„Westberlin war 100 Meter weg – aber ein ferner Planet“

Der christliche Bestseller-Autor Titus Müller ist 1977 in der DDR geboren und in Ostberlin aufgewachsen. In seinem jüngsten Roman „Die fremde Spionin“ erzählt er die Geschichte einer geteilten Stadt. Gegenüber PRO berichtet er von seinen Recherchen, eigenen Erinnerungen an die Teilung und der Faszination historischer Romane.
Von Johannes Blöcher-Weil

PRO: Herr Müller, wo erreichen wir Sie gerade?

Titus Müller: Ich bin nach einer Lesung im Zug von Berlin nach München unterwegs. Zur Zeit meines Romans „Die fremde Spionin“, der 1961 spielt, wäre er als Interzonenzug an der Grenze in Probstzella gestoppt worden: an einem gespenstisch leeren, hell erleuchteten Bahnsteig mit bewaffneten Wachposten. Die Staatssicherheit wäre kontrollierend durch die Abteile gekommen. Mich hätte man herausgezerrt.

Wann haben Sie zum ersten Mal Deutschlands Teilung bewusst wahrgenommen?

Vermutlich war das beim Besuch unserer Tante aus dem Westen oder als wir Westpakete geöffnet und den Duft von Kaffee und Schokolade gerochen haben. Mit zehn Jahren bin ich mit meiner Familie nach Ostberlin gezogen und habe zum ersten Mal die Mauer gesehen. Es war ein eigenartiges Gefühl, zu wissen, dass die Gebäude hinter der Mauer für uns unerreichbar sind. Westberlin war wie ein ferner Planet, obwohl nur hundert Meter entfernt. Die Grenzsoldaten standen mit ihren Gewehren bereit. Es war für mich als Kind erschreckend, dass sie mich abknallen würden, falls ich mich der Mauer nähern sollte.

Wie haben Sie die Wiedervereinigung als Teenager erlebt?

Ich kam eines Tages zur Schule und die Hälfte der Bänke war leer. Meine Mitschüler konnten aber nicht alle krank sein. Unsere Lehrerin drohte uns: „Wer jetzt nach Westberlin fährt, muss mit Konsequenzen rechnen!“ Nach der Schule schnappte meine Mutter uns drei Brüder und ging zur Grenze. Dort knallte uns ein DDR-Polizist einen Stempel in den Ausweis. Ich hatte Angst und dachte, jetzt wissen sie, dass wir im Westen waren. Von der faszinierenden Welt dort war ich überwältigt.

In seinem neuesten Buch „Die fremde Spionin“ verarbeitet Titus Müller Geschichten rund um die Teilung der beiden Staaten BRD und DDR. (Foto: Heyne-Verlag)

Welche Konsequenzen hatte das christliche Elternhaus für ein Leben in der DDR?

Ich war weder bei den Thälmann-Pionieren noch stand die FDJ in Aussicht. Damit war klar, dass ich trotz meiner guten Noten kein Abitur machen würde. Ohne die Wiedervereinigung wäre ich wohl Bäcker geworden und hätte nicht Literatur und Geschichte studiert, um dann Autor zu werden. In der Schule wurde ich nicht drangsaliert, dafür mein Schulranzen aber immer mal durchsucht. Die Direktorin verlangte von mir, dass ich wenigstens beim Fahnenappell ein neutrales Hemd anziehen solle. Bei politischen Diskussionen durfte ich nie etwas sagen. Meine Lehrerin hatte Angst, dass ich zu Hause Dinge aufgeschnappt habe, die die anderen nicht hören sollten. Weil mein Vater Pastor war, gingen alle von einer systemkritischen Haltung der Familie aus.

Inwiefern hat Ihre Kindheit in der DDR Ihren Glauben geprägt?

Ich bin als Siebenten-Tags-Adventist aufgewachsen und war samstags nicht in der Schule, sonst hätte ich den Gottesdienst verpasst. Den Stoff habe ich in meiner Freizeit nachgeholt. Durch mein Fehlen im Unterricht war ich in der Klasse ein Exot. Die Lehrerin stellte es zudem als dumm hin, an Gott zu glauben. Für mich war das eine gute Übung, sich eigene Gedanken zu machen, anstatt mit dem Strom zu schwimmen.

Welche Rolle spielt der Glaube heute in Ihrem Leben?

Inzwischen besuche ich mit meiner Familie eine Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (EFG), in der ich ab und zu predige. Ich durfte gerade die Briefe von C.S. Lewis auf Deutsch herausgeben. Er hat mal ein tolles Bild gebraucht. Er glaube an die Christenheit genauso wie er glaube, dass die Sonne aufgegangen sei, nicht nur, weil er sie sehe, sondern weil er durch sie alles andere sehe. So wünsche ich es mir mit meinem Glauben an Jesus Christus. Ich möchte durch ihn alles andere auf neue Weise sehen, um über Dinge zu staunen und zu lieben. Natürlich klappt das nicht immer und ich schaffe es manchmal nicht einmal, mir selbst zu vergeben.

Gibt es Werte, die Sie mit Ihren Romanen transportieren möchten?

In jedem meiner Bücher kommt Glaube irgendwie vor: manchmal nur in einem Satz, manchmal als zentraler Bestandteil der Geschichte. Aber ich nehme mir so etwas nicht vor. Die Leser haben ein gutes Gespür dafür, ob man ihnen eine Moral unterjubeln will. Die Romane sollen in erster Linie gut unterhalten. Nebenbei verraten sie auch etwas über mich und darüber, was mich gerade beschäftigt. Die Frage nach Gott wird mich mein ganzes Leben lang nicht loslassen und zu meinem Schreiben dazugehören.

Zwei junge Menschen beobachten den Bau der Mauer, der zunächst mit dem Installieren von Stacheldrähten begann. (Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Günter Schäfer-Hartmann.)

Was war Ihre eindrücklichste Erkenntnis bei der Recherche zum Buch „Die fremde Spionin“?

Dass tatsächlich junge Frauen in der DDR für den Westen spioniert haben, obwohl es lebensgefährlich war, wenn man sie enttarnte. Ich habe mich gefragt, warum sie dieses Risiko eingegangen sind und ob Spionage moralisch richtig sein kann. Darüber hinaus hat mich das Schicksal des KGB-Killers interessiert, an den ich eine meiner Romanfiguren angelehnt habe. Er hat eine junge Frau geheiratet, ohne dass diese seinen Beruf kannte. Der Spion hat sich ihr offenbart und versucht, beim KGB auszusteigen. Das alles tat er vor dem Hintergrund des Mauerbaus, den die DDR wie eine Geheimoperation vorbereitete. Ich musste mir nicht viel ausdenken. Die Realität war sehr romanhaft.

Was ist Ihr persönliches Fazit der Recherche über die Teilung und die Wiedervereinigung?

Auch wenn der Mauerbau die DDR für eine gewisse Zeit stabilisiert hat, war er ein Armutszeugnis. Bei der Mauer konnte man noch so viel vom „antifaschistischen Schutzwall“ reden. Die Grenzanlagen waren nach innen gerichtet und nicht nach außen. Der Stacheldraht hat beschämend gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung nicht freiwillig im Land blieben. Ich bin heilfroh über das kurze Handlungsfenster, das die Wiedervereinigung möglich gemacht hat.

Schätzen die Deutschen die Vorzüge der Demokratie zu wenig wert?

Ja. Wir sehen sie als etwas Selbstverständliches an und vergessen, wie hart sie erkämpft worden ist.

Über welches historische Ereignis würden Sie gerne noch einen Roman schreiben?

Da gibt es einige Ereignisse, aber sie brauchen noch etwas Schutz. Der Stoff muss mitunter über Jahre reifen, ehe ich darüber reden oder schreiben kann.

Eignet sich die aktuelle Pandemie, um sie in einem Roman aufzuarbeiten?

Auf jeden Fall. Aber erst in zwanzig Jahren. Jetzt will das doch niemand lesen. Wir sind ja selbst noch mittendrin in der Pandemie.

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf sie persönlich ausgewirkt?

Ich habe mir große Sorgen gemacht und schlecht geschlafen. Zeitweise waren die Buchhandlungen geschlossen. Lesungen machen für gewöhnlich ein Drittel meiner Einkünfte aus. Viele wurden abgesagt. Ohne den großen Erfolg des Buches „Die fremde Spionin“ wären wir als Familie in wirtschaftliche Not geraten. Unsere sechs- und achtjährigen Kinder halten die Situation erstaunlich gut aus.

Vielen Dank für das Gespräch.

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