb geraten die Religionen dort auch zunehmend unter Druck und reagieren so gruppenethisch, nationalistisch und zum Teil salafistisch. Religion bestimmt nicht nur die Wirtschaft sondern auch umgekehrt. Wenn sie eine Technik verändern, verändern sie nicht nur die Art, wie sich Wirtschaft verändert, sondern sie ändern auch die Religion. Mit dem Auto konnten wir unserer Nachbarschaft oder der Großfamilie davon fahren. Wem der Pfarrer am Ort zu liberal oder zu konservativ ist, hat sich am Sonntag ins Auto gesetzt und ist einen Ort weiter gefahren. Dadurch hat sich Kirche und Religion individualisiert. Die einen wurden charismatisch, die anderen marienfromm, die anderen ganz leer. Die Katholische Kirche hat mit dem 2. Vatikanischen Konzil reagiert und die Strukturen neu definiert. Mit der Industrialisierung gab es mehr Beschäftigte, die mehr Steuern zahlten und auch mitreden wollten. Technik verändert immer auch Religion und Kirche.

Was bedeutet das heute für die Digitalisierung?

Wohlstand hängt davon ab, wie Menschen zusammenwirken. Auch wenn wir künstliche Intelligenz bekommen, wird der Mensch noch wichtiger werden. Von den Wertmaßstäben des Menschen hängt dann ab, wie viele Ressourcen wir dann haben für Infrastruktur, Soziales, Pflege, Umwelt und Energie. Der Schlüssel zu allem ist die Fähigkeit, zusammenzuwirken. Dazu braucht es eine Kultur, in der ich nicht egoistisch bin und ich nicht nur Menschen helfe, die mir helfen können. Die Nächstenliebe des Evangeliums kann sich jetzt erst in der Arbeitswelt entwickeln. Jetzt bestehen die Möglichkeit dazu. Wir bekommen einen Krieg der verschiedenen Wertesysteme. Dieses gruppenethische System beißt sich mit dem System, in dem sich der einzelne frei entfalten kann und mit dem System der Universalethik. Was wirtschaftlich notwendig ist, setzt sich durch.

Und was bedeutet das für die Zukunft?

Ich bin optimistisch, dass die Menschen in diesem neuen Umfeld lernen werden, besser miteinander umzugehen und zu streiten. Ich hoffe, dass das, was Evangelium ausmacht, darüber wächst. Innerhalb der Kirchen und Gemeinden haben wir (noch) eine sehr starke Gruppenethik. Es wird daher auch innerhalb der Kirchen „stauben“. Wir werden nach 50 Jahren Individualismus wieder mehr zur Gemeinsamkeit kommen. Wir kommen jetzt in eine Zeit, in der mehr Individualismus nicht mehr Wohlstand schafft. Deswegen werden wir aus wirtschaftlichen Gründen lernen, uns besser einzuordnen mit anderen. Dadurch werden die Familienqualität und die Geburten wieder steigen. Wenn wir wieder lernen, besser miteinander zu streiten, werden wir auch unsere Ehe- und Familienprobleme wieder besser lösen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

In seinem aktuellen Buch „Himmel 4.0: Wie die digitale Revolution zur Chance für das Evangelium wird“ (Brendow, 10 Euro, 112 Seiten, ISBN 9783961400225) beschreibt Händeler die Chancen für die Kirchen durch die Digitalisierung. Die neue Universalethik der Digitalisierung, sagt Händeler, kommt in ihren Werten dem christlichen Evangelium sehr viel näher als die stärker aufs Individuum und geschlossene Gruppen abzielenden Ethiken der Vergangenheit.

Von: Norbert Schäfer

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