PRO: Im Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Wie haben Sie den Beginn dieses Krieges erlebt, der bis heute andauert?
Eugen: Es war sieben Uhr, als wir aufwachten. 24. Februar. Meine Mutter rief an und sagte: „Der Krieg hat begonnen.“ Zu diesem Zeitpunkt lebten wir direkt in Kiew. Es war unfassbar. Am Vortag hatten wir noch darüber gesprochen, dass mit Sicherheit kein Krieg ausbrechen wird, dass alles nur Provokation sei. Doch diesmal sollten wir uns irren.
Was kam danach?
Eugen: Mein Vater forderte uns auf, gemeinsam mit ihm und meiner Mutter die Stadt zu verlassen – in die ländlichen Gebiete. Unsere feste Überzeugung war: Kiew ist das Hauptziel der Russen. Es war klar: Die Hauptstadt ist jetzt gerade der unsicherste Ort. Hier werden die meisten Raketen einschlagen. Also zögerten wir nicht lange und flohen gemeinsam mit meinen Eltern in deren Landhaus in der Region Wyshhorod.
Das heißt, Sie sind nach Norden geflohen – direkt in die Arme der russischen Armee?
Eugen: Ja, leider. Russland hat versucht, über Belarus nach Kiew vorzustoßen. Wir sind genau in dieses Gebiet geflohen.
Wie ging es für Sie weiter, nachdem Sie in dem Landhaus angekommen sind?
Lisa: Es war komplettes Chaos. Einen Tag, nachdem wir das Landhaus von Eugenes Eltern erreicht hatten, brach die gesamte Stromversorgung zusammen. Der einzige Zugang zu Nachrichten, den wir besaßen, war ein kleines Autoradio, das wir ab und zu anschalten konnten. Außerdem gab es kein Essen. Ein Dorfladen in unserer Nachbarschaft öffnete seine Türen, damit die Bevölkerung sich nehmen konnte, was sie brauchte. Die Menschen kamen und nahmen so viel, wie ihre Hände tragen konnten.
Was trugen Ihre Hände?
Lisa: Cookies, Unmengen an Cookies. Man kann sich kaum vorstellen, wie viele Cookies wir in dieser Zeit gegessen haben.
Eugen: Es gab auch eine lustige Geschichte, die uns heute noch an die Versorgung Gottes erinnert. Wir Männer waren auf der Suche nach Essen. Wir suchten gerade einen Einkaufsladen mit der Handy-Taschenlampe nach essbaren Dingen ab. Plötzlich stieß mein Fuß gegen etwas Hartes. Im Schein der Taschenlampe erkannte ich schemenhaft etwas Rundes, was wie ein Rad aussah. Erst als ich näher kam, konnte ich erkennen, was es war: ein großer Laib Blauschimmelkäse – bestimmt 2,5 Kilogramm. Zur Erklärung: Blauschimmelkäse ist bei uns sehr teuer und nur für wohlhabende Menschen erschwinglich zu kaufen. Doch fortan, in all dem Schrecken, waren wir stolze Besitzer eines solchen Käses.
Lisa: Wir sagen immer, es war unser Lichtschein in all der Finsternis. Wenn wir in unserem Haus saßen, Kaffee tranken und etwas von dem Käse aßen – das waren besondere Momente.
„Ich habe aufgehört, die Bibel zu lesen.“
In Butscha wurden 458 Leichen gefunden, von denen 419 Anzeichen dafür trugen, dass die Opfer erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren. Die meisten der Leichen waren Zivilisten. Wie weit waren Sie von diesen Schreckenstaten entfernt?
Lisa: Es war sehr nahe. Uns trennten circa zehn Kilometer Luftlinie. Nachts sahen wir die Städte brennen – und die Raketenangriffe. Es war wirklich schlimm, das zu sehen. Auch der Gedanke, dass ein paar Kilometer von uns gerade die Hölle auf Erden ist, war schwer zu ertragen. Über das Autoradio konnten wir ab und zu hören, was vor sich ging. Es war schrecklich.
Wurde Ihnen auch Gewalt angetan, und hatten Sie in dieser Zeit Angst, dass Ihnen das Gleiche widerfährt?
Eugen: Gott sei Dank, blieben wir vor physischer Gewalt bewahrt. Momente der Angst gab es. Ich erinnere mich, dass an manchen Tage sehr viele russische Panzer, Artillerie und Militärfahrzeuge durch unser Dorf gerasselt sind. Sie sind alle nach Irpin weitergezogen und verschonten uns. Doch diese Momente bedeuteten sehr viel Stress. Auch als zwei russische Helikopter direkt über unserem Haus kreisten. In den meisten Momenten durften wir allerdings Gottes Frieden erleben. Besonders das Buch der Psalmen hat mir sehr geholfen. Es hat mich immer wieder mit dem Frieden Gottes erfüllt. Wir ermutigten uns außerdem immer gegenseitig. Besonders für meine ungläubigen Eltern war es eine gute Möglichkeit, von Jesus Christus zu erfahren.
Lisa, wie war es für Sie? Hatten Sie Angst, und wie sah Ihre Beziehung zu Gott in dieser Zeit aus?
Lisa: Ich habe aufgehört, die Bibel zu lesen. Es war sehr schwer für mich, weil ich nicht verstehen konnte, wie uns Gott dazu auffordern kann, diejenigen zu lieben, die dir wehtun – die dich hassen. Ein Moment ließ mich vor Angst erstarren: als ich realisierte, dass ich jeden Augenblick von russischen Soldaten vergewaltigt werden und rein gar nichts dagegen tun könnte. Ich – eine schwache Person, ein Mädchen, eine Frau, ohne Möglichkeiten, sich zu verteidigen – ich wäre den Soldaten ausgeliefert gewesen. Sie waren Männer, hatten Waffen, Macht, körperliche Stärke und Autorität. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, alles mit mir zu machen. Diese Bilder, diese schrecklichen, albtraumartigen hypothetischen Szenen in meinem Kopf waren sehr schwer zu ertragen.
Wann und wie kam es, dass Sie trotzdem wieder begannen, die Bibel zu lesen?
Lisa: Das war, nachdem wir aus der Besatzung geflohen sind. Irgendwann durfte ich verstehen, dass es nicht hilft, vor Gott wegzulaufen, sondern dass ich mit all meinen Fragen zu ihm rennen muss. Das war der erste Schritt. Ein zweiter Schritt war ein Gespräch mit einer Frau aus meiner Gemeinde, als wir bereits wieder in Kyiv waren. Sie erzählte mir, dass „meine Feinde lieben“ nicht bedeutet, dass ich meine Augen vor dem Leid verschließen muss, sondern dass es manchmal bedeutet, die Sünde beim Namen zu nennen. Das Verbrechen und die Bosheit nicht zu vertuschen, sondern offen zu bezeugen, was getan wird. Das war für mich eine große Befreiung.
Sie erzählten auch von Eugens Eltern. Wie erlebten sie die Zeit?
Eugen: Sie durften ebenfalls Gottes Führung erleben. Lisa und ich haben uns nach drei Wochen des Ausharrens und Wartens entschieden, unsere Eltern zu verlassen. Unsere Essensvorräte neigten sich dem Ende, und die grausamen Berichte über Butscha, über das Verschwinden und Entführen von ukrainischen Zivilisten, häuften sich. Wir überlegten auch, wie unsere Familie die beste Zukunftsperspektive hat. Also entschieden wir uns, dass Lisa und ich den nicht ungefährlichen Fluchtversuch über einen der grünen Korridore wagen. Das ist ein mutmaßlich sicherer Bereich, über den die Flucht aus umkämpften Gebieten versucht wird zu gewährleisten. Nachdem wir meine Eltern zurückließen, berichteten mein Vater und meine Mutter, dass sie in den darauffolgenden Wochen mehrere Male wundersame Bewahrung erlebten. Einmal kamen russische Soldaten in ihr Haus und verließen es wieder, ohne ihnen etwas anzutun. Auch wurden die Gebäude um sie herum von Raketen zerstört, nur ihr Haus wurde verschont. Als wir sie nach zwei weiteren Monaten endlich wieder – Gott sei Dank gesund – in unsere Arme schließen durften, berichteten sie von all diesen Zeugnissen.
Wie sah Ihre Flucht aus?
Lisa: Wir beschlossen, ein paar Sachen zusammenzupacken und mit dem Auto Richtung Kiew zu fahren. Auf dem Weg sahen wir schreckliche Dinge. Blut auf den Straßen. Zerschossene Autos. Menschen, die auch auf der Flucht waren und es nicht schafften. Doch wir durften, ohne eine einzige Schramme, aus den besetzten Gebieten fliehen.
„Mein dringlicher Appell: Bereitet euch vor.“
Welche Rolle spielte Gott in dem Ganzen?
Eugen: Er spielte die Hauptrolle. Er hielt jeden Tag aufs Neue seine schützende Hand über uns. Es war auch eine Zeit, die von sehr intensiven Gebeten geprägt war. Du betest anders, wenn du unter Stress bist und der Tod vor deiner Tür steht. Im Nachhinein stellten wir fest: Gott war jeden einzelnen Tag bei uns.
Was würden Sie den Menschen in Deutschland gern mitteilen?
Lisa: Es ist sehr wichtig, dass Menschen, die in solch schrecklichen Situationen verletzt werden und tiefe seelische Schmerzen entwickeln, einfach gehört und akzeptiert werden. Und ich wünsche mir, dass Menschen die Realität wahrnehmen und akzeptieren, die wir tagtäglich erleben. Es ist sehr wichtig, dass es Menschen gibt, die zuhören wollen. Sie können nichts tun, das ist mir bewusst, aber sie können zuhören und Nähe spenden, Schulter an Schulter bei mir sein und diesen Schmerz teilen. Das ist eine unglaubliche Sache, die sehr hilft, unter solchen Umständen zu überleben. Das gilt nicht nur für den Krieg, sondern im Allgemeinen: Wenn du verletzt bist, willst du, dass jemand zuhört. Nur um präsent zu sein und zu zeigen: Ich bin bei dir.
Eugen, möchten Sie auch etwas teilen?
Eugen: Meine Botschaft ist, abgesehen vom Evangelium, das jeder unbedingt annehmen sollte, sich auf den Krieg gegen Russland vorzubereiten. Es ist ein sehr reales Szenario, in dem Europa und Deutschland für ihre Freiheit kämpfen werden müssen. Wir haben auch nicht geglaubt, dass Krieg möglich ist. Wir hatten kaum Vorkehrungen getroffen, und das war ein Fehler. Wir hatten keine Waffen, wir hatten keine Lebensmittelvorräte, Ladegeräte, Infrastruktur und so viele andere wichtige Dinge. Deswegen ist mein dringlicher Appell: Bereitet euch vor.
Vielen Dank für das Gespräch!
Eugen und Lisa leben heute wieder in Kiew und gehen ihren zivilen Berufen nach. Er arbeitet bei einem IT-Unternehmen, sie bei einer christlichen Organisation. Mittlerweile haben sie ein Kind bekommen. Eugen müsste sich zum Kriegsdienst melden, vermeidet das aber und hofft, dass er nicht kontrolliert wird. Die Angriffe sind für sie zu einer Art Normalität geworden. Die einzige Entscheidung die sie immer wieder treffen müssen, ist, ob sie bei Luftangriffen in die Bunker gehen oder nicht. Meistens nicht. Bei einem direkten Treffer ist die Aussicht auf Überleben gleich null. Dieses Risiko gehen sie ein. Für den Fall, dass Stockwerke über ihnen getroffen werden, haben sie einen vorbereiten Rucksack mit Bargeld, Powerbank, Essen und anderen wichtigen Dingen, damit sie möglichst schnell das Gebäude verlassen können. Ihre Grundhaltung ist: Gott hat uns in diese Stadt gestellt, wir müssen unseren Alltag dementsprechend bewältigen. Wenn Gott uns morgen aus der Welt ruft, dann sind wir bereit zu sterben. Die Frage, die sie dabei umtreibt: Werden sie der Verantwortung für ihren Sohn Tima gerecht?