Die Zuschauerplätze vor der ARD/ZDF-Medienbühne sind nicht nur gut gefüllt, als Assia Gorban und Petra Michalski am Dienstagmittag dort auftreten. Hunderte sind gekommen, um die Geschichten der beiden Frauen zu hören, so viele, dass sie Audioübertragung via Kopfhörer streikt und so mancher Besucher auf den Videostream verwiesen werden muss.
Erinnerungskultur lebt, könnte man daraus schließen, denn Gorban hat den Holocaust miterlebt, genauso wie Michalskis vor zwei Jahren verstorbener Ehemann. Die beiden Frauen sind auf die Netzkonferenz „Republica“ gekommen, um die Erinnerung an die Naziverbrechen wach zu halten. Offensichtlich findet das reges Interesse.
Und das in einer Zeit, in der einerseits Teile der AfD eine erinnerungspolitische „180-Grad-Wende“ fordern, wie etwa Björn Höcke. Und andererseits nicht nur Experten sich fragen: Was wird eigentlich aus dem Holocaust-Gedenken, wenn immer mehr Zeitzeugen sterben? Was, wenn niemand mehr übrig ist, um davon zu berichten?
Holocaustgedenken oder „Reinheitserzählungen“?
Susanne Siegert ist einer jener Menschen, die sich Sorgen um das Gedenken machen. Deshalb postet sie auf TikTok und Instagram unter dem Namen „keine.erinnerungskultur“ Videos und Recherchen über die Naziverbrechen. Zum einen, um Menschen damit auch digital zu erreichen. Zum anderen, weil sie Dinge anders machen will, als die althergebrachten Medien es oft tun.
Ihre Kritik, die sie auch auf der „Republica“ äußert, ist deutlich: Die Medien seien dominiert von sogenannten „Reinheitserzählungen“. Die Berichterstattung konzentriere sich auf Schreckensfiguren wie Hitler oder Josef Mengele, klammere aber die Schuld, die in der deutschen Gesellschaft so ziemlich in jeder Familie zu finden sei, aus. Siegerts Credo lautet: Beschäftigt euch mit eurer eigenen Familiengeschichte, mit den Schreckensorten in eurer Nähe. Und sie weiß aus eigenen Recherchen: Der Schrecken liegt meistens viel näher, als man annimmt.
Auch an anderer Stelle sieht sie die gängigen Erzählungen kritisch. Helden, so erklärt sie, habe es nicht nur in Personen wie Sophie Scholl oder Graf Stauffenberg gegeben. Nicht jeder, der Juden geholfen habe, sei deshalb umgebracht worden. Viele Menschen hätten „viele kleine Entscheidungen getroffen“, die das Leben etwa ihrer jüdischen Nachbarn positiv beeinflusst hätten. Juden, Sinti und Roma oder Homosexuelle seien außerdem nicht einfach nur Opfer gewesen, sondern auch Widerständler. Auch das gehöre gezeigt. Das geschehe aber zu selten. Die Erinnerungskultur, so sagt sie, dürfe nicht mit Margot Friedländer enden: „Wir haben es in der Hand, sie zu gestalten.“ Auch in digitalen Medien.
Ganz analog erzählt hingegen Assia Gorban von dem Schrecklichen, das sie erlebt hat. 1942 kam sie in ein ukrainisches jüdisches Ghetto, lebte dort ohne Dach über dem Kopf, ohne ausreichend Essen. Die Mutter, so berichtet sie, schlich sich verhüllt unter dem Zaun hindurch und besorgte Lebensmittel, damit die Kinder überleben konnten. „Das Leben war sehr schwer“, sagt sie und man fühlt jedes ihrer Worte. Auch diese: „Meine Mutter war eine Heldin.“

Petra Michalski erzählt von dem, was ihr Mann Franz hinterlassen hat. Als 16-Jährige lernte sie ihn kennen, da hatte er die Schrecken des Holocaust schon hinter sich. „Es war eine große Selbstverständlichkeit, dass wir immer darüber gesprochen haben“, sagt sie. Ihr Mann flüchtete als Kind mit seiner Familie, als die Lage in Deutschland zu gefährlich wurde. Nur dank vieler Helfer kamen sie in Österreich an, lebten auf dem Anwesen einer Unternehmerfamilie, Zeugen Jehovas, die sich gegen den Nationalsozialismus stellten. Ihre Botschaft: Jeder kann etwas tun, wenn andere in Gefahr sind.
Und so ist es wohl beides, was eine moderne Erinnerungskultur ausmacht: Die Geschichten, weitergetragen durch Zeitzeugen und durch deren Hinterbliebene. Und auch die Recherchen und ungewöhnlichen Geschichten auf Social Media. Auf beides ist kaum zu verzichten, zeigt die „Republica“.