In seinem Buch „Feindesliebe“ setzt sich der Psychoanalytiker und Autor Wolfgang Schmidbauer mit der Frage auseinander, wie wir mit Hass, Spaltung und moralischer Selbstgerechtigkeit umgehen können – und welche Rolle dabei Jesu Gebot spielt, seine Feinde zu lieben. Schon zu Beginn macht der Autor deutlich, dass es ihm um einen bewussten Umgang mit Feindbildern geht.
In den ersten Kapiteln bezeichnet Schmidbauer die Bergpredigt als Übergang von einem „stammesbezogenen“ Denken hin zu einer Ethik, die alle Menschen einbezieht, auch jene, die uns fremd oder feindlich gesinnt sind: „Nicht nur Nahestehenden, die meine Sprache sprechen, auch Fremden, die Gefahren bringen, sollen wir im Geist der Liebe entgegentreten“, schreibt Schmidbauer. Gleichzeitig kritisiert er die heutige Debattenkultur, in der oft nur eine Sichtweise als legitim gilt: „Es soll nur in eine Richtung gedacht werden.“
Versöhnung beginnt mit Verständnis füreinander
Ein zentrales Anliegen des Autors ist es, die psychologischen Muster hinter der Feindseligkeit zu entschlüsseln. Wie entstehen Projektionen? Wie kommt es, dass wir andere vorschnell verurteilen? „Die Weisheit der Feindesliebe liegt darin, Hassprojektionen zurückzunehmen“, schreibt Schmidbauer. Er sieht darin eine Form der inneren Reife. Wer dazu bereit ist, öffnet sich für ein Denken, das nicht auf Schuldzuweisung, sondern auf Verständnis zielt. Damit ist für ihn echte Versöhnung überhaupt erst möglich.
Schmidbauer bezieht auch aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen mit ein. Er betrachtet beispielsweise die Diskussionen rund um den Ukrainekrieg und den Nahostkonflikt. Er plädiert für ein verantwortungsbewusstes Urteilen, das differenziert bleibt und nicht vorschnell in Schubladen denkt. Deeskalation und Verhandlungen würden allzu schnell als Schwäche missverstanden, schreibt er. Deutlich wird Schmidbauer auch in seiner Kritik an einem bestimmten Moralverständnis, das sich, losgelöst vom Rechtsstaat, öffentlich über andere erhebt. In diesem Zusammenhang spricht er von einer „vampirischen Form von Gerechtigkeit“, die eher richtet als heilt.
Besonders eindrücklich sind die Passagen, in denen Schmidbauer aus seiner therapeutischen Arbeit berichtet. Er schildert zum Beispiel, wie eine Patientin in einer depressiven Lebensphase begann, im Alltag bewusst auf zwischenmenschliche Freundlichkeit zu achten und dabei feststellte, dass diese häufiger vorkommt, als vermutet. Oder er beschreibt, wie durch Mediation in Familien ein neuer Umgang möglich wurde, der nicht vom Durchsetzen des eigenen Rechts geprägt war, sondern vom Wunsch, „das Leben gemeinsam zu genießen.“

Wolfgang Schmidbauer: „Feindesliebe“, Bonifatius, 158 Seiten, 18 Euro
Verzicht auf Hass als innere Befreiung
Auch wenn Schmidbauer nicht ausdrücklich über Gott und Religion redet, hat sein Buch eine spirituelle Grundhaltung. Sein Nachdenken über Mitgefühl, Schuld, Versöhnung und Verantwortung bewegt sich in einem Raum, den gläubige Leser als tief christlich empfinden dürften. An einer Stelle heißt es: „Unzweifelhaft wäre die Feindesliebe das Vernünftigste: möglichst wenig Schaden, möglichst viel Respekt vor Menschenleben.“ Dieses Zitat bringt auf den Punkt, worauf Schmidbauer hinauswill: eine Haltung, die nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke heraus auf Hass verzichtet. So, wie es Jesus vorgemacht hat.
„Feindesliebe“ ist ein anspruchsvolles Buch, das sich nicht leicht nebenbei lesen lässt. Doch es lohnt sich. Es regt dazu an, das eigene Denken zu überprüfen und zu entdecken, wie befreiend es sein kann, wenn man nicht länger in Kategorien von Freund und Feind verharrt. Wolfgang Schmidbauer zeigt, dass Feindesliebe keine weltfremde Vision sein muss, sondern eine Haltung, die unsere Welt menschlicher macht.