Wie Leica-Chef Ernst Leitz Juden half

Der Chef des weltbekannten deutschen Kamera-Herstellers Leica, Ernst Leitz II, hat während der Nazi-Zeit vielen Juden geholfen, manchen sogar das Leben gerettet. Eine Doku beleuchtet die Hintergründe.
Von Jörn Schumacher
Rabbiner Frank Dabba Smith mit Leica

Die Arte-Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“, die am Himmelfahrtstag, 18. Mai, um 20.15 Uhr ausgestrahlt wird, wirft ein Licht auf das Engagement des Wetzlarer Unternehmers während der Zeit des Nationalsozialismus. Lange Zeit war nicht bekannt, was Ernst Leitz II (1871–1956) während des Nazi-Regimes tat.

Der Londoner Rabbiner Frank Dabba Smith, selbst Fotograf und Leica-Enthusiast, recherchierte dazu, und seine Arbeit ist die Grundlage für den Film. Das Unternehmen Leica ist in der ganzen Welt berühmt; die vom Mitarbeiter Oskar Barnack entwickelte Kleinbildkamera mit Wechselobjektiven war ab 1925 eine Sensation. Vorbei war die Zeit der klobigen Plattenkameras, die Leica veränderte die Fotografie und die Pressearbeit.

Schon 2002 veröffentlichte der gebürtige Amerikaner Smith einen ersten Artikel mit dem Titel „Ernst Leitz of Wetzlar and Altruism during the Holocaust“. Bald machten Gerüchte vom „Leica-Schindler“ (Stern) die Runde, Zeitungen titelten mit „Der gute Mensch von Wetzlar“ (Die Welt), „Vater Courage“ (Frankfurter Rundschau) oder „Leitz’ Liste“ (Süddeutsche Zeitung).

Anlass war damals die posthume Auszeichnung der amerikanischen Anti Defamation League (ADL) an Ernst Leitz im Jahr 2007. Damit trat der Leica-Chef tatsächlich in eine Reihe mit Menschen wie Oskar Schindler.

Der Film spürt etwa der Geschichte der jüdischen Familie Ehrenfeld nach, die in den 1930er Jahren auf der Frankfurter Einkaufsstraße „Zeil“ Leicas verkaufte. Ernst Leitz übernahm das Inventar des Geschäftes und stattete die Familie im Gegenzug mit Leica-Kameras aus, so dass sie in die Vereinigten Staaten auswandern und dort einen neuen Laden eröffnen konnten. Für Ehrenfelds Sohn Kurt schrieb Leitz ein Empfehlungsschreiben aus, sodass er im größten Londoner Foto-Geschäft anfangen konnte; seinen Bruder Paul stellte Leitz in Wetzlar ein.

Diese und andere Geschichten erzählt die Dokumentation nach, auch wenn sie das in 45 Minuten leider nur ansatzweise schafft.

Verhältnis zu Nazis ein „Drahtseilakt“

Ein zweiter Schindler war Leitz nicht, und Leica beschäftigte bis zu 800 Zwangsarbeiter. Aber weder der Protagonist des Films, der fotoverrückte Rabbi Smith, noch der Regisseur Claus Bredenbrock behaupten Gegenteiliges.

Doch nach neuester Forschung half Leitz 78 Personen wertvolle Hilfe oder hat ihr Leben gerettet hat. Davon waren 59 Juden oder „Halbjuden“. Der Firmenchef stellte bewusst Juden ein, um sie auf Posten im Ausland zu setzen, oder in denen er sie anderweitig unterstützte. Die Akten zeigen, dass die Nazis diesen verhassten überzeugten Demokraten spätestens nach dem Krieg enteignen wollten.

Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Leica Optik für die Armee gefertigt, Zielfernrohre, Marinegläser, U-Boot-Periskope. Auch in den 1930er Jahren besaß das Unternehmen Experten für die Produktion von kriegsrelevanter Technik, die es sonst nirgendwo gab. Zudem war Leitz ein wichtiger deutscher Exporteur, der ausländische Devisen ins Land brachte.

„Mein Urgroßvater konnte sich nicht dagegen verwehren, dass die Produktion seines Werkes irgendwann ausschließlich militärisch ausgerichtet war“, sagt Dr. Oliver Nass, Urenkel von Ernst Leitz II und Vorsitzender der Ernst-Leitz-Stiftung. Auch dass bei großen Firmenereignissen die Nazi-Symbole in der Firma aufgehängt werden mussten, konnte Leitz nicht verhindern.

So sei das Verhältnis zwischen Leitz und den Nazis für beide Seiten immer ein „Drahtseilakt“ gewesen, sagt Rabbi Smith. Einen Beitritt in die NSDAP konnte Leitz lange hinauszögern, im Jahr 1941 trat er dann doch bei, um Schlimmeres für die Firma zu verhindern.

„Ernst Leitz war Christ“

Mindestens ebenso interessant ist die Lebensgeschichte der Leitz-Tochter Elsie Kühn-Leitz. Sie besuchte fast täglich die Zwangsarbeiterinnen, brachte ihnen Essen und Medikamente. Die Nazis beschwerten sich irgendwann, dass die Familie Leitz „zu nett“ mit den Arbeiterinnen umging. Woanders wurden Zwangsarbeiter bewusst schlecht behandelt.

Elsie Kühn-Leitz verhalf zudem der Halbjüdin Hedwig Palm zur Flucht in die Schweiz. Der Plan flog auf, Palm wurde im KZ Ravensbrück umgebracht. Im Gestapo-Verhör sagte Elsie Kühn-Leitz den Beamten: „Ich habe vielleicht gegen eines ihrer Gesetze verstoßen, aber nicht gegen das göttliche Gesetz, nach dem alle Menschen, ob Juden, Christen oder Heiden, gleich sind.“

Daraufhin kam sie ins Gefängnis, nur wegen eines hohen Lösegeldes des Vaters kam sie nach acht Wochen frei. Um das spannende Leben dieser Frau nachzuerzählen, plant derzeit eine deutsche Produktionsfirma einen Spielfilm über Elsie Kühn-Leitz und ihren Kampf gegen das Nazi-Regime.

In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte Rabbi Smith 2008: „Ernst Leitz war Christ, christliche Werte waren ihm wichtig. Und er war zutiefst davon überzeugt, dass es besser sei, gute Dinge zu tun, als darüber zu sprechen. Sage wenig und tue viel. Das war sein Motto. Das war sein Charakter.“

Eine Orgel für zwei Konfessionen

Auf Nachfrage von PRO gab der Rabbiner zu, sehr viel habe er über den Glauben von Ernst Leitz oder seiner Tochter Elsie nicht in Erfahrung bringen können. Doch seien Hinweise auf einen tiefen Glauben hier und da auffällig.

Ernst Leitz spendete etwa nach dem Zweiten Weltkrieg das Geld für eine neue Orgel im Wetzlarer Dom, unter der Bedingung, dass sowohl die katholische als auch die evangelische Gemeinde sie nutzen. Denn im Wetzlarer Dom sind beide Konfessionen zu Hause. Bis er während eines Bombenangriffs schwer beschädigt wurde, gab es auch zwei Orgeln darin.

Der Rabbiner fügt hinzu: „Es gibt zudem ein großes Kreuz, das immer im Haus der Familie Leitz, dem ‚Haus Friedwart‘ in Wetzlar, hing. Die Skulptur ist von Ernst Barlach, einem Bildhauer, der bei den Nazis als ‚entartet‘ galt.“ Smith ergänzt: „Das Kruzifix wurde von der Familie vor den Nazis viele Jahre versteckt.“

Als der damals 70-jährige Leitz-Enkel Knut Kühn-Leitz vor einigen Jahren mit den Heldentaten seines Opas konfrontiert wurde, wusste nicht einmal der etwas davon. Seine Erklärung: „Das Credo der Familie war: ‚Tu Gutes, aber rede nicht darüber.‘“ Rabbi Smith vermutet: „Ernst Leitz wollte wohl einfach kein Held werden.“

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