Wir müssen aufwachen aus der kollektiven Psychose

Patrick Senner arbeitete jahrelang als Gen-Z-Pastor. Nun orientiert er sich neu. Und wünscht sich grundlegende Änderungen in der Kirche. Ziel: ein gesundes Arbeitsumfeld.
Von PRO

Seit 2014 arbeite ich als Gen-Z-Pastor (Kinder- und Jugendreferent im Reisedienst). 2021 haben wir als Family „hinter verschlossenen Türen“ entschieden, dass dieses Mal der Job meiner Frau Vorrang hat vor meinem „ach so tollen/wichtigen Job“ als Hauptamtlicher. Sie ist Sozialarbeiterin und tiergestützte Therapeutin. Für uns war klar: Wenn sie ihren Job als tiergestützte Therapeutin in Vollzeit ausüben will, benötigt sie dafür einen eigenen Hof. So beschlossen wir, den Resthof meiner Schwiegermutter zu übernehmen, um der Berufung meiner Frau nachzugehen. 

Mir war klar, dass dieser Schritt für mich berufliche Veränderungen bedeutet. Was ich aber nicht gedacht hätte, dass ich mit meiner Qualifikation (B.A. in Evangelischer Theologie, mehr als 75 besuchte Gemeinden als Reisereferent, Wildnis- und Erlebnispädagoge, professioneller Social Media Manager) und Berufserfahrung (mehr als zehn Jahre) keine Stelle in Ostfriesland finden werde – trotz Fachkräftemangel. In dieser Zeit kam dann für mich die grundsätzliche Frage auf, ob und wenn ja, wie ich in Kirche und ihren Werken weiterarbeiten könnte oder möchte.

Ich vertraue einem schöpferischen Prozess, den ich nicht von Anfang an verstanden habe. Aber in diesem hat sich im Sommer 23 etwas mir völlig „artfremdes“, aber tolles, etwas ganz Neues und mir eigenes eröffnet. Ich werde als Community Manager im „Theater Lazarett“ (Aurich, eine Art „Fresh X“-Projekt) anfangen. 

Ich möchte betonen, dass ich Kirche und vieles, was zu ihr gehört, liebe. Seitdem ich sieben Jahre alt war, habe ich in den Strukturen gelebt, sie mitgestaltet und ihr irgendwann meinen vollzeitlichen Dienst gewidmet. Und aus dieser Haltung heraus, weil mir Kirche so wichtig ist und ich ihr langfristig erhalten bleiben möchte, haben wir als Family bewusst entschlossen, dass ich erst einmal ein kirchenfernes Berufsfeld erprobe und dort gesunde.

Ich habe in mehr als 75 Gemeinden deutschlandweit Jugendarbeiten kennengelernt, begleitet und in ihnen gearbeitet. Mir dämmerte es mehr und mehr, dass in „unseren Strukturen“ ähnliche Denkmuster und Schemata vorherrschen wie in gesellschaftlichen Systemen. Bloß subtiler, vielleicht unter einem „frommen Mantel“, der es wirklich gut meint. 

Es ging um Dinge wie: Wer viel macht, wird anerkannt. Wer viel leistet, wird eingeladen. Wer viele Umdrehungen hat und laut ist, steht „vorne/ oben“. Ich habe dieses Leistungssystem und das „Hinterherhecheln“ bei vielen Ehren- und Hauptamtlichen (mich eingeschlossen) gesehen. Und irgendwann mit meiner Frau entschieden, dass, wenn ich langfristig gesund bleiben will, mir vier bis fünf Jahre in einem anderen Umfeld guttun werden, um zu heilen und neue Verhaltensstrategien zu entwickeln, um so eines Tages wieder in Kirche zu arbeiten. 

Ich habe im engsten Freundeskreis, mit der Family und natürlich meiner Frau viel darüber geredet. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich öffentlich darüber mehr und mehr zu reden gelernt habe. Weil in vielen Kollegien, Arbeitskreisen und so weiter „dein Wert“ mit Dingen wie Überstunden oder nicht genommenen freien Tagen bemessen wurde.

Menschen zeigten einen gewissen Stolz, wenn sie erstaunt anerkannt wurden, weil sie jenseits ihres Limits arbeiteten oder dafür bewundert wurden, wie sie wieder einmal „unvorbereitet“ irgendwo spontan eine Predigt gehalten haben. Dass die Qualität oder der Mensch darunter litten, wurde erst einmal nicht gesehen. Ich habe es auch so erlebt: Oft und viele spontane Inputs, Arbeitskreise und Ähnliches. Und jeder, der sich versuchte, dagegen zu wehren, wurde oftmals milde belächelt oder als „nicht so belastbar“ abgestempelt. 

Ich habe als leidenschaftlicher Theologe, Liebender und Menschenfan begonnen. Ich hatte richtig Bock mit Jugendlichen „die Welt zu erobern“, große Events zu rocken und ganz nah am Leben dran zu sein. Ich wollte mit jungen Menschen Glaube für heute lebbar gestalten. Freier, weiter, ehrlicher, tiefer glauben. 

Die Jahre verstrichen und in mir wuchs das Verständnis dafür, dass das ganze System Kirche im Krankenbett liegt. Eine satte Parallele zu unserer Gesellschaft: Viele Systeme sind überlastet und am Ende und bräuchten eine grundlegende Reform. Und nicht die Haltung: „Wir wurschteln uns da irgendwie mal wieder durch“ und pfropfen gelegentlich halbherzig etwas Neues wie Social Media oder KI auf, bleiben aber eigentlich beim Alten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Systeme, die von außen irritiert werden, wie ein Wackelpudding sind, der angestoßen wird, kurz wackelt und dann wieder seine alte Form annimmt.

Viele unserer Systeme scheinen sowas wie einen kollektiven Burnout zu haben. Sie können nicht mehr. Sie sind überlastet, überfordert, ziellos. Sie haben eine Unwucht, eine Acht im Rad. Ich schreibe das, weil ich Kirche liebe, für sie und Heilung bin. Es scheint manchmal, als müsse Kirche wieder kleiner, verfügbarer werden – und das mit Glanz und Anmut, um für Menschen genießbarer zu werden. Ansonsten liegt das System irgendwann in Gänze auf der Palliativstation und wird von Hauptamtlichen auf den letzten Metern begleitet, gesalbt und beerdigt. 

Wenn ich daran denke, wie es mir in dem System geht und wie sich das System verhält, dann fühle ich etwas wie eine große Dissonanz – also zwei Töne, die nicht gut zusammenpassen und nach einer Auflösung und Erlösung suchen.

Wenn wir an oder im System arbeiten, fühlt es sich oft wie eine Dauerverkrampfung oder eine langwierige Verspannung an, aus der wir uns versuchen zu lösen. Manchmal denke ich, dass Kirche ihren Nullpunkt noch nicht erreicht hat. Die Probleme sind nicht neu. Schon lange sind Menschen über ihren Limits.

Neu ist, dass Menschen ihre eigenen Grenzen ernster nehmen und öffentlicher kommunizieren und dafür nicht mehr überall gecancelt werden. Mental Load und Work Load wird bei Vielschaffenden und Eltern ins Bewusstsein gerückt. Alles ändert sich immer schneller. Und so auch in Kirche.

Die KMU 6, die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, hat ergeben, dass Menschen sich noch schneller und vermehrt von Kirche abwenden. Die Systeme werden durch die Anforderungen immer überlasteter. Ich glaube, Ehren- und Hauptamt war schon immer eine Mische aus Leidenschaft, Berufung und Beruf.

Neu ist, dass das Haupt- und Ehrenamt als „Beruf“ so betont wird. Ich finde das sehr gut. Denn es ist nicht nur ein Lifestyle, sondern für viele einfach auch ein Job (egal, ob haupt- oder ehrenamtlich).

Eigene Grenzen (Mental Load und Work Load) werden gefunden und geachtet. Dinge wie Selfcare, Mental Health, Achtsamkeit, Retreats und Zeiten für sich selbst werden wichtiger und bestärkt. Das haben Generationen vor uns nicht und diese Generationen haben maßgeblich auch ein Berufsbild geprägt. Und nun muss es anders werden. Um der Menschen willen und um des Systems willen. Wir brauchen (neue) Systeme und Formen, die den Menschen konsequent dienen und niemals umgekehrt. Die Zeit ist vorbei, wo junge Menschen „das mit sich machen lassen“. Lieber verlassen sie die Strukturen.

Die Pandemie hat zu Vereinsamung und ungewollter Zielverschiebung geführt. Von heute auf morgen waren viele wie ich, die sonst sechs Tage im Reisedienst waren, auf einmal an den Bürostuhl gebunden. Durch weggefallene Reisezeiten war auf einmal (leider) mehr Zeit, um Dinge zu planen, organisieren und schreiben. Es hat die Überlastung beschleunigt. Aus leidenschaftlichen Haupt- und Ehrenamtlichen wurden „Home-Officer“.

Nach Covid-19 ist es größtenteils nicht gelungen, das neue System anzunehmen und zugleich das alte wieder aufleben zu lassen. Die Folge waren viele unrund laufende Hybridmodelle. Hauptamtliche wurden in Personalunion die eigene Geschäftsstelle, Eventmanager:innen, Sekretäre, Buchhalter:innen, Planer, Predigtschreiber, Netzwerker und Seelsorger. 

Da ich Teil des Systems bin, trage ich auch eine Teilverantwortung. Das ist so. 

Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam als „Licht in der Leistungsgesellschaft“ neue untoxische Sätze prägen und leben wie: „Du musst nicht funktionieren, du bist keine Maschine.“ oder „Wenn du die Aufgabe nicht leisten kannst, ist das ok. Du musst es nicht. Du musst nicht beweisen, dass es ok ist, dass es dich gibt.“

Ich wünsche mir, dass wir offen und ehrlicher über psychische Erkrankungen reden können, einander ernst nehmen und Leute nicht instrumentalisieren, um alte Systeme irgendwie am Leben zu halten. Ich wünsche mir, dass wir anerkennen, dass, nur weil man eine Krankheit nicht wie ein gebrochenes Bein sieht, sie trotzdem als Krankheit anerkannt und Menschen nicht mit Sätzen entgegentritt wie: „Zusammenreißen war keine Option?“ Oder: „Du bist anscheinend nicht so belastbar. Schade.“ 

Ich wünsche mir Visionäre für Menschen und nicht für Systeme. Ich wünsche mir, dass Ehren- und Hauptamtliche nicht (nur) als Werkzeuge Gottes, sondern vor allem und zuerst als Kinder Gottes gesehen und auch so behandelt werden.

Bei alldem brauchen wir gesunde Vorbilder, die wirklich Kulturen in Kreisen, Gruppen und Kirchen prägen. Ich glaube, dass sich diese Generation ein dickes Fell wachsen lassen muss, um Grundsatzdiskussionen auszuhalten und für die Next Generation von Haupt- und Ehrenamt ein gesundes Arbeitsfeld entstehen zu lassen. 

Ich wünsche mir, dass wir aus einer Art kollektiven Psychose erwachen und sagen: Ja, es stimmt wirklich etwas nicht, die Leute simulieren nicht. Deswegen müssen wir das jetzt anpacken. 

Von: Patrick Senner

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