Rezension

Wie das Christentum zur Weltmacht wurde

Weltliche und kirchliche Macht weiteten sich parallel zueinander aus. Und meistens konnte die eine nicht ohne die andere. Ein interessantes Buch des Geschichtsprofessors Martin Kaufhold klärt über die Christenheit im Mittelalter auf.
Von Jörn Schumacher
Buchcover „Die abendländische Christenheit im Mittelalter“

Wie kam es eigentlich dazu, dass aus den Christen eine Kirche, und aus der Kirche eine weltweite Macht wurde? Der Professor für Mittelalterliche Geschichte und die frühe Zeit der heutigen Weltreligion in Europa an der Universität Augsburg, Martin Kaufhold, hat mit „Die abendländische Christenheit im Mittelalter“ ein aufklärendes Buch über die Verwicklung von kirchlicher und weltlicher Macht vorgelegt, das auch für Laien gut verständlich ist.

Manches an dieser Geschichte mutet absurd-komisch an. Da ist beispielsweise eine Kirche, die es verbot, zu Hause eine Bibel zu besitzen. Da sind die brutalen Versuche, die Germanen mit Androhung der Todesstrafe zur Taufe zu bewegen. Und da sind weise, alte Männer, die sich in die Einsamkeit zurückziehen, in völliger Armut leben und genau damit eine einflussreiche weltweite Bewegung starten.

Natürlich sind da auch die Kreuzzüge und der Antijudaismus, die das Mittelalter bestimmen. Diese Themen spricht Kaufhold auch an, aber nur marginal. Zu viele andere Themen greift er auf, da bleibt nicht viel Platz, um auf alles detaillierter einzugehen. So liest sich dieser Überblick über die 1.000 Jahre der europäischen Geschichte, die immer noch manche Zeitgenossen als „finster“ bezeichnen wollen (immerhin 432 Seiten dick) sehr gut. Sein Ziel, eine „lebendige Geschichte der mittelalterlichen Christenheit“ zu schreiben, hat Kaufhold erreicht.

Christliches Europa durch Chlodwig

Für gläubige Christen mutet es manchmal erschreckend an – kam es doch bereits sehr früh den Oberhäuptern der Kirche vor allem auf Machtausübung an. Die Bibel gab es fast nur auf Latein. Die Zahl der Menschen, die lesen konnten, war außerhalb der Klöster und der Höfe verschwindend gering. So war im Mittelalter das, was heutzutage unter Christen selbstverständlich erscheint – die Bibellektüre – quasi unbekannt. Glaube war das, was der Dorfpfarrer, der Bischof, der Papst lehrten. Und selbst das Latein war nicht bei allen Geistlichen sicher. Bonifatius berichtet aus Frankreich von Taufen, bei denen Kinder im Namen des Vaterlandes und der Tochter getauft wurden („patria et filia“).

Als 476 der letzte Kaiser in Rom abdankte, übernahm schon bald danach der Frankenkönig Chlodwig den Führungsanspruch. Die Machtzentren verlagerten sich vom Süden Europas weiter in den Norden. Sowohl Chlodwig als auch seine Nachkommen, die Merowinger und die Karolinger, förderten das Christentum. „Eine Zeit, die für Historiker dunkel ist, war für die Zeitgenossen nicht unbedingt eine finstere Zeit“, stellt Kaufhold fest. „Die Kultur der Römer lebte noch Jahrhunderte fort, und die Männer der Kirche betrachteten sich als ihre Erben.“

Kaufhold erklärt etwa den Arianismus (dem die meisten Christen unter den germanischen Völkern anhingen), demzufolge Jesus keine göttliche Natur zukommt. Wir lesen von den vielen Schafen und Ziegen, die geschlachtet wurden und aus deren Haut das Pergament gemacht wurde, auf denen die Kirche ihre Anweisungen und Ermahnungen ins Land sandten. Wir lernen, wie mühsam das Reisen damals war, was die Menschen (vor allem die Geistlichen) nicht davon abhielt, auf dem Kontinent dennoch viel zu reisen (eine Tagesreise reichte ungefähr 40 Kilometer). Oft wird davon berichtet, dass ein Kirchenmann auf seinen Reisen Untieren begegnete. Dann war das Schema sehr häufig gleich: Der Heilige befahl dem Bären, sich einen anderen Platz auszusuchen, und daraufhin verschwand der Bär oder der Wolf.

Normannen im Taufhemd und christliche Superhelden

Da ist der Bericht von Amandus, einem Mönch, der „in der Hoffnung auf Bekehrungen oder auf das Martyrium“ sein Leben lang durch das Frankenland zog. Ohne Erfolg. Das heutige Zelebrieren des „St. Patrick‘s Day“ in England und Amerika mit Partys und grün gefärbten Flüssen mutet erst recht skurril an, wenn man vom echten Heiligen Patrick liest, einer Art heiligem Superhelden mit Zauberkräften. Kaufhold vergleicht ihn mit Harry Potter. Ludwig der Fromme bekam seinen Beinamen, weil es an seinem Hof besonders viele Taufen gab.

Einmal sollten 50 Germanen getauft werden. Es mangelte allerdings an Taufhemden, deshalb musste man sich mit einfachen Hemden behelfen. „Daraufhin sei seiner der Täuflinge sehr ärgerlich geworden“, so Kaufhold. „Zwanzigmal sei er hier schon gewaschen worden, aber noch nie habe man ihm dabei ein so ärmliches Gewand gegeben. Das sei ein Gewand für einen Schweinehirten.“ Der Normanne sah in der Taufe eine jährliche Auszeichnung mit Geschenk. Offenbar hatte ihm niemand die Bedeutung der Taufe erklärt.

Wir erfahren etwas über die ersten zaghaften (wenn man dieses Wort in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden darf) Versuche von Kreuzzügen ins Heilige Land. Und über Bischof Isleif aus Island, der nach Rom reiste und dabei als Geschenk einen Eisbären mitnahm.

Wir lesen von glaubensstarken Männern, die das Evangelium von Christus predigten. „Einer der scharfsinnigsten Denker seiner Zeit“ sei Anselm von Canterbury gewesen, so Kaufhold. Sein Hauptwerk: „Warum Gott Mensch geworden ist“, seine Predigt: Die Passion Jesu war das Sühneopfer, das die Menschen aufgrund ihrer Sündhaftigkeit Gott schulden. Benedikt von Nursia ließ das lasterhafte Treiben in Rom hinter sich und lebte in einer Höhle. Eines Tages überkam ihn ein starkes Gefühl der Wolllust, er wälzte sich deshalb in Brennnessel-Sträucher, danach sei er nie wider in Versuchung geraten.

Der Kaufmann Petrus Waldes aus Lyon sah sich nach einer religiösen Erfahrung zu einem Leben als Wanderprediger berufen. Für den Klerus ein Grund zur Sorge. Ein Laie, der das Wort Gottes predigte – das durfte nicht sein. Aus Waldes gingen die „Waldenser“ hervor, die von Rom als Häretiker verfolgt wurden, und von denen es noch heute Kirchengemeinden gib. Franziskus baute in Andenken an den in Armut geborenen Jesus dessen Geburtskrippe nach – ein Weihnachtsbrauch, der sich bis heute gehalten hat.

Oft sprachen sich Christen gegenseitig das Christsein ab. Skurril: Eine Synode von Toulouse 1229 verbot es Laien, Bücher des Neues oder des Alten Testamentes zu besitzen! Wie ein roter Faden zieht sich durch die Geschichte der Kirche: Es ging meistens nicht um den Glauben, es ging um Macht. Gleichzeitig entwickelte sich aber auch immer wieder ein freies, tiefgründiges Christentum. Der „religiöse Aufbruch am Beginn des hohen Mittelalters“ habe schließlich zu einem „umfassenden theologischen Nachdenken“ geführt, so Kaufhold.

Kaufhold ist ein gut lesbares Buch über die Zeit zwischen dem 5. und dem 15. Jahrhundert gelungen, das er manchmal mit einem Augenzwinkern geschrieben zu haben scheint. Es öffnet dem Leser unter anderem die Augen dafür, dass ein christliches Europa, in dem wir heute leben, gar nicht so selbstverständlich ist.

Martin Kaufhold: „Die abendländische Christenheit im Mittelalter“, Herder 2025, 432 Seiten, 38 Euro, ISBN: 978-3-451-02977-6

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